PETROL GIRLS - BABY
War On Women haben sich im Jahr 2022 durch eine für mein Empfinden ziemlich unerträgliche Reaktion auf Anschuldigungen ihrer früheren Gitarristin Nancy, sie sei von Bandmitgliedern über Jahre psychisch missbraucht worden, ins Aus geschossen. Wer auf derlei konkrete Erlebnisberichte einer ehemaligen Mitstreiterin mit einem Statement reagiert, das in furchtbarstem Dummprofessionell-Gelalle nicht viel mehr sagt als "Die hatte schon früher ein paar Schrauben locker", macht sich umgehend unsympathisch und auch hinsichtlich der eigenen stets als überlebenswichtig kolportierten feministischen Message, unglaubwürdig. Ich hätte viel mehr erwartet. So ist es eine riesige Enttäuschung. Streng genommen das Ende von Täuschung.
So müssen nun die Petrol Girls für meinen feministischen Hardcore-Punk-Rage sorgen - und sie taten es vergangenes Jahr mit einem hochinteressanten Album. Das erkannte auch Youtube-Star Anthony Fantano, der überraschenderweise nicht nur ein Videoreview zu "Baby" produzierte, sondern die Platte auch noch mit eher selten vergebenen neun Punkten adelte.
Erstens hat die Band für meinen Geschmack im Vergleich zu früheren Platten die Komplexität nochmal erhöht, was einem lange andauernden Hörspaß sehr zugute kommt. "Baby" nutzt sich einfach nicht ab. Zweitens: Was vor allem die Gitarre und das Schlagzeug spielen, ist fast immer außergewöhnlich, virtuos, dissonant, drückend, überlegt, chaotisch - und wirkt wie komplett mühelos aus dem Ärmel geschüttelt. Ich kenne keine andere Band, die so klingt. Drittens: Diese Breaks schießen den Vogel ab. Wild, roh, brutal unerwartet - manche lösen selbst nach dem hundertsten Mal noch einen satten "wtf?"-Moment aus. Höre "Feed My Fire" und seinen Übergang von totalem Kreisch-Armageddon zu einem swingenden siebziger Tanzgala-Schalala. Oder "Fight For Our Lives" mit dem Wechsel von ölverschmiertem Industrialgedröhne zu einer wahren Chorushymne, bei der ich schlimme unkontrollierte Hitzewallungen bekomme. Oder...hier...der Samba in "Sick & Tired"! - it's fucking glorious.
Viertens - und das ist vielleicht der wichtigste Punkt von allen: keine Kompromisse. Die Petrol Girls sind so kratzbürstig, unbequem und provokativ wie eh und je. Sängerin Ren kreischt mit ungebrochener Intensität und Wut gegen die alles einhüllende Misogynie an, gegen Unterdrückung, Rassismus, Doppelmoral, Ignoranz, Kapitalismus. Als ich die Band 2019 live in Wiesbaden sah, gerieten die Performance und vor allem die Ansagen derart kraftvoll und eindringlich, dass ich manchmal einfach zu Heulen anfangen musste. Auch auf "Baby" gibt es unzählige Momente, die mich zuerst einen Molotow-Cocktail bauen lassen und anschließend auf die nächste von den verdammten Bullen eingekesselte Demo schicken, mit meinen verfickten fists in the verfickte Air. All das natürlich mit dem Überhit der Platte auf den Lippen: "Baby, I Had An Abortion" ist der große Mittelfinger in Richtung des US-Amerikanischen Supreme Courts, der zur Jahresmitte die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht aufhob und somit ihren christlich-fundamentalistischen Terroristengruppen und all den rechten Sackgesichtern einen großen, feuchten Freiheitsfurz der Erleichterung aus dem Rektum lockten. "Baby, I Had An Abortion" ist ein ironischer, quietschfideler, moderner Tanzflächenpunker mit der Message für die nächsten Jahrzehnte.
Wichtige Band. Tolle Platte.
Hier schreibt Ren um englischen Kerrang! über das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen:
Vinyl: Bei dem Geschrote sind kleinere Störgeräusche so relevant wie eine "Blut, Tränen und Dosenwurst"-Kolumne von Sascha "Lobo" Lobo im Landser, Quatsch: im Spiegel! Ich höre da nix. Und ehrlich: mir ist's dann jetzt auch mal latte. Klingt gut. So. Sieht auch gut aus. Kauf' halt, Baby! (++++)
Erschienen auf Hassle Records, 2022.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen