26.09.2012

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MARILLION - SOUNDS THAT CAN'T BE MADE

Mit einem Fazit die Plattenbesprechung beginnen? Was bei der Belegschaft des einmalig behämmerten Musikexpress ein neuntägiges Martyrium nach sich zöge, dass also Friede "Schwarze Witwe" Springer höchstpersönlich den derart geächteten Redakteuren die gesammelten Kolumnen von Franz-Josef Wagner vorliest, nackt, ist mir als Hobby-Schmierfink schlicht schnurzpiep: "Sounds That Can't Be Made" ist kein weiterer Meilenstein im Universum von Marillion. Ebensowenig ist es die beste Platte seit dem 2004 Magnum Opus "Marbles". Das siebzehnte Studioalbum reiht sich bislang irgendwo zwischen dem Trio "Somewhere Else", "Marillion.Com" und "This Strange Engine" ein - was okay, ist, es könnte schließlich schlimmer kommen. Dummerweise aber eben auch ein ganzes Eckchen besser.

Mittlerweile kennt man das Spiel. Im Vorfeld einer jeden neuen Veröffentlichung der britischen Proglegende wirft die eingeschworene Fangemeinde mit Superlativen um sich, aus dem Inner Circle des Fanclubs hört man nichts als die Ankündigung, man habe bisher total aussagekräftige, repräsentative und knapp dreieinhalb Sekunden lange Schnipsel einer Proberaumaufnahme aus dem Herbst 2010 gehört und könne es nicht glauben, wie sich Marillion immer wieder selbst übertreffen und also mal wieder das stärkste Album ihrer gesamten Karriere und des Universums geschrieben haben. Der Luft, Liebe, Lümmeltüte-Schnarzkopp, der diese Zeilen hier gerade einpflegt, fällt jedenfalls in unschöner Regelmäßigkeit auf diese Form des Marketings herein. Im Falle von "Sounds That Can't Be Made" war die Vorfreude aufgrund des bevorstehenden Herbstes sogar noch ein bisschen größer. Melancholische Sonntagnachmittage mit einer Kanne Jasmintee, der Badewanne oder der Couch und der neuen Marillion zu verbringen, erschien mir als durchaus erstrebenswerte Option. Und "Power", ein Stück, das vor der Veröffentlichung des Albums als Appetithäppchen gereicht wurde, machte auch einen guten Eindruck. Nicht zuletzt schwärmt selbst die Band im Video-Trailer in den höchsten Tönen von ihrem Werk.

Also Hogi-Baby! Gib's mir! Gib's mir richtig!

Das Problem mit diesen euphorischen Vorabreaktionen ist offensichtlich: die Erwartungen wachsen nicht nur in den Himmel, wenigstens meine Wenigkeit hofft spätestens nach dem zehnten ekstatischen Jubelschrei auf nichts weniger als auf den Soundtrack zu einer Supernova. Als sich "Sounds That Can't Be Made" dann die ersten Male im Player drehte und die gewünschte Supernova eher einem Kühlschranklicht ähnelte, breitete sich zunächst Ernüchterung und Enttäuschung aus. Das mit allerlei Vorschusslorbeeren verzierte Eröffnungsstück "Gaza", ein über siebzehnminütiger Prog-Schinken, wirkt auch nach dem zehnten Durchlauf immer noch reichlich unfertig, als sei er mit einem Notenenzym behandelt worden, das die einzelnen Songteile wie durch Magie über Nacht in eine komplett zusammenhängende Mini-Oper verklebt hat, ohne jedoch allzu viel Wert auf Struktur, Kontinuität und Dramaturgie zu legen. Und egal, wie intensiv ich "Gaza" bislang hörte: spätestens wenn der Fünfer zum Grande Finale ansetzt, ist die Erinnerung an die ersten 12, 13 Minuten passé - das ist irgendwie kein gutes Zeichen. Ich bin darüber hinaus auch nicht mit der Produktion einverstanden, die besonders gegen Ende des Songs viel zu dick aufträgt und das Gitarrensolo von Steve Rothery unter zähflüssigem und viel zu laut aufgedrehtem Klangballast förmlich erdrückt. Abschließend noch ein Satz zum Text: ich kenne Menschen, die "Gaza" kristallklar als antisemitisch bewerten würden. Ob in diesen Fällen noch Glühdrähte im Oberstübchen müde vor sich hinglimmen oder schon zappendustere Nacht herrscht, ist wieder eine andere Diskussion; ob Hogarth sich mit seiner zwar legitimen, aber blinden Verkürzung einer derart komplexen, verästelten, unüberschaubaren und von unzähligen Faktoren beeinflussten Situation einen Gefallen getan hat, allerdings auch. Ich persönlich stehe ja eher dem Gedanken nahe, dass man die Klappe halten sollte, wenn man einem solch vielschichtigen Thema nichts anderes hinzufügen kann als ein "We all want peace and freedom" und ein "It just ain't right.". Andererseits: dem Publikum der Band, das im
Normalfall so politisch ist wie die Nummer 51 vom Asiaten um die Ecke (Gebackene Banane mit Honig und Mandeln), dürfte es darüber hinaus wohl sowieso egal sein. Mir verhagelt so manche lyrische Banalität eher den Spaß an der Auseinandersetzung mit der Musik. Und wo wir gerade bei lyrischen Banalitäten sind: ruhig mal "Montreal" und "Lucky Man" anhören. Oder auch nicht.

Musikalisch betrachtet gibt es auf "Sounds That Can't Be Made" wenige Überraschungen, qualitativ erfreulicherweise aber auch keinen wirklichen Ausfall, auch wenn der bluesige Trivialschunkler "Lucky Man" schon wenigstens mal die Falltür ins Nichts schnitzt. Etwas ratlos stehe ich aktuell noch "Pour My Love" und "Invisible Ink" gegenüber. Während der erstgenannte Song eine watteweiche Popnummer für die Ü50-Fraktion mit dem Tiefgang eines Tretboots ist, die trotz solcher Unzulänglichkeiten nicht uncharmant ist und mir sogar ganz gut gefällt, ist "Invisible Ink" ein reichlich unspektakulärer Eintagsfliegensong, der schneller von meinem Radar verschwunden ist, als die ersten Minuten von "Gaza". Der Titeltrack, das bereits erwähnte "Power" und der Abschluss mit "The Sky Above The Rain" sind allesamt gute bis sehr gute Marillion-Songs, mit denen man ganz hervorragend leben/in die Badewanne kann.

Vieles des eben ausgeführten klingt nun sehr böse und ungut, und ich will das hier nicht als Verriss verstanden wissen. "Sounds That Can't Be Made" ist ein gutes Album und scheitert, wie oben bereits angedeutet, in erster Linie an meiner eigenen Erwartungshaltung, wofür die Band schließlich nichts kann. Allerdings, und das gibt mir durchaus zu denken, habe ich bislang nur wenige Momente ausgemacht, in die ich mich wirklich unbeschwert reinplumpsen lassen kann, als wäre ich gerade im 45°C warmen Pipibecken des hiesigen Thermalbads. Marillion bleiben bis auf wenige Momente an der Oberfläche dessen, was sie für gewöhnlich zu Leisten imstande sind. Dem Intensitätsniveau von Meisterwerken wie "Neverland", "Quartz", Interior Lulu", "Afraid Of Sunlight", "King", "When I Meet God", "Somewhere Else" oder "A Voice From The Past" kann vorerst kein Stück auf "Sounds That Can't Be Made" das Wasser reichen. Wir sprechen uns allerdings nochmal, wenn ich mich um meine Jahresbestenliste kümmere - das kann irgendwie noch nicht alles gewesen sein.

Erschienen auf Intact Recordings/Edel, 2012.

23.09.2012

Wenn der IQ nur knapp über der Körpertemperatur liegt

Der übersichtlich talentierte Schauspielerdarsteller Til Schweiger hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefurzt:




Hagen Rether macht das Fenster auf:




Präventiv und vorab die Gegendarstellung:
Am 23.9.2012 schrieb der sehr gute Weblog 3,40qm (zu erreichen unter dreikommaviernull.blogspot.com), der übersichtlich talentierte Schauspielerdarsteller Til Schweiger habe im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefurzt. Wir stellen hierzu fest: der übersichtlich talentierte Schauspielerdarsteller Til Schweiger hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht gefurzt.


Sea Shepherd


Ich habe mich in den vergangenen Tagen ausführlich mit der Arbeit von Sea Shepherd beschäftigt, eine 1977 von Paul Watson gegründete Umweltschutzorganisation, die sich den Schutz der Meere zum Auftrag gemacht hat und immer wieder mit spektakulären Aktionen gegen Walfänger aufhorchen lässt. So zählt beispielsweise das Versenken von bislang zehn Walfangschiffen zu den größten Erfolgen Sea Shepherds. Darüber hinaus zwang die Organisation sowohl im Jahr 2011, als auch im Jahr 2012 die japanische Regierung dazu, den Walfang in der Antarktis vorzeitig abzubrechen. Ich habe mittlerweile einen ganzen Batzen Respekt für diese Arbeit entwickelt.

Der Über den Twitteraccount der Organisation erfuhr ich, dass gegenwärtig im japanischen Taji das alljährliche Abschlachten von Delfinen und Polarwalen staffindet. Sea Shepherd ist mit einem Schiff aus der eigenen Flotte vor Ort und berichtete in den letzten Tagen und Wochen minutiös von den Vorgängen, oftmals auch mit entsprechender Unterfütterung mittels Bildern und Videos.

Ich kann und will das nicht weiter kommentieren, möchte allerdings schnell hinzufügen, dass diese Art der Berichterstattung mir dabei geholfen hat, ein Bewusstsein für diese Vorgänge zu schaffen und meine Wahrnehmung zu fokussieren. Ich möchte deshalb heute auf die "What Can You Do?"-Seite von Sea Shepherd verlinken. Mir ist das gerade sehr wichtig.

Macht damit, was ihr wollt.

Ach ja, eines noch: diese Traditions- und Kulturscheiße kann mich mal. Kreuzweise. 


Kleiner Hinweis am Rande: Im aktuellen Kochen Ohne Knochen gibt es ein Interview mit Paul Watson zu lesen. (Zur PDF Ausgabe geht's hier lang)

21.09.2012

Sorgenbrecher



DANNY PAUL GRODY - IN SEARCH OF LIGHT


Felix von Repetition/Distract empfahl mir diese Platte mit den Worten "macht alle Sorgen weg", und mit solchen Aussichten hat man mich praktisch immer am Haken. Und tatsächlich, "In Search Of Light" sollte vor jedem Start in jeden Tag mit einer Tasse des Heißgetränks Deiner Wahl genossen, ja geradeheraus aufgesaugt werden, bevor man sich hinaus in die Kälte begibt, die emotionale, in erster Linie. Als präventiver Schutzpanzer gegen alles Unheil, gegen die Furcht, gegen die Dunkelheit. Dabei ist der Titel ist leicht irreführend. Ich bin mir sehr sicher, dass Grody das Licht entweder schon lange gefunden, oder es wenigstens für diese Aufnahme eingefangen hat.

Die Kraft, die diese kleine Platte entwickelt, überrumpelt mich jedes Mal, wenn ich mich dazu entschließe, dass jetzt die Zeit für eine Licht- und Lebensdosis gekommen ist. Der Einstieg "Hello From Everywhere" hat sich mittlerweile sogar zu einem positiven Trigger entwickelt, zu einer internen Lautsprecherdurchsage an mich selbst:"Alles ist gut. Genieße das Licht. Es geht Dir gut. Wo ist Dein Kaffee?"

Der Gitarrist der US-Postrocklegende Tarentel und der im vergangenen Jahr an dieser Stelle vorgestellten Allstartruppe Moholy-Nagy sitzt mit einer akustischen Gitarre und einem Fitzelchen Elektronik, das aus einem Synthesizer herausschwappt, vor einem Mikrofon, das offensichtlich nicht nur Töne in kristallklarer Qualität aufnimmt, so rein und pur und tief mich die Schwingungen der Gitarrensaiten treffen. Ich sitze hier, es ist Mitternacht, und der Tag verschwindet lautlos in der Erinnerung. Er wird nicht zurückkommen. Nichts kommt jemals wieder zurück. Keine Zeit, kein Gefühl, kein Tod.

"In Search Of Light" umarmt und füllt die Lücken des Lebens mit Bewusstsein auf. Ein leiser, aber mächtiger Lebenskämpfer.

Erschienen auf Students Of Decay, 2011.

16.09.2012

Meer und Kuchen, revisited


Es ist ein freundlicher Sonntagmittag in Wiesbaden und folgerichtig dreht sich zum freundlichen Post-Breakfast-Kaffee die gleichfalls freundliche neue Platte von The Sea And Cake auf dem Plattenteller.

Bevor ich in den kommenden Tagen etwas weiter aushole und eine Handvoll Zeilen über das Werk fallen lasse, habe ich eben entdeckt, dass Drowned In Sound einen vollständigen Albumstream von "Runners" anbieten. Den gilt es nun mit Euch, meinen allerliebsten Lieblingslesern, zu Teilen.

Tasse Kaffee aufbrühen, Fenster auf, Liebe an.

ALBUMSTREAM // THE SEA AND CAKE - RUNNERS 

15.09.2012

Bizarre Tribe


AMERIGO GAZAWAY - BIZARRE TRIBE: A QUEST TO THE PHARCYDE


Nach dem Vorbild des im letzten Jahr erschienenen FELA SOUL-Albums haben Amerigo Gazaway und Gummy Soul ein neues Mix-Album veröffentlicht und sich diesmal A Tribe Called Quest vorgeknöpft. "Bizarre Tribe: A Quest To The Pharcyde" scheint dabei ähnlich stark ausgefallen zu sein wie der De La Soul Mash-Up und kann gleichfalls kostenlos unter dem unten angegebenen Link runtergeladen werden. 

Join Gummy Soul's Amerigo Gazaway as he embarks on a 55 minute "Quest to The Pharcyde". Utilizing the original Jazz, Soul and Funk recordings sampled throughout A Tribe Called Quest’s extensive catalogue, Gazaway recreates classic productions – pairing his reinterpreted instrumentals with select vocals from West Coast “golden era” favorites, The Pharcyde.







12.09.2012

Henry and June



JUNE OF 44 - TROPICS AND MERIDIANS

Es ist wie fünfunddreißig Jahre altes Gebäck, wie von Würmern, Käfern und Raupen durchbohrtes Holz, wie frisch gefallener Schnee, wie naive Malerei in Grau. Wer die Schritte leise zelebriert und die Pinselstriche verfolgt, der hört das Knarzen und das Kratzen. Das tumbe Ächzen unter dem Druck der eigenen Existenz im Angesicht der öden Leere, zerfasert und spröde, brechend und spleißend. Ein Königreich für mehr Luft und mehr Raum.

Der Horizont ist einen ganzen Sommer entfernt, ein ganzes Leben gar, aber wenn das Selbst am Boden liegt und das dünn glimmende Feuer von Tristesse und Trauer ausgespuckt wird, schlüpfen wir lieber in die kugelsichere Seifenblase, die nie zerplatzen wird. Sie ist beinahe visionär, wie sie so im Zeitmaschinen-Ping-Pong hin- und hergeprügelt wird, zwischen der vergilbten Druckerschwärze geistiger Verunreinigung und der Lichtgeschwindigkeit vom kalten Rauch populärer Nebelkerzen. Wer hätte sich das je träumen lassen? Der Rückblick in das Chaos als Manifestation von Licht und Struktur. Und dann sieht man sich wieder unvermittelt im gleißenden Schein der Ultramoderne die eigenen, hilflosen Runden drehen. Alles vergessen, alles ersticken und alles begraben, bevor es wieder von vorne beginnen kann. Karma Extraordinaire.

Die freundlichen und sonnigen Zeiten, sie gibt es. Sie erscheinen wie Episoden, wie Kurzfilme: die Harmonie umspielt den Geist, die Augen sind halb geöffnet und eine sanfte Brise kühlt die sonnenwarme Haut. Es duftet nach nach Sonne und Frieden. Wir halten uns im Arm und sind eins. Am besten Tag unseres Lebens. Der Horizont ist ein ganzes Leben entfernt, einen ganzen Sommer, eine große Liebe.

Wir haben keine Chance. Es brodelt. Und es stürmt.



Erschienen auf Quarterstick Records, 1996.

09.09.2012

It's Like I'm A Fucking Fuse



PROPAGANDHI - FAILED STATES

Eine Minute und fünf Sekunden benötigen Propagandhi auf ihrem sechsten Studioalbum, um praktisch ein ganzes Genre an die Wand zu spielen. "Status Update", bereits im letzten Jahr und damals noch ohne Titel als Proberaumaufnahme bei Youtube aufgetaucht, ist nun, mit entsprechender Produktion im Rücken, der Moment auf "Failed States", der Berge versetzt und Welten zusammenbrechen lässt. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wirbelt das Quartett filigran wie ein Diamantenbohrer durch 65 Sekunden brennender, glühender Intensität. Diese Gitarrenriffs könnten mit links der Feder von den großen Gitarrenduos des Thrash Metals entsprungen sein. Und wo wir gerade über den Thrash Metal plaudern: der begegnet einem auf "Failed States" mehr als nur einmal. In "Cognitive Suicide" haben die erklärten Fans von Bands wie Voivod, Hirax oder Sacrifice sogar ein Slayer Gedächtnissolo untergebracht.

Die restlichen gut 37 Minuten sind gleichfalls dafür verantwortlich, dass ich seit Tagen nur wenig andere Musik zu hören bekomme. Die Band aus dem kanadischen Winnipeg scheint es - entgegen meiner pessimistischen Befürchtung - tatsächlich geschafft zu haben, den Vorgänger "Supporting Caste" zu übertreffen. Nur das bisherige Fehlen eines Überhits wie "Dear Coaches Corner" hält mich im Moment noch davon ab, es laut in die Netzwelt hinaus zu rufen - allerdings befindet sich der Rausschmeißer "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" gerade auf dem besten Weg, diesen Minimalmakel zu beheben. "Failed States" geht hinsichtlich der Variabilität, der Musikalität und Virtuosität gleich mehrere Schritte weiter. Durch diese verzwickten Arrangements und komplexen Songstrukturen mit ihren wieselflinken, irrwitzigen Breaks muss man sich erstmal durchtanken. Im ungewöhnlich gewählten Opener "Note To Self" sind sogar kleine Postrock-Lichtblitze zu hören, die in einen an New Model Army erinnernden Spannungsbogen eingepasst wurden. Es ist im weiteren Verlauf vor allem die Liebe zum Detail, die so mitreißend und begeisternd ist, dass ich mich nicht selten beim hemmungslosen Air-Drumming und Staubsaugerrohr-Gitarrespielen ertappe. Mit heruntergelassenen Hosen, versteht sich.

Propagandhi haben mittlerweile in meiner Hall Of Fame eine ziemlich breite Ecke besetzt, und das liegt freilich nicht nur an ihrer Musik. Ihre Hin-und Verweise in den Linernotes der letzten beiden Alben, ihre Texte und die Artworks haben mich nach langen Jahren des Zweifelns, in denen mich das schlechte Gewissen beinahe selbst auffraß, für eine vegetarische Ernährung schlussendlich so sensibiliert, dass ich zum Jahresende 2009 endlich den Schritt machen konnte und nun, drei Jahre später, im Begriff bin, mich vegan zu ernähren. Neben den zumeist hochpolitischen, visionären und philosophischen Texten ihrer Songs, engagieren sich die Bandmitglieder ehrenamtlich in sozialen Projekten, unterstützen mit Preisgeldern und speziellen Verkaufsaktionen Non-profit-Organisationen, achten bei der Herstellung ihres Merchandise auf die Verarbeitung von fair gehandelter Bio-Baumwolle und haben auf dem Backcover des neues Albums die vier Grundpfeiler ihrer ideologischen Ausrichtung abgedruckt: animal friendly, anti-fascist, gay positive, pro-feminist - der bandgewordene Albtraum von so manch echtem Mann/Punkrocker/Metaller/Schwachstromelektriker.

Für mich sind Propagandhi echte Vorbilder und eine auf sehr vielen Ebenen ungeheuer inspirierende Band. Auch wenn es sagenhaft uncool ist, sowas zu schreiben, mit Mitte 30 zumal: ich wäre heute sicherlich nicht der Kerl, der ich bin, hätten diese vier Typen und ihre Platten nicht meinen Weg gekreuzt.

Der Rest ist Dankbarkeit.

Erschienen auf Epitaph, 2012.


Hinweis in beinahe eigener Sache: wer sich weiterführend mit der Band und ihren Idealen auseianandersetzen möchte, dem empfehle ich die Lektüre des am 1.Oktober erscheinenden OX-Fanzines. Blank When Zero-Trommler und Freund Simon hatte die Gelegenheit, der Band im Rahmen eines Interviews zu "Failed States" einige Fragen zu stellen und erhielt interessante Antworten. 

08.09.2012

Flo im Monoland



MONOLAND - BEN CHANTICE

Wir sind weit oben. Sehr weit oben sogar. Für manche vielleicht ein ganzes Stück zu weit oben. Eine Leere, die dich zwar auf Distanz hält, aber gleichzeitig auch anzieht. Der Raum öffnet sich, und plötzlich ist es ganz klar. Struktur und Glanz, vielleicht alles etwas ungewöhnlich. Die letzten Schleier haben sich noch nicht gelüftet, aber wohlfühlen...ja, man fühlt sich schon wohl. Angenehm. Ein bisschen dunkel womöglich, aber nicht im Sinne von bedrohlich, eher wie ein Abend unter der Bettdecke. Materie? Man gleitet so hindurch, Naturgesetze waren eh von gestern.

Links von uns, gleich neben dem „Yuriko“-Stern rauscht die interstellare Wohlfühl-Indie-Club-Lounge an uns vorbei. Da müssen wir mal rein...mal sehen wie man hier so feiert.

Der Beat wird lauter und klarer. Der Wind der Gitarren umschwirrt unsere Körper, Die Stimme...hm, diese Stimme! Bob Mould? Klar, der dürfte sich auch hier oben aufhalten, wo ihn nur ganz wenige zu Gesicht bekommen. Aber der muss in einem anderen Raum singen, der steht doch nicht hier einfach so herum. Der klingt auch so weit entfernt. Vielleicht noch eine Ebene höher? Möglich wär’s ja. Da hinten in der Ecke bleept und fiept es hemmungslos, da vorne zirpt es seltsam. Hast Du eben das Zischen gehört? Komische Sounds haben die hier. Und wie sich die Menschen bewegen, als seien sie auf einem ganz schön duselig machenden Betäubungsmittel. Oh, guck mal: da schwebt einer.

Plötzlich erlischt der letzte trübe Schein. Die Wand, an der wir eben noch lehnten und uns den „Sessna“-Cocktail reinschütteten wird wachsweich. Meine Hand verschwindet mit einem leisen Blob. Moment mal, was war denn hier in diesem Drink drin? Oder ist das jetzt die „Special Effects“-Night? Der Raum dreht sich. Zumindest das, was vor 4 Minuten noch der Raum war. Wo sind wir hier eigentlich? Angst haben wir nicht, meine Hand ist zwar am Arsch oder was weiß ich wo, aber ich bin völlig ruhig und gelöst. Wird schon alles gut werden.

Bis uns vier fliegende Topflappen umzingeln, in ihren gehäkelten Mündern hängen pinkglasierte Zigaretten aus gerollten Usambaraveilchen, es können aber auch "gedrehte Astern" (Helge) sein. Sie sabbern und haben übernatürlich große Nasen, an denen goldene Monoland-CDs herunterbaumeln. Und just als ein etwa vier Meter großer Penis mit dem Gesicht von Volker Bouffier zur Tür hereinkam und ein großes Hallo auslöste, begannen wir [fortsetzung folgt nicht]

Erschienen auf Supermodern, 2006.

02.09.2012

Tout Nouveau Tout Beau (5)



ROBERT GLASPER EXPERIMENT - BLACK RADIO

Die Puristen schreien schon, und wenn die Puristen schreien, dann ist's meistens angesagt, die Ohren zu spitzen - es kann sich nur lohnen. Als viel zu glatt und harmlos wird das neue Studioalbum des Rober Glasper Experiments in den einschlägigen Foren der Die Hard-Jazzer abgekanzelt, und ohne mir allzuviel anzumaßen, aber dann haben sie halt immer noch nicht gelernt, über den Tellerrand hinauszublicken und dann haben sie es in der Folge auch nicht besser verdient. "Black Radio" ist genau so, wie ich es nach dem auf Youtube hinterlegten Trailer erwartet habe, und das finde ich einigermaßen überraschend: ein spirituelles Zusammentreffen von vielen Gaststars (u.a. Erikah Badu, Lalah Hathaway, Ledisi, Bilal), die ihr Herz und ihre Seele in diese Produktion gelegt haben. Ein dunkles, rauchiges, verwurzeltes Hip Hop Meets Jazz meets Soul Fusion-Album mit einer sehr erfreulichen, weil unmodernen Produktion, die vor allem den Bass und das Schlagzeug alles andere als sauber, steril und aufgeräumt präsentiert. Vor der Coverversion von Nirvanas "Smells Like Teen Spirit" hatte ich zwar Angst und ich komme nicht umhin, das wenigstens kritisch zu bewerten, aber ganz im Ernst: ich hätte diese Version um einiges lieber auf dem 20-Jahre-Nevermind-Tribute-Sampler gehabt, als das lahme Gewürmel der Meat Puppets. Ein tolles Album mit einem beeindruckenden Flow.




Erschienen auf Blue Note, 2012.




BVDUB - STRANGERS NO MORE

Brock Van Wey ist ein Workaholic. Der Mann scheint unablässig zu produzieren und nicht nur das: er veröffentlicht die Ergebnisse auch noch in immer kürzer werdenden Abständen. Das aktuelle Jahr 2012 nahm bereits drei Alben in Empfang, dazu gab's Samplerbeiträge, Remixe und für das Restjahr stehen außerdem nochmals drei Alben auf der Matte (besonders erwähnenswert ist "Home", das auf Echospace erscheinen wird). "Strangers No More" ist die aktuelle 12-Inch auf With Or Without You, und ich habe den Eindruck, dass seine Musik im Vergleich zu den letztjährigen Werken bis einschließlich "I Remember" etwas optimistischer, aber ganz bestimmt beatlastiger wird. Was sich auf "Resistance Is Beautiful" und "Then" bereits andeutete, findet wie bereits auf "Serenity" auch bei "Strangers No More" seine Fortsetzung. Die Arrangements sind nicht mehr allzu grau, und die Melancholie ist nun nicht mehr in tiefem schwarz auf einer Hochzeit, sondern schwebt auch mal entrückt einen halben Meter über der Tanzfläche. Zwei Tracks mit einer Spielzeit von 25 Minuten stehen auf dieser Maxi (sagt man das eigentlich noch? Maxi?) und wo ich bei den letzten Alben etwas den Faden verloren hatte, kann ich ihn hier wieder beruhigt aufnehmen. Immer noch eine ganz außergewöhnliche Musik eines außergewöhnlichen Menschen.

Erschienen auf With Or Without You, 2012.





SIMONE WHITE - SILVER SILVER


Singer/Songwriter-Folk auf Honest John's? Surely some mistake! Normalerweise, und der Satz wird umso richtiger, je öfter ich ihn wiederhole, normalerweise ist das sensible Gesäusel von unterforderten Musikern mit Akustikgitarre also nicht unbedingt mein Metier. Und ich erinnere mich auch noch daran, dass ich vor einigen Wochen in die bereitgestellten Snippets von "Silver, Silver" 'reinlauschte und an in erster Linie an meiner eigenen Erwartungshaltung scheiterte. Ein neuer Versuch vor wenigen Tagen ergab ein anderes Bild: das ist eine niedliche, sommerschwüle Urlaubsplatte - nicht nur wegen des Covers, das an einen Familienurlaub in den frühen achtziger Jahren erinnert (Riccione, Italien, Vollpension, Essen bis zum Platzen, 38°C, 25 Mark pro Nacht), sondern auch wegen der liebevoll zusammengepuzzelten Musik, die einerseits in strategisch sicherer Umlaufbahn die üblichen Spielchen spielt, andererseits auch den berühmten Schritt weitergeht und viel mit Stimmungen und Gebrizzel und Gebrazzel experimentiert. Diese Musik schmerzt freilich nicht, "Silver, Silver" läuft dennoch nicht Gefahr, in den gefälligen Kitschsektor der süßen Indiebratzen abzugleiten, die vor lauter Kalkül in ihren Köpfen keinen Platz mehr für Leidenschaft finden können. Eine manchmal subtil-verdrehte, schwummrige und trotzdem wache und aufgeräumte Platte. Die wird noch ein paar Mal auf dem Plattenteller landen.

Erschienen auf Honest John's, 2012.