12.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 15: Marillion - An Hour Before It's Dark




MARILLION - AN HOUR BEFORE IT'S DARK


An einer anderen Stelle in diesem Internet schrub ich zur Veröffentlichung von "An Hour Before It's Dark" im März 2022:

"An album that feels like four warm blankets, 12 hot-water bottles, 38 umbrella heaters, 97 gallons of hot chocolate and 239 baking trays of fresh and warm apple pie all at once."

und zugegebenermaßen schrub ich im gleichen Atemzug, es schon im März mit der Platte des Jahres zu tun zu haben - und jetzt sind wir auf Platz 15. "Da sind wir jetzt ganz schön angeschissen, hm?!" (Hagen Rether, Zitat ähnlich)

Wo ich mich im Kontext von "Uff, Rockmusik!" normalerweise vollkotzen müsste, so warm, weich, flauschig und reibungslos sich das Flagschiff britischen Progressive Rocks durch die knapp 55 Minuten neuer Musik mäandert, so beeindruckt bin ich immer wieder aufs Neue von dieser Band - und ironischerweise nicht zuletzt aus den gleichen Gründen. In den außergewöhnlichen Momenten ihrer Karriere kann ihnen, so verraten es mir meine Aufzeichnungen auch noch im Jahr 2023, immer noch nichts und niemand das Wasser reichen. Solche Momente sind auf ihrem 18.Studioalbum im direkten Vergleich mit dem Vorgänger "FEAR" ein Spürchen dünner gesät, denn auch für diese Götter ist irgendwann mal sechste Stunde. Dennoch zählt "An Hour Before It's Dark" zu ihren besten Alben, an manchen Tagen sogar zu den besten fünf. 

Dabei ist das Grundgerüst mit "FEAR" durchaus vergleichbar. Das sehr wahrscheinlich kommerziell erfolgreichste Werk seit ihren goldenen Jahren in den 1980ern ist der konzeptionelle Fixpunkt: drei in mehrere Abschnitte aufgeteilte Longtracks, ein eklatantes Zugeständnis an Shitify und ein volleres Bandkonto (und zumindest letzteres sei ihnen gegönnt, just for the record), zwei leichter zu verdauende und also kürzere Standards - und weil vielleicht noch das ein oder andere Schippchen Erfolg draufgepackt werden sollte, mit "Murder Machines" eine ungewöhnlich offenherzig auf den Mainstream zugeschnittene Singleauskopplung, deren von trivialer Metaphorik durchzogener Text vor allem bei der Herzallerliebsten einen lange ausgehaltenen Seufzer der Misbilligung auslöst. Aber auch darüber hinaus scheint mir "An Hour Before It's Dark" von jedem überflüssigen Ballast befreit und mit unkomplizierter Eingängigkeit beschenkt worden zu sein. Die Band erlaubt sich selbst in den drei Longtracks keine einzige Sekunde Leerlauf, sondern vertieft ihre Themen mit rigoroser Hochverdichtung. Die 55 Minuten vergehen wie im Flug - und während das eine große Qualität dieser Platte ist, bleibt folgerichtig jene Komplexität auf der Strecke, die für gewöhnlich für die ungebrochene Lust an der Auseinandersetzung mit ihrer Musik verantwortlich ist. "An Hour Before It's Dark" ist vergleichsweise schnell entschlüsselt. 

Auch textlich gibt es wenig Raum für Interpretation und angesichts der drei großen Themen dieses Albums mag man beinahe ein "glücklicherweise" in dem Satz verbauen: der Klimawandel, unser außer Kontrolle geratenes Konsumverhalten und natürlich das Virus, das seit dem Frühjahr 2020 die Welt verändert hat, sind nicht nur Themen von schneidender Relevanz, sie sind inhaltlich auch miteinander verbunden, haben Abhängigkeiten, gemeinsame Wahrheiten und Ursachen. Sie bilden den roten Faden, der sich mit Ausnahme des Tributs an Leonard Cohen in "The Crow & The Nightingale" (am Wegesrand: STEVE FUCKING ROTHERY!) durch jeden Song zieht und sich im abschließenden "Care" möglicherweise zu einer Zusammenführung der einzelnen Erzählstränge bündelt. Sänger Steve Hogarth sagt über "Care":

"Care is really a reflection on our mortality. No one knows how much time they’ve got left. None of us do. The middle section of the song (ii An Hour Before it’s Dark, and iii. Every Cell) represents someone reconciling themselves to dying, treasuring his sacred memories and acknowledging and being grateful to those who have loved him and those he loves. The third section represents the journey out of life but is also a thank you to the healthcare professionals who dedicate their lives and sometimes give their lives in the cause of caring for others. The angels in this world are not rendered in bronze or stone. They are working while we’re all sleeping. They’re caring."

Das Gekrähe aus Boomerhausen, man möge doch bitte von derlei Ernsthaftigkeiten verschont bleiben, wenn man sich mal unbeschwert von Musik berieseln lassen möchte, ist natürlich die perfekte Rechtfertigung dafür, sich mit solchen Realitäten auch und ganz besonders in der Kultur auseinanderzusetzen. Offenbar haben vor allem die früheren Generationen (inklusive meiner eigenen) den Schuss noch nicht so ganz deutlich gehört, und die dort ausgelösten Reflexe, von all dem Übel doch bitte unbehelligt bleiben zu wollen, wenn der schwere Rote im Glas und das schwere Weiße im Ohrensessel herumgeleetiert, sind nur ein weiterer Ausdruck grotesker Hilflosigkeit und Ignoranz.  

Ich muss an dieser Stelle zugeben, kein zweites oder in der Wirkung neues "FEAR" erwartet zu haben. Die Band schreibt in meiner Realität ein Mal pro Jahrzehnt einen unantastbaren Meilenstein: das Debut "Script For A Jester's Tear" in den achtziger Jahren, "Afraid Of Sunlight" in den Neunzigern, "Marbles" in den Nullern und eben "FEAR" in der vergangenen Dekade - und ich rechnete wirklich nicht damit, dass sie bereits mit dessen Nachfolger diese Serie fortsetzen werden. Aber die Zwanziger werden ja voraussichtlich noch ein paar Jährchen andauern, und ich habe keinerlei Zweifel an der nach wie vor ungebrochenen kreativen Kraft der besten Band der Welt. There, I said it! 

Bis dahin ist "An Hour Before It's Dark" ein erstklassiges und hochkonzentriert inszeniertes (Progressive) Rock-Album, das sich in etwa im selben Qualitäts-Stockwerk mit "Anoraknophobia" aufhält - und wer sich noch daran erinnert, wie sehr ich die Platte aus dem Jahr 2001 schätze, wird mein Urteil ziemlich akkurat einordnen können. 


Vinyl: Ihre Standardpressungen sind fast nie komplett frei von Problemen, und so ist es auch mit meiner schwarzen Vinylversion, immerhin von Optimal. Nichts wirklich Schwerwiegendes, aber eben auch nicht frei von Knacksern und kleineren Störgeräuschen. In meiner Welt reicht das nicht aus, um vor einer Anschaffung Abstand zu nehmen. Bedruckte und ungefütterte Innenhüllen, Gatefold-Cover und ein fabelhaftes Artwork. Das in einigen Rezensionen anzutreffende Gerede vom angemuffelten Sound der Aufnahmen scheint mir eher ein Reflex von mittelalterlichen Dudes zu sein, die mit der frisch gewichsten Spitze ihres Pimmels uns allen mal unbedingt aufschreiben wollen, was sie sich für eine ULTRAGEILES UND ULTRATEURES Equipment leisten können. Die mit der Renaissance des Vinyls parallel verlaufende Erfolgswelle für Hi-Fi-Equipment ist ein ärgerlicher Kollateralschaden.


     



Erschienen auf Ear Music. 2022.

11.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 16: S.Carey - Break Me Open




S.CAREY - BREAK ME OPEN

Es wird dunkel. 

Was auf Sean Careys "Hundred Acres" aus dem Jahr 2018 zunächst auf dem Cover-Artwork, später in seiner Musik ein nachglühender Sommertag im August war, ein Naturbild voller Leben, mit dem ausströmenden Duft einer Blumenwiese, dem leisen Plätschern eines Bachlaufs, zirpenden Grillen und zwitschernden Vögeln, ist auf "Break Me Open" eine kalte, tiefe Winternacht. Ein eisig schneidender Wind, der einem durch gleich drei Paar Wollsocken pfeift und dabei das Herz schockfrostet. Und wenn Sie noch mehr metaphorische Allerweltsbilder und Beobachtungen aus der Kategorie "Primark-Unterhosenset, handgebatikt & mundgeblasen" benötigen, rufen Sie mich einfach an. 

In den vier Jahren seit "Hundred Acres" musste Carey miterleben, wie seine Ehe zerbrach und sein Vater starb. Roger Willemsen schrieb einige Jahre vor seinem viel zu frühen Tod den Bestseller "Der Knacks", eine Auseinandersetzung mit dem einen Atemzug, "ab dem nichts mehr so sein sollte, wie es mal war". Dieser feine Riss im Leben, von dem man in genau jenem Moment weiß, dass er sich nicht mehr schließen, sondern weiter ausbreiten und in der Fläche verzweigen wird. "Break Me Open" ist nicht nur durch die Parallele im Titel die musikalische Aufarbeitung eines solchen Risses, es ist mehr noch eine Nachverfolgung, sowohl eine Suche nach den Ursachen, als auch eine Ahnung, in welche Ecken und Räume er sich noch ausbreiten wird. Am Eindrücklichsten zeigt sich diese Vertiefung in die an seine Kinder gerichteten Textzeilen wie 

If I ever lost you 
I'd throw myself into the deepest riverbend
And pray that I might find you
In places that I don't even believe in 

des Openers "Dark", der musikalisch nach einem dürren, desolaten Beginn in ein kräftig stampfendes Crescendo mit Bläsern und üppigen Syntiewallungen kippt, als sei es die doppelt unterstrichene Versicherung sich selbst gegenüber, eine Vergegenwärtigung der eigenen Moral, wie ein Echtheitszertifikat. 

Nun bin ich üblicherweise mit einer gesunden Ambivalenz für einen solchen Sound einerseits und jene über-emotionalen Inhalte andererseits ausgestattet. Es finden traditionell nur wenige Platten mit einer derartigen Ausrichtung den Weg in die Sammlung, und noch viel weniger den Weg auf diesen Blog. Mir erscheint das all zu zu oft als volkstümliche Unterhaltung, als eine klebrige Befindlichkeitssoße, kalkuliert, redundant, glatt und ranschmeißerisch. Ich möchte damit eigentlich nichts zu tun haben. "Break Me Open" von all jenem Pathos freizusprechen, wäre auf den ersten Blick unpassend; besonders die hymnischen, opulenten Momente tragen bisweilen eine dicke Gefühlswatte auf. Die Grundsubstanz indes ist bei näherer Betrachtung zierlich und fragil, und manches Arrangement scheint sich nur mit letzter Kraft auf den Beinen halten zu können. Das spärlich instrumentierte "Waking Up" begleitet Careys Lyrik nur mit einer getupften Pianomelodie, die zudem so intim aufgenommen wurde, dass sogar das Treten der Pedale des Instruments zu hören sind. 

Well, I'm waking up
Just a shell of who I was
But I want to shake you
It's me, it's me, it's me

Carey sagt , "Break Me Open" sein kein "Scheidungsalbum". Es handele von Liebe, von Hoffnung, von Aufrichtigkeit und Wachstum, es sei ein Aufruf dazu, sich verletzlich zu zeigen. Der Weg, den er wählte, um diese Themen zu verarbeiten, bewegt mich sehr. Fast jede Textzeile löst ein Gefühl der Verbundenheit in mir aus - mal, weil mir die Gedanken selbst so nahe stehen, mal weil die Empathie sämtliche Schleusen öffnet und ich mich plötzlich an seiner Stelle sehe. Ich war an diesem Ort schon einmal, vielleicht in einer anderen Zeit, vielleicht unter anderen Vorzeichen - aber ich spüre die Schwingung, den Schmerz, die Leere. Viel wichtiger aber ist die Rekonstruktion jenes Empfindens und das Wissen darüber, sich hier nicht lange aufhalten zu müssen. Da ist kein Vergessen und kein Verdrängen - da ist Einheit und Verständnis. Und irgendwie auch die vage Vermutung, auf das nächste Level gesprungen zu sein. 

Am Ende singt Carey in "Crestfallen"

I love you anyway
Don't be afraid
I'll be here till the end
I'll be a friend
Don't be afraid
Our time is paramount
We're running parallel

Und man ahnt, eine sehr grundsätzliche Komponente dessen, was Leben bedeutet, verstanden zu haben. 


Vinyl: Pressungen von Jagjaguwar sind traditionell mit Vorsicht zu genießen, oder besser: zu kaufen. Audiophile Giganerds, für die ein einzelnes Knacken zwischen zwei Songs ausreicht, um mit einem Atomschlag gegen das Presswerk zu drohen, halten besser Abstand. Meine Version auf schwarzem Vinyl fühlt sich bereits am Schnitt des Plattenrands dodgy an, sieht mit einigen, auch nach einer Wäsche nicht verschwindenden Schlieren auf der Platte dodgy aus und und hört sich angesichts einiger Hintergrundraspler manchmal auch dodgy an. Das ist keine desaströse Pressung, aber man spürt, dass hier was nicht komplett in der Reihe ist. Bedruckte (ungefütterte) Innenhülle mit Texten, kein Downloadcode. Das Cover empfinde ich vor allem im Vergleich mit dem Vorgänger als eine kleine Enttäuschung. (++)


 


Erschienen auf Jagjaguwar, 2022.

05.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 17: Inhmost - Space & Awareness



INHMOST - SPACE & AWARENESS

"Space And Awareness" ist kein reines Ambient-Album. Sollte es auch nicht sein; Simon Huxtable wollte die Vielschichtigkeit seiner Eindrücke und Empfindungen aus jener Zeit einfangen, in der er ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für sein Umfeld entwickelte, für Menschen, Räume, Zeiten. So lassen sich hier, wie auch schon auf seinem Album "Everything Is New", Anleihen aus dem Downtempo sowie IDM-kompatible Beats finden. Sie sind Inhmosts Chiffre auf einem Album, dessen Nährflüssigkeit von einem Cocktail aus elegischer Nostalgie einerseits und den Verheißungen der Gegenwärtigkeit andererseits durchzogen ist. 

Das Gefühl, das "Space And Awareness" vermittelt, ist folgerichtig ambivalent - nicht zuletzt, weil die Ansprache über die Musik so klar, so unkompliziert ist. Ich nehme dennoch stets Schwingungen von Traurigkeit wahr, des Verlusts, des Vergangenen und Zerfallenen und zu gleichen Teilen die Sensation des Aufbruchs und der Jetztzeit. Ich rieche frisch gemähtes, nasses Gras genauso wie die Ausdünstungen ausgefranster Couchgarnituren, spüre den frischen Tau eines glasklaren Morgens auf der Haut und zeitgleich die Berührung des ausgeblichenen, beinahe durchsichtig gewordenen Hemds, das sich so weich und vertraut anfühlt. Und zwischen all das passt: Nichts. Da kommt eine Welle auf mich zu, die ich nur fühlen, aber nicht aufteilen, nicht differenzieren kann. Auf "Everything Is New" war das Überhangmandat zum lockeren Sepia-Sundowner am Strand klarer in diesen einnehmenden Sound gehängt - auf "Space And Awareness" hingegen ist Ganzheitlichkeit das bestimmende Element.

Und Eleganz. Das ausgerechnet in diesem Kontext zu äußeren, ist eigentlich nicht ganz fair, weil der Eindruck entstehen könnte, als sei "Everything Is New" ein Haufen lauwarmer Schlamm gewesen - und das war es natürlich nicht. Allerdings empfinde ich den ästhetischen Sprung, angefangen beim stilvollen Coverartwork bis hin zu den geschmackvollen Sounds als durchaus substantiell. "Space And Awareness" wirkt bisweilen kühl, als hätte man einem Bild im Temperaturfilter ein paar Grad abgezogen. Distinguiert, weil Reduktion für Klarheit sorgt. Introvertiert, weil Vergegenwärtigung nie im Außen passiert. 

Vor einigen Jahren machte ich die Bekanntschaft mit einem Parfum von Andrée Putman. "Prépération Parfumée" war ein auf jeder Ebene unscheinbarer Duft. Kein Marketinggetöse. Ungewöhnlich leise und mit feiner, subtiler Struktur; mit Noten von Treibholz und weißem Pfeffer fast durchsichtig. Als ein dazu passendes Bild erschien mir ein Frühlingsspaziergang entlang eines kleinen Bachlaufs in grauem Nieselregen als angemessen. Ich finde, "Space And Awareness" würde sich als Soundtrack für einen solchen Spaziergang geradewegs aufdrängen.


Vinyl: Single LP in schwarz. Kein Downloadcode. Einwandfreie Pressung. Das Design des Cover-Artworks sieht im LP-Format und mit der schwarzen Schallplatte einfach hinreißend gut aus. (+++++)


 


Erschienen auf Tonights Dream Records, 2022.

03.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 18: Birds Ov Paradise - Memorial




BIRDS OV PARADISE - MEMORIAL


Ich hatte an anderer, früherer Stelle dieses Countdowns ganz möglicherweise schon das ein oder andere Mal durchblicken lassen, dass 2022 das abgefuckteste Scheißjahr seit exakt zwanzig Jahren war, und als im Februar das ganze Unheil seinen Lauf nahm, ich also von Arztpraxis zu Arztpraxis lief und wieder jene lähmende Angst spürte, die mich bereits früher um Schlaf, Energie, Lebenskraft und -freude brachte, war "Memorial" beinahe jeden Tag und über volle zwei Monate Bestandteil meiner musikalischen Morgenroutine. Weil es mich so beruhigte wie es keine andere Musik vermochte. 

Meine erste Begegnung mit David Sabels Projekt fand im Laufe des ersten Coronajahres statt. 2020 begann ich damit, mich noch tiefer mit den über das Ambientgenre hinausgehenden Spielarten elektronischer Musik auseinanderzusetzen und schaute mich beim im Süden Deutschlands ansässigen Mailorder deejay.de um. Und nicht nur ist ihr Reservierungs- und Sammelsystem mein Ruin, sondern auch die sehr bequemen Möglichkeit, in neue Platten reinzuhören. Bei Birds Ov Paradise' "Köpp", der 12-inch aus dem April 2020, war es nach wenigen Sekunden klar: das ist sehr spezielle Musik. Sehr hypnotischer, sehr treibender Techno - und doch melodisch flackernd und durchlässig für die emotionale Tiefengrundierung, die elektronischer Musik nicht selten kategorisch abgesprochen wird. Meistens von Menschen mit eigener Tiefengrundierung in der Stärke eines Stücks recycelten Toilettenpapiers, das selbst in unbenutztem Zustand seine olfaktorische Herkunft nie so ganz verschleiern kann. Mit "Köpp" war also die Tür weit offen für die Anwendung meiner aus dem Metal herübergeretteten Loyalität. Wer mich als Fan erstmal am Arsch kleben hat, bekommt mich so leicht nicht mehr los. 

"Memorial" ist nach einer Reihe von 12-inches das Debut von Birds Ov Paradise. Erschienen auf dem schwedischen Label Hypnus, die in der Vergangenheit unter anderem das nach wie vor brillante Debut "La Via Della Seta" des italienischen Duos Primal Code veröffentlichten. Vermutlich gibt es kein Label, bei dem diese Musik besser aufgehoben wäre. "Memorial" entstand während des ersten, praktisch weltweiten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020. David entwickelte in dieser Zeit ein Klangtagebuch für die Menschen um ihn herum, die ihm nahe stehen. Jedes Stück trägt den Namen einer geliebten Person. Eine Ode an die Freundschaft, an die Verbundenheit, die Gemeinschaft, den Zusammenhalt - und die Liebe. Vielleicht findet das Konzept auch deshalb so viel Widerhall in mir, weil meine emotionale Entwicklung zu all jenem Klimbim mittlerweile eher in der untersten Schublade des Eisfachs angekommen ist. Zwei Jahre Corona haben für einen, der all zu argem zwischenmenschlichen "Gedöns" (Gerhard "Gecht" Schröder) seit jeher, ich formuliere es sehr zurückhaltend: skeptisch gegenüberstand, endlich genau jene nun völlig akzeptierten Entschuldigungen parat gehabt, die im prä-pandemischen Zeitalter als verschroben und eigenbrötlerisch galten. Diese Platte stellt dieser Tendenz einen unironischen und überraschend unkitschigen Kontrapunkt gegenüber. Ich kann zwar auch als professioneller Ja-Sager und "Gummimann" (Antitainment) nicht aus meiner Haut, aber ich kann diese Musik darunterkriechen lassen. Fürs gute Gefühl.

Und scheißrein, es macht mir ein gutes Gefühl! Die emotionale Wärme, die "Memorial" über den konzeptionellen Überbau einerseits, und den Klang und die hypnotischen Tracks andererseits ausstrahlt, ist unwiderstehlich. Es knistert wie ein frisch entzündetes Kaminfeuer, rollt den flauschigsten (Asbest-)Flokati des Universums auf den Boden der Waldhütte in den schwedischen Wäldern aus, Saunaaufguss Lavendel-Melisse, Glühwürmchen. Hochverdichtete Tiefsinnigkeit im Zeichen des Stechapfels. 

Ich will hier nie wieder weg. 

Vinyl: Meine Version auf schwarzem Vinyl (neben der es auch noch eine in Pink/Rosa/Lachs/Magenta/wasweißdennich gibt) ist hey-okay. Platten von Hypnus können machmal Probleme haben, aber meistens sind die dann nicht schwerwiegend. Das Cover-Artwork ist angemessen abstrakt, und vor allem die für Hypnus typischen abgerundeten Kanten des Covers sind immer wieder ein echter Hingucker. (++++) 


    



Erschienen auf Hypnus Records, 2022.

25.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 19: marine eyes - chamomile



MARINE EYES - CHAMOMILE

Ein großes Versäumnis, das der Verzicht auf eine Bestenliste fürs Jahr 2021 auf diesem Blog mit sich brachte, ist die bisherige  Nichterwähnung von marine eyes, einem Ambientprojekt von Cynthia Bernard. Ihr Debutalbum "idyll" brachte mich auf meinem Instagramkanal ins rhetorische Trudeln:

"Sounds as if the vibes from The Sea And Cake's music have an out of body experience under an almond tree in full blossom on the Samoan Islands, right after getting a serious dose of muscle relaxants (life goals, btw!). So peaceful and soothing, you can't help but get lost in it."

Und auch wenn's in so illustren wie professionellen Zirkeln ein bisschen cringe wirkt, sich erstens selbst zu zitieren und sich zweitens dann auch noch selbst auf die Schulter zu klopfen, sei's drum: da stimmt ja immer noch jedes Wort. "idyll" war das reinste, sanfteste, friedvollste Weiß der Welt. Cynthias zweites Album, das im gleichen Jahr veröffentlichte "Unfailing Love", ist in Zusammenarbeit mit Past Inside The Present-Gründer zaké entstanden (gemastered übrigens von niemand Geringerem als Stephan Mathieu) und bekam im direkten Vergleich ein wenig mehr Erdung und Melancholie unter die Schwerelosigkeit gelegt. 

Als im Oktober des letzten Jahres unser Hund Fabbi schwer krank wurde, und ich unter seelischer Betäubung versuchte, die Tage ohne einen oder dreizehn Nervenzusammenbrüche zu überstehen, wurde mir "chamomile" ein Begleiter in dieser von Schlaflosigkeit und großer Traurigkeit geprägten Zeit. Mir erschien die Ansprache dieser Musik als intuitiv unemotional. Sie war einfach...da. Sie forderte nichts ein, sie kam mir nicht ungefragt zu nahe - sie tröstete einfach nur. Sie füllte den Raum um mich herum mit einem Kokon aus tausenden kleinen Lichtpunkten, mit Verständnis und Zuspruch, damit ich nicht fallen konnte. Ein Seraphim. 

"chamomile" kann mir meine Angst vor Krankheit, Tod und Verlust nicht nehmen. Aber es macht den Umgang mit den Erlebnissen und Erfahrungen einfacher. Es ist magische Musik, die das Leben, den Augenblick und das Universum feiert.

--

Vinyl: Meine Past Inside The Present-Pressungen sind leider nicht immer makellos, was bei der im Allgemeinen sehr verhaltenen Musik problematisch werden kann. Meine "Cocoon White"-Version von "chamomile" ist insgesamt zufriedenstellend, aber nicht perfekt. Das Cover-Artwork ist ein Träumchen und so friedvoll und transparent-schimmernd wie die Musik.


   


Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.



19.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 20: Blood Incantation - Timewave Zero




BLOOD INCANTATION - TIMEWAVE ZERO

Mein Text zu "Hidden History Of The Human Race", dem Durchbruchsalbum von Blood Incantation aus dem Jahr 2019, endete mit der Einschätzung, gerade einem der ungewöhnlichsten und visionärsten Death Metal Alben aller Zeiten zugehört zu haben. Die Inszenierung mittels technischem Death Metal, sphärischen Ambientsounds, spirituell-kosmischen Texten und des Science Fiction-Artworks, bestäubt mit dem süßen Pulver psychoaktiver Substanzen ist einzigartig, die Überzeugung und die Kompromisslosigkeit, die aufgebracht werden muss, um eine solche Platte zum Leben zu erwecken, inspirierend. In Zeiten, in denen Rockbands im Allgemeinen und Metalbands im Besonderen, vor allem darauf bedacht sind, möglichst wenig Mut, Identität (die eigene, zumal), und Vision zu zeigen, weil das Publikum mittlerweile so konditioniert ist, bei der kleinsten Normabweichung entweder den Vorgesetzten sprechen oder gleich den ganzen Laden in die Luft jagen zu wollen, sind Bands wie Blood Incantation Gold wert. Sie müssen wie ein Spix Ara in Obhut derer genommen werden, die sich der kreativen Freiheit und dem Überleben von Abseitigem, Extremen, Obskurem verschrieben haben. 

Damit sind wir bei "Timewave Zero", einem reinen Ambientalbum in Stile der progressiven und noch in den Kinderschuhen steckenden elektronischen Musik der 1970er Jahre. Gitarrist Paul Riedl weist darauf hin, dass die Band schon vor über zehn Jahren wusste, dass ihr drittes Album ein reines Ambientprojekt werden sollte: 

"Our band since 2011 was saying we're going to make Morbid Angel, Gorguts, Disincarnate, and Death-style death metal mixed with the eccentricity of Lykathea Aflame, later Gorguts, mystical death metal like StarGazer. Our second record is going to have a green logo like "Domination" [dem vierten Album von Morbid Angel - Anmerkung d. Redaktion], and our third record is going to be ambient. Literally over 10 years ago we said that in the practice space." 

Schon lange ein fundamentaler Bestandteil ihres Death Metal Sounds und vielleicht noch wichtiger: ihres Selbstverständnisses, erstrecken sich die über zwei Movements verteilten acht Kompositionen nun über ein ganzes Werk. Riedl sagt "We don't play games, man", und es ist klar, dass "Timewave Zero" kein Gimmick ist, keine schnell eingeschobene Nummer, die schlicht die Wartezeit zur nächsten Death Metal-Kanone verkürzen soll. Es gibt auch keine Diskussionen darüber, einen neuen Projektnamen zu verwenden. Das ist die Band Blood Incantation, und die Mitglieder der Band Blood Incantation mögen elektronischen Ambient - und dann macht die Band Blood Incantation eben ein elektronisches Ambientalbum. So einfach ist das manchmal. Ich weiß nicht, ob die Verantwortlichen A&Rs bei Century Media die Angstattacken mittlerweile in den Griff bekommen haben, aber an dieser Stelle darf man das Label ruhig mal für das Vertrauen und den Mut beglückwünschen. 

Die Sache ist die: eigentlich hat mich die Band mit so einer Geschichte schon im Sack, bevor ich auch nur einen Ton von "Timewave Zero" gehört habe. Dass mir Ambient einstweilen näher steht als Death Metal oder Rockmusik insgesamt, hilft natürlich dabei, jede Vorbehalte hinsichtlich der stilistischen Ausrichtung und des zumindest temporären Stilwechsels abzulegen. Mehr noch, ich umarme dieses knapp über der Grasnarbe schwebende und mit Drogen eingenebelte Raumschiff mit Haut und Haaren. Dabei ist "Timewave Zero" kein heller, leichter, ätherischer Ambient, er ist nicht "relaxt" oder "gelassen". Ganz im Gegenteil. Es liegt Schwermut über und Mystik unter dieser Platte, Haltung und Gravitas. Es ist unvertraut, außerweltlich - und fordert deshalb Konzentration ein. Die Band weist in Interviews etwas bemutternd darauf hin, dass sie für "Timewave Zero" nicht ziellos durchs Nichts delirieren, sondern sich in einem durchkomponierten Werk aufhalten; vielleicht auch eine Art Gebrauchsanweisung für die rockige Fanbase, die nur allzu schnell diesen einen despektierlichen Begriff verwendet, den sie aus Funk & Fernsehen kennt und also "Fahrstuhlmusik" krakeelt, wenn das ADHS kickt und Headbanging eher unangebracht erscheint. 

Man muss "Timewave Zero" keine Aufmerksamkeit schenken. Schließlich gibt es keine Regeln. Tut man es dennoch, lernt man fürs Leben. Es dehnt sich aus. 

Vinyl: Einzel-LP in der "Orange in Black"-Version in matt-texturiertem Cover. Stilistisch sehr ansprechend. Die Pressung ist von kleineren Stögeräuschen abgesehen okay, keine Non-Fills. Kein Downloadcode. (+++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022.

11.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 21: Viul & Benoit Pioulard – Konec



VIUL & BENOIT PIOULARD - KONEC

Vor etwa sechs Jahren habe ich mich darauf geeinigt, ab sofort Schallplatten von A Strangely Isolated Place zu sammeln. Möglicherweise war "A State Of Becoming" von Lav und Purl der Auslöser für jene Entscheidung. Nicht nur die Musik erschien außerweltlich, auch das hinreißende Coverartwork und die darauf farblich abgestimmten Schallplatten in blassrosa lassen mich noch heute Jubelschreie ausstoßen. Seitdem wird jede Veröffentlichung blind gekauft - komme, was wolle. Und es kam so einiges, vor allem im letzten Jahr. Denn so wunderschön und mit solcher Liebe zum Detail, zur Musik und zur Vision des Labels die Platten auch gestaltet sind, so teuer sind sie leider auch. In Europa sind Preise von über 40 Euro für eine Doppel-LP des Labels mittlerweile der Standard und da muss ich bei aller Liebe zugeben: dann wird die Luft selbst für einen Sammel-Kasper schon ziemlich dünn. 

Das wurde sie auch für "Konec", die erste Zusammenarbeit von Luke Entelis (Viul) und Thomas Meluch (Benoît Pioulard), aber spätestens als die Post aus England eintraf und man diese Schönheit mit dem künstlerischen Artwork von Liz Harris in den Händen hält, ist alles vergessen. Gibt's eben am Monatsende die verbrannten Krümel aus dem Toaster und bestes Aqua Hahna. Mir doch egal. 

Liegt die Platte auf dem Plattenspieler, wird's wenig überraschend sogar noch besser. Die beiden Musiker haben "Konec" in der Isolation des New Yorker Covid-Lockdowns im Jahr 2020 geschrieben und mit dick verhangenen, nebligen Loops, grobkörnigen Texturen und zerschossenen Melodien voller Tristesse und Melancholie die Stimmung in der Stadt eingefangen. Vor allem das melodische Element Pioulards, in seinem Fundament sicher nicht weit von den sonoren Orcas-Klassikern entfernt, die er mit Rafael Anton Irisarri produzierte, verleiht den verzerrten und auf Raufaser entworfenen Beobachtungen von Viul eine zusätzliche Ebene der Emotionalität. Nachzuhören bei dem überraschenden Gitarrenoutro von "Flaxen" oder dem vergleichsweise offensiv-harmonischem "Catalune" - neben dem elegischen "Returning Clear Voice" so oder so einem der Herzstücke des Album. 

Es sind Miniaturen der Einsamkeit und des Zerfalls, die sich in ihren besonderen Momenten aus der beengenden und furchteinflößenden Isolation befreien und die Seelenstimmung einer ganzen Stadt aufsaugen können. Und vielleicht ist "Konec" am Ende weniger Beobachtung und Zeitdokument, als Transformation und Gemeinschaft. Dass es dazu immerzu Momente der Agonie und der Verwüstung braucht, um Empathie und Verständnis zu finden, sagt Wesentlicheres über uns aus als uns allen lieb sein kann.


   


Vinyl: Das Gesamtkonzept, der Dreiklang aus Musik, Cover-Artwork und Vinylfarbe, ist nahe an der Perfektion. Die Pressung ist ordentlich, gefütterte Inners, Bandcamp-Download. Dazu legt das Label seinen Vinylausgaben seit einiger Zeit einen gedruckten Flyer bei, der Auskunft über das Konzept, den Aufnahmeprozess, die Artworkgestaltung und die Pressung gibt. Ich möchte Labelchef Ryan hiermit offiziell dazu ermutigen, mit der Arbeit an einem Artbook über alle bislang erschienenen ASIP-Releases, mit großen Coverabbildungen und Hintergrundgeschichten zu beginnen. Die Legende lebt. (+++++)


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


05.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 22: Petrol Girls - Baby




PETROL GIRLS - BABY

War On Women haben sich im Jahr 2022 durch eine für mein Empfinden ziemlich unerträgliche Reaktion auf Anschuldigungen ihrer früheren Gitarristin Nancy, sie sei von Bandmitgliedern über Jahre psychisch missbraucht worden, ins Aus geschossen. Wer auf derlei konkrete Erlebnisberichte einer ehemaligen Mitstreiterin mit einem Statement reagiert, das in furchtbarstem Dummprofessionell-Gelalle nicht viel mehr sagt als "Die hatte schon früher ein paar Schrauben locker", macht sich umgehend unsympathisch und auch hinsichtlich der eigenen stets als überlebenswichtig kolportierten feministischen Message, unglaubwürdig. Ich hätte viel mehr erwartet. So ist es eine riesige Enttäuschung. Streng genommen das Ende von Täuschung.  

So müssen nun die Petrol Girls für meinen feministischen Hardcore-Punk-Rage sorgen - und sie taten es vergangenes Jahr mit einem hochinteressanten Album. Das erkannte auch Youtube-Star Anthony Fantano, der überraschenderweise nicht nur ein Videoreview zu "Baby" produzierte, sondern die Platte auch noch mit eher selten vergebenen neun Punkten adelte. 

Erstens hat die Band für meinen Geschmack im Vergleich zu früheren Platten die Komplexität nochmal erhöht, was einem lange andauernden Hörspaß sehr zugute kommt. "Baby" nutzt sich einfach nicht ab. Zweitens: Was vor allem die Gitarre und das Schlagzeug spielen, ist fast immer außergewöhnlich, virtuos, dissonant, drückend, überlegt, chaotisch - und wirkt wie komplett mühelos aus dem Ärmel geschüttelt. Ich kenne keine andere Band, die so klingt. Drittens: Diese Breaks schießen den Vogel ab. Wild, roh, brutal unerwartet - manche lösen selbst nach dem hundertsten Mal noch einen satten "wtf?"-Moment aus. Höre "Feed My Fire" und seinen Übergang von totalem Kreisch-Armageddon zu einem swingenden siebziger Tanzgala-Schalala. Oder "Fight For Our Lives" mit dem Wechsel von ölverschmiertem Industrialgedröhne zu einer wahren Chorushymne, bei der ich schlimme unkontrollierte Hitzewallungen bekomme. Oder...hier...der Samba in "Sick & Tired"! - it's fucking glorious. 

Viertens - und das ist vielleicht der wichtigste Punkt von allen: keine Kompromisse. Die Petrol Girls sind so kratzbürstig, unbequem und provokativ wie eh und je. Sängerin Ren kreischt mit ungebrochener Intensität und Wut gegen die alles einhüllende Misogynie an, gegen Unterdrückung, Rassismus, Doppelmoral, Ignoranz, Kapitalismus. Als ich die Band 2019 live in Wiesbaden sah, gerieten die Performance und vor allem die Ansagen derart kraftvoll und eindringlich, dass ich manchmal einfach zu Heulen anfangen musste. Auch auf "Baby" gibt es unzählige Momente, die mich zuerst einen Molotow-Cocktail bauen lassen und anschließend auf die nächste von den verdammten Bullen eingekesselte Demo schicken, mit meinen verfickten fists in the verfickte Air. All das natürlich mit dem Überhit der Platte auf den Lippen: "Baby, I Had An Abortion" ist der große Mittelfinger in Richtung des US-Amerikanischen Supreme Courts, der zur Jahresmitte die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht aufhob und somit ihren christlich-fundamentalistischen Terroristengruppen und all den rechten Sackgesichtern einen großen, feuchten Freiheitsfurz der Erleichterung aus dem Rektum lockten. "Baby, I Had An Abortion" ist ein ironischer, quietschfideler, moderner Tanzflächenpunker mit der Message für die nächsten Jahrzehnte. 

Wichtige Band. Tolle Platte. 

Hier schreibt Ren um englischen Kerrang! über das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen:



Vinyl: Bei dem Geschrote sind kleinere Störgeräusche so relevant wie eine "Blut, Tränen und Dosenwurst"-Kolumne von Sascha "Lobo" Lobo im Landser, Quatsch: im Spiegel! Ich höre da nix. Und ehrlich: mir ist's dann jetzt auch mal latte. Klingt gut. So. Sieht auch gut aus. Kauf' halt, Baby! (++++)


 



 Erschienen auf Hassle Records, 2022.

04.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 23: Carlos Ferreira - Before Memories Fade



CARLOS FERREIRA - BEFORE MEMORIES FADE

Meine erste Begegnung mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira fand im Rahmen der Auseinandersetzung mit "Quiet Reminders" statt, einer gemeinsamen Arbeit mit Shuta Yasukochi, die 2020 auf dem spanischen Archives Label erschien. Ich halte das Album bis heute für einen echten Ambient-Meilenstein und meine damalige Jubelarie über die weitläufige und bildhafte Sprache der beiden Musiker flüstere ich immer noch in jedes offene Ohr. Ich fand Carlos wenig später auf Instagram und wir stellten nach einiger Zeit fest, dass unsere Biografien sowohl hinsichtlich unserer musikalischen Vergangenheit als auch Gegenwart und unsere politischen Ansichten in erstaunlich parallel verlaufenden Bahnen durchs Leben flitzen. 

Sein im Februar 2022 auf dem texanischen Label Aural Canyon veröffentlichtes "Before Memories Fade" triggerte mich aus zweierlei Gründen. Zum einen sprach mich sowohl der Albumtitel, als auch das dahinter stehende Konzept sofort an. Carlos schreibt dazu:

“One of my strongest creative vectors is about meditating on “memory”. It fascinates me to imagine that every memory corresponds to a fragment that is not static - it changes throughout life, due to our maturation and recent experiences. “Before Memories Fade” is a reflection on this fundamental element of our existence. About eternalizing moments in an organic, live and unpredictable way.”

Ich hatte in den ersten sieben Monaten des abgelaufenen Jahres erneut ein größeres Thema mit meiner Gesundheit. Mir fehlt ehrlicherweise etwas die Kraft, um weiter ins Detail zu gehen, aber ich musste leider wieder die existenziellen Fragen aus dem Koffer holen, der eigentlich seit ein paar Jahren luftdicht verschlossen hinter gleich vierzehn Schrankwänden steht. All die Ängste, Brüche, Konflikte, die Erinnerungen und Enttäuschungen, die Zuversicht, die Hoffnung und die Liebe - es tobte alles für volle sieben Monate durchs Nervengestrüpp wie ein tollwütiges Eichhörnchen auf Crack. "Before Memories Fade" als Konzept, als Ansprache, war ein Resonanzraum für derlei Gedanken. Ich hörte das Album bevorzugt in der heißen Badewanne, wo es die gewünschte Wirkung eines auralen Sedativums am besten entfalten konnte. 

Das bringt uns um zweiten Trigger: der Musik. Vom ätherischen und illuminierenden Beginn mit "Liminal" über das sternenfunkelnde "Dandelion", das aufwühlende "Nostalgia" und dem ausgegrauten Vintagehappen "Cloudy Morning" bis zum meinem persönlichen Highlight "Accepting Transience" - so durchlässig, friedlich, tröstend; es mag makaber sein, aber vielleicht möchte ich genau das als letztes Musikstück hören, bevor das Licht final ausgeknipst wird - es ist deutlich, wie sehr das Konzept über Erinnerungen und die Sicht auf das eigene Erleben jede Minute dieses Albums trägt. Introspektiv, melancholisch, nostalgisch - und mit jedem weiteren Gedanken ein bisschen näher dran am wahren Selbst. 


Für Haptikfreunde gibt es zwar leider kein Vinyl, aber immerhin ein Tape, das über die Bandcamp-Seite des Labels bestellt werden kann. Ansonsten tut's der Bandcamp-Download:


 



Erschienen auf Aural Canyon, 2022.


28.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 24: Mundos Sutis - Quintessence




MUNDOS SUTIS - QUINTESSENCE


Das an der Nordküste Spaniens, genauer gesagt in Kantabrien, beheimatete Label Seven Villas Music mausert sich immer mehr zu einem ernstzunehmenden Kandidaten für die Bandcamp-Subscription. Labelbetreiber und Produzent Pablo Bolivar veröffentlicht mindestens zwei EPs/Alben im Monat und für schlappe 6 Euro bekommt man sie über das Abo leicht und locker in die Download-Queue gespült. 

Für "Quintessence" des mexikanischen Produzenten-Duos von Mundos Sutis war kein Abo notwendig. Gute acht Monate nach dem digitalen Release war endlich die Vinylfassung fertig gebacken und das war ein echter No-Brainer, wie man heute eben so sagt, wenn der Schlaganfall nicht fern ist. Schon ihr Seven Villas-Debut mit der EP "Aquamarine" aus dem Jahr 2021 sorgte für aurale Kuschelorgien, was sollte also auf Albumdistanz schiefgehen?

Natürlich gar nichts. Quod erat demonstrandum. Und das liegt nicht nur daran, dass sich drei Tracks der exzellenten EP nochmal auf "Quintessence" finden lassen. 

Julia Arguello und Matias Delpiano haben im Prinzip ein nächtliches Dampfbad am Strand von Balandra vertont, nachdem man im Hotelzimmer von der als Potpourri getarnten Pilzmischung genascht hat; ein kleiner Gruß aus der Küche. Es ist feucht und heiß da draußen, das Kleinhirn so mellow durchgedampft, dass man's mit einem Strohhalm aus den Ohren rausschlürfen könnte. Die Palmen atmen in der Meeresbrise. Das Wasser weiß wie Schnee. Notbeleuchtung. Durch die Luft schweben Moleküle von buntem Gras, Endorphinen und getragenen Unterhosen. "Quintessence" läuft in Endlosschleife. 

Man möchte eintauchen und nie wieder zurück an die Oberfläche kommen. 


Vinyl: Die Doppel-LP (kein Gatefold) ist in der farblichen Gestaltung des Vinyls mit gold und blau etwas gewagt, die Pressung ist hingegen absolut fehlerlos, der Klang warm und füllig. Das Coversleeve wirkt ein bisschen labberig. Ein Bandcamp-Downloadcode ist beigelegt. Man muss froh sein, dass sich das Label sowas traut. Zeugt von Vertrauen. (++++)


 



Erschienen auf Seven Villas, 2022.

22.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 25: Deepchord - Functional Designs




DEEPCHORD - FUNCTIONAL DESIGNS

Das letzte Jahresdrittel 2022 war dunkel. Sehr dunkel. Unser Hund Fabbi, mit fast 19 Jahren geradezu ein Methusalem, hatte sich einen fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen und stand mehrmals am Rande der Aufgabe. Über zwei Monate befanden sich Frau und Herr Dreikommaviernull im absoluten Ausnahmezustand, emotional durchlöchert und durch eklatanten Schlafmangel auch physisch in der tiefroten Zombiezone herumtaumelnd. Ich hörte in jener Zeit praktisch keine Musik - und nur wenn die Ruhe wirklich komplett unaushaltbar war, und ich doch den Plattenspieler bemühte, musste Musik sich doch wenigstens so anfühlen wie Ruhe. Deepchords "Auratones" Album aus dem Jahr 2017 (in wunderbarer Re-Release Aufmachung auf sandfarbenem Vinyl) war für solche Momente perfekt, weil es so tief und so emotionslos stoisch vor sich hin pumpt, dass alles was vom Klang übrig bleibt, pun intended, Aura wird. 

Die Ankündigung Rod Modells, fünf Jahre nach "Auratones" mit einem neuen Album zu Soma Quality Recordings zurückzukehren, begleitet von zwei EPs "Functional Extraits 1" und "Functional Extraits 2", brachte zusammen mit einer sehr langsam voranschreitenden Verbesserung von Fabbis Zustand ein paar extra hoffnungsvolle Sonnenstrahlen in den mit +20°C so oder so knöcheltief im Sommer stehenden November 2022. Das gesamte "Functional Designs"-Paket fällt wieder etwas urbaner, dunkler, mystischer aus als das beinahe spirituelle Material auf "Auratones". Modell ist und bleibt der Herrscher der dystopischen Großstadt. Zwischen schwarz verspiegelten Häuserfassaden, verkokeltem Asphalt, hohlem Hochglanz und menschlicher Abgründigkeit inszeniert er seine Tracks mit unwiderstehlichem Drive auf brennendem Eis. Ein Alleskönner, der selbst bei minimaler Lautstärke die Atmosphäre im Raum verändert. Du kannst über die stilistische Perspektivlosigkeit des Dub Techno sagen, was Du willst, aber zeig mir einen, der über eine lebensfeindliche Nacht in Downtown die suchenden Blitze eines Pulsars so herabregnen lassen kann wie Modell in "Strangers". Es ist vielleicht nicht neu, aber es ist eben immer noch beeindruckend. 

Vinyl: Schwarzes Doppelvinyl, kein Gatefold. Stimmungsvolles Cover in leichter Übergröße und einwandfreie Pressung. Kein Downloadcode. Die CD- und Digitalversionen haben drei Tracks zusätzlich. (++++)


 


Erschienen auf Soma Quality Recordings, 2022.


07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021. 

04.09.2022

OVERKILL - THE ATLANTIC YEARS 1986 - 1994 (Vinyl Boxset Review)


Ich hatte es im letzten Videoreview zu Voivods "Forgotten In Space"-Boxset bereits mehrfach angedroht, hier ist es nun: der zweite Beweis dafür, dass ich es mit vollmundigen Einlassungen wie "Ich mag keine Boxsets" oder despiktierlichen Fragen wie "Wer soll denn den ganzen Scheiß kaufen?" besser sein lassen sollte. 

Ich habe mir also Overkills "The Atlantic Years 1986 - 1994"-Rückschau vorgenommen und dabei versucht, es wenigstens ein kleines bisschen weniger zäh werden zu lassen als mein Review-Debut, und was immerhin den Blick auf die Uhr betrifft, ist mir das auch ausnahmsweise gelungen. Inhaltlich gibt es immer noch konfus abschweifendes Gelalle - aber das sind meine werten Leser über die letzten 15 Jahre schließlich auch gewohnt. Und ein wenig Kontinuität erlaube ich mir durchaus in diesen so chaotischen Zeiten. Weil ihr es mir wert seid. 

Enjoy!