Platz 2
SLAYER - SEASONS IN THE ABYSS
Mein Verhältnis zu Slayer ist ein höchst ambivalentes, und ich könnte es im Prinzip keinem verdenken, der mich nun wegen Heuchelei, Doppelmoral und der Tatsache, dass in meinem Kühlschrank gerade tatsächlich veganer Käse liegt an den Kalbshaxenpranger stellt. Slayer sind keine sympathischen Jungs. Genau genommen machen sie auf mich den Eindruck, sie seien intellektuell gerade aus dem Pleistozän gekrabbelt - nur dass sie anstatt der Keule eben eine Gitarre über die Schulter geworfen haben. Ihre verursachten Skandale in den achtziger Jahren, meinetwegen allesamt selbstinszeniert und durch eine sich schon damals an Remmidemmi abarbeitende und aufgeilende Medienlandschaft forciert, der heikle "Angel Of Death" Text, die auf die Gitarre geklebte Nazischeiße von Jeff Hannemann, Kerry Kings angebliche Verstrickungen in zumindest konservativ-redneckig angestrichene Kreise und nicht zuletzt der Umgang mit der mutmaßlichen Krankheit und dem späteren Tod Jeff Hannemanns einerseits, aber auch der Umgang mit der Kündigung von Schlagzeuger Dave Lombardo andererseits, tragen nicht dazu bei, dass die Kapelle bei mir hoch im Kurs steht. Und auch wenn es immer wieder aufs erste Hinsehen verblüffend ist, wie wenig all das die Metalszene juckt, solange die Mucke geil und der Pimmel auf halb elf steht, und was beim näheren Hinsehen eben doch genau so - und zwar GENAU SO - sein muss, ist jetzt vielleicht die Stelle gekommen, an der das berühmte "Aber!" hingehören sollte. Ich kurbel auch mal schnell den Pimmel hoch. Schuldig im Sinne der Anklage. Live with it.
Die Kehrseite der Medaille ist nämlich, dass die Band bis 1991 durchaus eine exponierte Stellung in meinem musikalischen Universum einnahm. Mein Bruder machte mir das Debut "Show No Mercy" schmackhaft, und ich hörte "Reign In Blood" zum ersten Mal in seinem Zimmer, obwohl er mir, also immerhin einem gerade mal elfjährigen Dreivegankäsehoch, kurz vorher noch mitteilte, die Platte sei "nix für dich." Womit er natürlich strahlend falsch lag - ich raffte die 29 Minuten Hartholz von "Reign In Blood" freilich damals kein Stück, was ich aber verstand war sein rowdyhaftes und irres Backcover sowie die schwarzen Augenringe Hannemanns und das umgedrehte Kreuz auf der Rückseite des Debuts. Ich raffte das vor allem deshalb, weil es Mutti Angst machte. Das musste irgendwie böse sein. Und böse war damals gut - nicht weil es böse, sondern das exakte Gegenteil war: es war lustig. Und weil es in erster Linie lustig war, mit diesen Provokationen zu spielen, verbrachte ich keine Sekunde damit, die Texte zu lesen. Verstanden hätte ich eh kein Wort.
Nun ist "Reign In Blood" natürlich der anerkannte Konsensklassiker und viel mehr als nur die weithin als Sternstunde Slayers geltende Pflichtveranstaltung für Metalfans, und tatsächlich ist der Einfluss besonders jenes Albums auf die weitere Entwicklung des Genres immens. Wenn wir aber über meine Lieblingsplatte der Band sprechen, und genau das tun wir hier, führt kein Weg an "Seasons In The Abyss" vorbei. Meinetwegen hätten sich Slayer spätestens nach der anschließenden Liveplatte "Decade Of Aggression" ins Thrashnirwana verabschieden können, das wäre der endgültige und würdige Schlusspunkt ihrer Karriere gewesen. Von hier aus konnte es nur noch bergab gehen. Was es ja dann auch - Wir sind alle schockiert! - auch tat.
"Seasons In The Abyss" bietet musikalisch alles, was Slayer ausmacht, und sogar noch ein bisschen mehr. Durch die Auseinandersetzung mit diesen Songs wird im Nachgang klar, dass der Vorgänger "South Of Heaven" ein Übergangsalbum war, oder, etwas provokativer formuliert, ein notwendiges, wenngleich ärgerliches Übel. Man sieht's mir nach: ich konnte mit "South Of Heaven" mit Ausnahme des apokalyptischen Titelsongs noch nie etwas anfangen, aber wenn es so klingen musste, damit wir uns zwei Jahre später in der Gruft namens "Seasons In The Abyss" suhlen durften - bon. Zwei zentrale Themen, die diese Platte so speziell machen, inhaltlich aber kurioserweise kaum voneinander zu trennen sind, was nebenbei gesagt viel, wenn nicht gar alles aussagt: Erstens haben die Songs soviel Hitpotential wie noch nie zuvor und/oder danach. Der klassische Albumsong, der für gewöhnlich nur deshalb existiert, weil man noch ein bisschen Platz auf der Platte hatte, existiert hier eben gerade nicht; das Format wird aufgelöst und bekommt stattdessen zehn Thrash Metal Giganten eingefräst, die sich stilistisch exakt zwischen "Reign In Blood" und "South Of Heaven" platzieren, sich indes qualitativ, sowohl melodisch und strukturell, als auch und ganz besonders atmosphärisch an die Spitze der (fast ganzen Thrash-) Welt setzen. Was uns zu Zwotens führt: der Sound. Mein Gott, dieser Sound! In meinen Einlassungen zu Sepulturas "Arise" schrieb ich, es gäbe praktisch nur eine Thrashplatte, die besser als eben "Arise" klingt, und hier haben wir sie. Eine morbidere, vernebeltere, im Wortsinn atemberaubendere Platte habe ich in meinem Leben nicht gehört. Wer die Ohren spitzt und tief in die schwarze Pestwolke eintaucht, muss befürchten, dass dieser von Rick Rubin verantwortete Staubklumpen in jedem Augenblick in sich zusammenfällt - es riecht nach Apokalypse, nach Dunkelheit, es ist dumpf, macht ohnmächtig, und trotzdem kann Metal zeitgleich nicht massiver, gewaltiger und bedrückender klingen. Diese Produktion ist ein Meisterwerk, das nicht aus technischer Limitierung, sondern aus einer Vision entstand, und sie bläst bis heute praktisch alles an die Wand, was seitdem ein Studio von innen gesehen hat.
Alleine der Sound von "Seasons In The Abyss" ist der Grund, warum ich mir seit Jahren keine aktuellen Metalplatten mehr anhören kann und mag: im Vergleich mit dieser nunmehr über zwanzig Jahre alten Scheibe erscheint mir alles visionslos, gleichförmig, leer, billig und flach.
Erschienen auf Def Jam, 1990.