FLOTSAM AND JETSAM - CUATRO
Flotsam And Jetsam aus Arizona starteten mit zwei Alben in ihre Karriere, die heute in aller Seelenruhe einstimmig zum Kanon des Speed Metal gezählt werden dürfen. Nach zwei Demos und Beiträgen auf den legendären Metal Massacre und Speed Metal Hell Samplern zeigt das Debut "Doomsday For The Deceiver", veröffentlicht im Juli 1986, eine hungrige, taufrische Band nebst blitzsauber komponierten, teils komplexen Sternstunden des Heavy Metal. Was folgte war der erste Bruch in einer an Brüchen nicht besonders ärmlichen Karriere: Bassist und Hauptsongwriter Jason Newsted wechselt wenige Monate nach Veröffentlichung des Debuts zu Metallica, um dort den verstorbenen Cliff Burton zu ersetzen; gleichzeitig der Startschuss für ein instabiles Line-Up, dem besonders die Position des Bassisten für die nächsten Jahre einige Sorgen bereitet. Das Zweitwerk "No Place For Disgrace" aus dem Jahr 1988 lässt indes qualitativ keinerlei Rückschlüsse auf den internen Zustand der Band zu, denn sie zeigt sich kompositorisch nochmals gereift und feuert ihren brettharten, dank Wundersänger Eric A. Knutson auch überaus orginellen Speed Metal aus allen Rohren. Das Seil, um sich an den "...And Justice For All"-Erfolg der großen Vorreiter Metallica zu hängen ist nicht nur geknüpft, es ist bereits gespannt: der Major MCA nimmt die Flots unter Vertrag und schickt sie mit Produzent Alex Perialas ins Studio, um das wegweisende und so wichtige dritte Album aufzunehmen. "When The Storm Comes Down" ist dann der zweite Nackenschlag, der allerdings nachhaltigere Konsequenzen als Newsteds Abgang für die Truppe bereithält. Nach Aussage der Band ist es vermutlich das Mastering, das kolossal in die Hose geht: der Klang der Snare ist ein Anschlag auf den guten Geschmack, dazu ist sie im Gesamtsound unverschämt präsent, der Gitarrensound ist dagegen verwaschen und so crisp wie ein vier Tage altes Heringsalatbrötchen und Eric A. Knutsons Stimme lässt an manchen Stellen Köpfe und Stahltanks explodieren. Die Songs? "Orientierungslos" trifft es wohl am besten. Einiges ist tatsächlich ausnehmend gut ("Suffer The Madness"), aber der eigentliche Schaden war mit dem Sound des Albums angerichtet.
Damit endet auch die lange Einflugschneise zu "Cuatro". 1992 hatte der Grunge seinen vorübergehenden Siegeszug angetreten, und zusammen mit seinem schlecht muffelnden Bruder Alternative Rock sollte er den verbliebenen Metal Bands für einige Jahre das Leben schwer machen. Metallica wurden als vielleicht einzige "alte" Band von dieser musikalischen Kontinentaldrift verschont: sie feierten mit dem schwarzen Album den endgültigen Einzug in den Mainstream. Nimmt man alleine diese beiden Faktoren zur Hand, hat man eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie "Cuatro" klingt. Wie groß der Einfluss des Labels auf das vierte Studioalbum ausfiel, ist schwer zu sagen, wenngleich man sich wohl nicht allzu weit aus dem Fenster lehnt, wenn man angesichts der miesen Verkaufszahlen des Vorgängers und des veränderten musikalischen Klimas von der ein oder anderen Sondersitzung des Labels mit der Band ausgeht. Die Tage des Thrash Metals waren jedenfalls gezählt, und wo schon auf "When The Storm Comes Down" das Tempo deutlich gedrosselt wurde, regierte auf "Cuatro" endgültig das Midtempo, das nur von einigen kurzlebigen oppositonellen Revolutionen unterbrochen wurde. Aber es ist wie so oft viel zu kurzsichtig, eine Platte nur an ihrem Tempo zu bewerten, denn das strahlendste Element auf "Cuatro" sind die Gitarren- und Gesangsarrangements, beide bedeutend vielschichter und komplexer als in der Vergangenheit. Es sind in erster Linie die etwas zurückgezogeneren Tracks wie "The Message", "Cradle Me Now" und vor allem das fantastische "Wading Through The Darkness", die der komplexen und tiefen, an das zweite Mind Funk-Album erinnernden Gitarrenarbeit den erforderlichen Auslauf liefern, während Eric A.K. die verblüffend guten Hooklines zusammenknüpft und für Ohrwürmer en masse sorgt. Und auch wenn nicht jede Songidee den Weg in mein Herz findet, ist die Platte in ihrer Gesamtheit viel besser als ihr Ruf.
Ich stand immer sehr loyal zu Flotsam And Jetsam. Bis zum 1999er Album "Unnatural Selection" hatte ich jede ihrer Platten im Schrank stehen - erst danach verlies es mich. Wohl auch, weil die Band ab "Unnatural Selection" erstmalig ihr Mojo verlor. Die Platte klang so tragisch, so unvollständig, so sehr nach absteigendem Ast, nach aufgebrauchter Kraft. Dagegen halte ich die beiden Nachfolger von "Cuatro" - "Drift" aus dem Jahr 1995 und "High" (1997) - auch heute noch für gut- bis hochklassige Metalalben. Vor allem "Drift" hat einige ganz feine, kompakte, brilliant produzierte Hits, die im Gegensatz zu so manch anderer Scheibe aus dem Neunzigern auch überraschend gut gealtert sind. Womit wir beim Kern dessen sind, was ich mit dem ganzen Klimbim sagen möchte. Flotsam and Jetsam hatten in den Neunzigern ausgiebig mit jenen Betonköpfen zu kämpfen, die ihnen Ausverkauf und Anbiederung an den Zeitgeist vorwarfen. Im Vorfeld zu "Drift" wurde beispielsweise standhaft berichtet, die Band würde jetzt alternativen Rock spielen und sich an damals hippen Industrialelementen vergreifen. Und spätestens da war das Metal-Kind endgültig in den Glaubwürdigkeitsbrunnen gefallen. Die Truppe war schon nach den vieldiskutierten Alben drei und vier angeschlagen, nun war sie endgültig unten durch - und selbst der Labelwechsel in den Heimathafen Metal Blade zum 1997er "High"-Werk vermochte den Schaden nicht mehr gut zu machen. Seitdem krebsen Flotsam And Jetsam mehr schlecht als recht durch die Jahre, Platten und Clubs dieser Welt, verständlicherweise längst nicht mehr mit dem Feuer und der Eindringlichkeit früherer Jahre, dabei aber immer noch couragiert und leidenschaftlich. Und außerdem mit einem der besten, originellsten und kraftvollsten Sängern des Heavy Metal.
Ich muss das alles nicht mehr hören, aber ich verfolge ihre Karriere mindestens mit einem halben, aber dafür wachsamen Auge.
Erschienen auf MCA Records, 1992.