10.11.2012

Schlammcatchen



WARRIOR SOUL - STIFF MIDDLE FINGER


Meine Enttäuschung über den aktuellen Versuch Warrior Souls, die Musikwelt doch noch auf ihre Seite zu ziehen, fiele nicht so groß aus, hätte die Band nicht mit dem immer noch großartigen "Chinese Democracy"/"Destroy The War Machine" aus dem Jahr 2009 einen so überaus würdigen Nachfolger zum 1995er "Space Age Playboys"-Album veröffentlicht. Wir erinnern uns: 2008 gab niemand mehr einen Pfifferling auf Kory Clarke und seine zusammengepuzzelte Band und meine Erwartungshaltung war entsprechend im eiskalten Keller. "Chinese Democracy" war aber ein derart starkes, frisches, melodisch brilliantes und authentisches Werk, dass ich mich wirklich auf "Stiff Middle Finger" freute. Die ersten kurzen Soundschnipsel, die es ab Anfang Oktober bei Amazon zu hören gab, zerschmetterten allerdings selbst die leiseste Hoffnung auf einen ähnlichen Überraschungscoup. Die Realität in Form der kompletten Platte ist in ihrer Dramatik sogar noch bedauerlicher: dagegen klingt selbst die sagenumwobene "Chill Pill" Scheibe aus dem Jahr 1993 wie eine ausgefeilte Hi-End-Produktion aus der Schatzkiste der angesagtesten Produzenten des Rock'n'Rolls.

Ich kann zugegebenermaßen fast nichts zur Qualität der einzelnen Tracks sagen, weil mich der unterirdische Sound des Albums nicht mal zum Kern eines Songs durchdringen lässt. Der Amerikaner würde es wohl "hilarious" nennen, denn "Stiff Middle Finger" ist in Sachen Klang nicht mal mit einer Demoproduktion aus dem Jahr 1988 auf Augenhöhe, und ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass Musik im Jahr 2012 noch so klingen muss. Ich kann den Sound nicht mal angemessen beschreiben, weil mir ehrlich gesagt etwas die Worte fehlen: die Gitarren sind völlig totkomprimiert, dumpf und komplett unheavy, das Schlagzeug ist so spritzig wie eine drei Jahre alte Bio-Limette und auf Korys Gesang sind bisweilen undefinierbare Effekte geklatscht, die seine immer noch stark in Mitleidenschaft gezogene Stimme noch kaputter erscheinen lassen, als schon auf der gleichfalls miesen Liveplatte aus dem Jahr 2007. Vielleicht ist es aber auch ganz anders, ich kann hier echt nur spekulieren. Es ist eine große, dumpfe Schlammsoße.

Ich habe mich nun sicherlich bereits zehn Mal durch "Stiff Middle Finger" förmlich hindurchgekämpft und was ich zu den Songs sagen kann, ist nicht sehr schmeichelhaft, wenngleich ich die Kompositionen etwas in Schutz nehmen muss. Vielleicht sähe das mit einer wenigstens halbwegs anständigen Produktion gar nicht so übel aus, aber was sich die Band mit den wirklich miesen "Tear", "Planetary Revolution" oder der dreisten Selbstkopie "Junky Stripper" gedacht hat, ist mir beinahe unbegreiflich. Es macht einfach überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören.

Warrior Soul sind eine meiner fünf Lieblingsbands aller Zeiten und Kory Clarke ist trotz seiner zur Schau gestellten Selbstzerstörung vielleicht mein definitiver Held - ein hochintelligenter Kopf mit beneidenswerter Beobachtungsgabe, ein Stehaufmännchen, ein resoluter Kämpfer, der seinen Standpunkt jederzeit selbst gegen verflixt mächtige Widerstände verteidigt. Als ich ihn 2006 im Rahmen eines Interviews an meinem Telefon hörte, kullerte mir eine Träne über das Gesicht, und als ich die Band, selbst wenn sie schon längst nicht mehr im Original-Lineup existierte, im März 2009 in Essen erstmals auf der Bühne erleben durfte, ging mein vielleicht letzter großer musikalischer Traum in Erfüllung. Fast 20 Jahre wartete ich darauf, diese Songs endlich live zu hören und plötzlich war es soweit. Es war wie im Traum.

Vielleicht kann der ein oder andere nach diesen letzten Worten nachvollziehen, wie schwer es mir gefallen ist, die ersten drei Absätze zu tippen. Ich liebe Warrior Soul und ich kniee bei der anstehenden Tour wieder im tobenden Mob und gröle mir die Seele aus dem Leib. "Stiff Middle Finger" bleibt trotzdem - oder gerade deswegen - die Enttäuschung des Jahres.

Long Live Warrior Soul.

Erschienen auf Livewire, 2012.

04.11.2012

Die Hoffnung



CIVIL DEFIANCE - THE FISHERS FOR SOULS


Mit den sogenannten "vergessenen Perlen" verhält es sich immer ein wenig problematisch. Zum einen sind sie oftmals gar nicht so "vergessen" wie mancher Musikjournalist es immer gerne in eine Zeitschrift hineinschreibt, sondern aus gutem Grund in den Archiven von Vollnerds gelagert, die sich beim Gedankenaustausch mit anderen Vollnerds die Augen über die Genialität von Komplettschranz ausheulen. Zum anderen ist's nicht selten ein bloßes Abwichsen auf die vermeintliche Exklusivität des Schreibers/Hörers, der halt doch so gerne den längsten Pimmel im ganzen Land hätte. Ich bin in solchen Fällen eigentlich immer auf der Hut. Und bevor einer greint: ich habe auf diesem Blog sicherlich auch schon mal auf eine "vergessene Perle" hingewiesen. Glashaus, Geisterfahrer, alles total schlimm. *erektion*

"The Fishers For Souls", das Debutalbum der mittlerweile aufgelösten kalifornischen Band Civil Defiance, dürfte, wenigstens in Deutschland, dem ein oder anderen langjährigen Rock Hard Leser noch ein Begriff sein, weil der damalige Redakteur Wolfgang Schäfer in seiner Rezension nicht nur die seltene Höchstpunktzahl aus dem Rauschebart zog, sondern den Vierer zu "DER Hoffnung fürs nächste Jahrtausend" hochjazzte - ein Witz, über den 1996 nur die lachen konnten, die auch schon im Falle von Watchtower und Atheist auf die Erstürmung der US-Billboardcharts warteten. Civil Defiance zogen im Sommer 1997 im Vorprogramm der Progressive-Legende Psychotic Waltz durch Europa und beim Auftritt in der Offenbacher Hafenbahn ließ ich mich durch ihren kurzen aber guten Gig zum Kauf der Platte hinreißen. Und tatsächlich wurde "The Fishers For Souls" Ende der neunziger Jahre zu einem guten Freund von mir - und da konnte ich "Exklusivität" nicht mal buchstabieren. Die Platte erschien mir vor 15 Jahren als irrer Husarenritt durch die Musikgeschichte, von Chansons zum Grindcore, vom Jazz zum modernen Alternative Rock, von Genesis zu Machine Head und das war selbst zu einer Zeit, in der man im Zuge der Explosion des Alternative Rocks schon viel abgedrehten Kram und krude Kombinationen gehört hatte (Metal und Hip Hop, haha, wie abgefahren ist DAS denn?!?!!), schon ein klein wenig aufsehenserregend. Besonders die völlig wirren "Man On Fire" und mit Abstrichen "Dreams Die Fast" verdrehten uns Grünschnäbeln böse die Köpfe, dazu gab es aber mit dem Opener "Days Of Rain" und dem folgenden "Death To The Clown" relativ aufgeräumte Smasher, die mit satthartem Gitarrenriffing und einem unwiderstehlichen Groove zu gleichen Teilen modern und doch klassisch erschienen. "Faith" streift gar den mainstreamigen Indiegitarrenrock der Mittneunziger, während "A Dry White Season" und "Man In The Moon" zwei ungewöhnliche und großartige Balladen sind - alleine wegen des Mannes im Mond lohnt es sich nach meiner Einschätzung, die Handvoll Groschen für den Erwerb dieser Platte bereit zu halten. Hauptsongwriter, Sänger und Gitarrist Gerry Nestler hatte eine durchaus variable und ganz sicher originelle Stimme und konnte wie eine leicht heisere Version des Blind Melon Sängers Shannon Hoon und keine drei Wimpernschläge später wie der Frontmann einer Thrashcombo aus der Bay Area klingen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: ich rede hier nicht von der abgefahrensten Scheiße aller Zeiten und im Grunde bewegen wir uns immer noch im Rahmen des klassischen Rockkorsetts, aber, und das führt mich in Richtung des Schlussakkords, "The Fishers For Souls" ist bedeutend besser gealtert als so manch andere Mitt/Endneunziger Veröffentlichung, die über den damaligen Tellerrand der harten Musik hinausblicken wollte; an dieser Stelle sei ein schöner Gruß an die Buben von Faith No More erlaubt. Ich war jedenfalls kürzlich geradewegs überrascht, wie gut die straighten und ruhigen Songs der Platte immer noch funktionieren. Kann man selbst im Jahr 2012 noch ohne gröbere Verletzungen hören und goutieren. Das gilt übrigens ausdrücklich nicht für den Nachfolger "Circus Of Fear", aber das ist eine andere Geschichte.

Erschienen auf Dream Circle, 1996.

28.10.2012

Propaganda

"Ja, wenn einer mal sich in einen Gedanken förmlich hineinverrennt, dann ist er ja wie vernagelt!" (G.Polt)


Ich könnte mich wegen dieses nun folgenden Artikels zur Präventivbestrafung praktisch stundenlang auf ein Fahrrad ohne Sattel setzen, und ich möchte außerdem vehement darauf hinweisen, dass ich reflektiert genug bin, um alleine den Gedanken an eine Bearbeitung meinerseits im Rahmen eines Blogartikels als vollverblödeten Quadratquatsch abzustrafen. Andererseits sind wir alle viel zu schnell mit Bewertungen bei der Hand und im schnellen Internetdiskurs zählt neben der Lautstärke auch die Provokation und eben die Geschwindigkeit zum Kriterienkatalog der Kommentatoren, der Blogger und der Journalisten. In diesem Zusammenhang stieß ich also kürzlich auf die Seite Scienceblogs.de und auf den dort hinterlegten Artikel "Homöopathen ohne Grenzen helfen jetzt AIDS zu heilen". Mein Lieblingsabsatz geht übrigens so:

"Da mag ich nicht mehr viele Worte verlieren. Das ist einfach nur noch kriminell. Und daher will ich auch nur noch fragen, WIE man am besten vorgeht, wo man am besten hinschreibt, um das zu stoppen, und nicht mehr OB man das sollte. Und warum ein solch menschenverachtender Verein gemeinnützig sein darf. Vorschläge?
Die Kommentare hierzu dienen ausschließlich der Diskussion dieser Frage. Andere Kommentare und Antworten auf andere Kommentare, vor allem welche die Homöopathie oder diesen verein verteidigen, werden gelöscht, genauso wie solche die diese Regeln diskutieren."


Man fragt sich, von welcher Konsistenz der Schaum vor dem Mund sein muss.

Nun habe ich mit der Homöopathie und vergleichbaren alternativmedizinischen Ansätzen seit über zwanzig Jahren meine Erfahrungen gemacht - manche verliefen positiv, manche negativ, einige andere bleiben in der Nachbetrachtung indifferent. In meiner aktiven Sportlerzeit als Roll- und Eiskunstläufer war ich in manchen Monaten Kunde des Monats bei meiner damaligen Heilpraktikerin, die es nicht selten schaffte, mich innerhalb von ein, zwei Tagen von sturzverursachten Schmerzen zu befreien oder meine beinahe chronischen Knieprobleme in den Griff zu bekommen. Es gab aber auch Momente, in denen sich trotz einer Behandlung einfach gar nichts tat. So ist's halt mit diesem Wunderwerk Körper: mal will er, mal will er nicht, das muss man hin und wieder entspannt sehen und einordnen. Mein Körper wollte im Jahr 2000 offensichtlich nicht mehr und züchtete mir eine schöne Tumorerkrankung heran, und mir war von Anfang an klar, dass ich mehr als nur eine Möglichkeit der Behandlung in Erwägung ziehen werde, was meine Ärzte allesamt natürlich total prima fanden. Die zogen in den nächsten Jahren - der ganze Kladderadatsch zog sich bis Ende 2002 hin - alle Register: Einschüchterungen, Beschimpfungen, Bedrohungen und irgendwann saß auch mal ein Psychiater an meinem Krankenbett und hatte die Aufgabe, meine "Geschäftstüchtigkeit" zu überprüfen. Die Betreiber des Scienceblogs dürften spätestens jetzt Hirnkonfetti schmeißen und "Richtig so!" ausrufen, aber ich muss sie in zweierlei Hinsicht enttäuschen: weder war und/oder bin ich verrückt, durchgeknallt und gefährlich und wurde also zwangstherapiert, noch habe ich mich eingemauert und die schulmedizinische Behandlung abgelehnt - zugegebenermaßen hat die Entscheidung hierfür einige Zeit in Anspruch genommen und es lief auch alles nicht ohne Schmerzen, Verluste und seelische Narben ab, aber auf was ich hinaus will: es spricht gar nichts dagegen, die Emotionalität, mit der die Diskussionen geführt werden, mit dem ein oder anderen Meter Abstand zu betrachten und die Brandstifter und Hetzer da stehen zu lassen, wo sie hingehören: in der Ecke, im Sumpf, im Abseits. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich die letztgenannte Gruppe in dramatischer Mehrheit aus der Gruppe der Schulmediziner rekrutierte, aber das möchte ich als persönliche Erfahrung und nicht als Pauschalisierung verstanden wissen. Ausgenommen sind Urologen, zu denen fällt mir tatsächlich wenig ein, was nicht rechtlich relevant sein könnte.

Die Gründe für diesen skizzierten Umstand sind vielfältig und worüber manch kluger Kopf ganze Bücher geschrieben hat, kann ein Hobbyblogger mit Hobbygedanken natürlich nicht in zwanzig Zeilen erläutern. Will ich auch gar nicht. Was angesichts des oben verlinkten Artikels allerdings auffällt und mich zur Raserei bringt, ist die totale Einseitigkeit, die zu keiner Sekunde die Strukturen der eigenen Welt hinterfragt, der Duktus, der in seiner Betriebsblindheit und mit seinem Vokabular gleichfalls von religiösen Fundamentalisten oder den Minderbemittelten von Politically Incorrect stammen könnte, die unerträgliche Bevormundung, das Infragestellen der freien Behandlungswahl und des freien Willens. Niemand hinterfragt die kriminellen Praktiken der Pharmaindustrie, niemand hinterfragt die allgegenwärtige Korruption, die wirtschaftliche Antriebsfeder, niemand hinterfragt die Kollateralschäden der Schulmedizin. Wenn im Wikipediaeintrag zur Homöopathie unter dem Absatz "Risiken der Homöopathie" geschrieben steht:

"2005 starb, ebenfalls in Australien, eine 45-jährige Frau an den Folgen einer Darmkrebserkrankung, die auch ausschließlich homöopathisch behandelt wurde."

dann muss das doch als im besten Fall tendenziös, im weniger guten Fall als kriminelle Propaganda und quatschdumme Irreführung bezeichnet werden, oder darf derselbe Artikel gleichfalls auf die schulmedizinischen Krebsopfer Bezug nehmen, die trotz, oder schlimmer noch: wegen der schulmedizinischen Behandlung verstarben? Ach so, die gibt es ja gar nicht. In unseren Krankenhäusern fließt Milch und Honig. Wie konnte ich es nur vergessen.

Es ist letzten Endes ein auf Angst und Panik aufgebauter Mechanismus, der um jeden Preis die eigenen Pfründe sichern und die Zentrierung auf das Ego und die damit einhergehenden Allmachtphantasien von so manchem Arzt und der Hände, die ihn füttern, am Leben erhalten muss. Das ist das Fundament, auf deren Basis die Argumentation geführt werden muss und nicht etwa auf der zynischen Betonung, es ginge um Recht, Wissenschaft und Menschenleben. Die Deutungshoheit liegt immer dort, wo das Geld wächst.

Meine Ärztin ist übrigens Allgemeinmedizinerin mit homöopathischer Zusatzausbildung. Sie nimmt sich das beste aus beiden Welten und hat es nicht nötig, die Angstmaschine auf Touren zu bringen. Genau deshalb hat sich mich in ihrer Patientenkartei.

Nachtrag um 21:30 Uhr: Meine liebgemeinte Nachfrage, ob die Netiquette des Blogs hinsichtlich der Propagandaregelung ("Jede Form von Propaganda (...) führt zur umgehenden Löschung des Kommentars und zur Sperrung des Accounts.") denn nicht auf Autoren der Seite zuträfe, wurde leider nicht beantwortet. Mein Kommentar wurde kommentarlos gelöscht. Die Jungs haben eine seltsame Auffassung von Kommunikation, freier Meinungsäußerung und Diskussion.

Tout Nouveau Tout Beau (6)


FLYING LOTUS -UNTIL THE QUIET COMES

Zugegeben: schon die drei vorangegangenen Alben des Kaliforniers Steven Ellison brachten mich ob ihrer musikalisch geschnitzten Falltüren und aufgestellten Beat-Bärenfallen in so manche Erklärungsnot - was übrigens hier und hier nachzulesen ist. "Cosmogramma" aus dem Jahr 2010 bekam den "Space Opera"-Sticker aufgeklebt, mit dessen Hilfe so mancher die komplette Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Musik ganz gut überspielen und -schreiben konnte. Aber unabhängig von der Frage, ob die Musik von Flying Lotus an der ein oder anderen Stelle nicht vielleicht ein ganz kleines bisschen, nasagenwirmal: überambitioniert bewertet wird, ist "Cosmogramma" für mich, auch wenn ich es selten aufgelegt habe, ein großes Gesamtkunstwerk, eine irre Achterbahnfahrt durch 60 Jahre Musikgeschichte, elektronischer Free Jazz, spiritueller Post-Funk für eine Zeit, die wir alle nicht mehr erleben werden. Talking about "überambitionierte Bewertung".

"Until The Quiet Comes" stellt mich vor bedeutend größere Probleme, weil hier einerseits ein spiritueller, meinetwegen ideologischer, Überbau fehlt, der die Sache mit dem Verständnis (wenigstens für mich) vereinfachen könnte. Andererseits werkelt Ellison immer noch in der großen Kiste aus Sounds, Beats, Strukturen, Ideen, Varianten und Farben, dieses Mal aber deutlich entspannter und nokturner als in der Vergangenheit. Die Tunes sind zurückgezogener als auf dem Durchbruchsalbum "Los Angeles", sie wirken noch detaillierter und tiefer als die Schwestern und Brüder auf "Cosmogramma" - und wenn ich es mir recht überlege, ist das ein durchaus mutiger Schritt: Ellison rückt das grelle Blinken und Zischeln, den Krach, den Irrsinn in den Hintergrund, um möglicherweise erstmals den Blick auf das Wesentliche zu werfen. Ellisons Gespür für die akurate Darstellung hochkomplexer Momentaufnahmen seines Musikuniversums wurde vielleicht noch nie so glasklar auf eine schwarze Plastikscheibe gepresst, wie auf "Until The Quiet Comes". Paradoxerweise bedeutet das für mich bislang Kapitulation. Ich befürchte, dass ich diesen Brocken noch lange nicht verstanden habe. Und ich zweifle seit einigen Tagen, ob es mir jemals gelingen wird. Halten wir's mit den ollen Rochen von Asia: only time will tell.

Hoppala, das wichtigste hätte ich um ein Haar vergessen: wenn ich noch einmal die Rezension der Spex zu dieser Platte lesen muss, pisse ich mich ein. Schönen guten Abend.

Erschienen auf Warp Records, 2012.





HOLY OTHER - HELD

Die Debut-EP "With U" war eine der Sternstunden des Jahres 2011, und es ist geradeheraus ein Skandal mittelstrahligem Ausmaßes, dass ich bis heute noch kein Wort darüber verloren habe. Heute, im Oktober 2012, ist es angesichts des mittlerweile veröffentlichten ersten vollständigen Albums des britischen Produzenten auch schon eine Nussecke zu spät, aber dann soll nun wenigstens ebenjenes "Held" eine Handvoll Lob einfahren. Das Tri Angle Label dürfte meinen zweikommavierneun Lesern indes bekannt sein, denn immerhin fand Balam Acabs Debut den Weg in meine Jahresbestenliste 2011: Tri Angle wird in einschlägigen Kreisen seit der Musik von oOoOO, dem erwähnten Balam Acab oder auch Clams Casino als der heißeste Scheiß der neuen Elektronik gefeiert, was insofern verwundert, weil der ganze Beatsalat auf das erste Hören neu- und fremdartig erscheinen mag, er es sich aber Dank des flott einsetzenden Gewöhnungseffekts mittlerweile in der Sackgasse namens "Burial" gemütlich gemacht hat und dort langsam vor sich hinwelkt. "Held" leidet zu Beginn etwas an dieser Entwicklung, vor allem, weil sich "With U" zu dolle über die Gnade der frühen Geburt freuen darf. Was 2011 neu und aufregend war, ist 2012 eben weniger neu und weniger aufregend. Folglich bietet "Held" schlicht die Weiterführung des auf "With U" bereits ausgerollten Konzepts: dunkel verästelte Beats pumpen zwischen weiten Synthieflächen und verhallten Sprachfetzen das Blut der Finsternis durch brüchige Strukturen und opulente Arrangements, die trotz der Fülle an Winkeln und Schauplätzen nie überladen, sondern durchaus fokussiert und straff wirken.

"Held" ist zwar keine Überraschung mehr, aber wer einen Nachschlag zu "With U" braucht, wird hier bestens versorgt. Wenn es in diesem Stil aber weitergeht, bin ich bei der nächsten Scheibe raus. Was wir alle überleben werden, schätze ich.

Erschienen auf Tri Angle, 2012.





MONOPHONICS / DESTRUMENTS - LIKE YESTERDAY / FREEDOM

Das Konzert der Monophonics in Frankfurt wurde aufgrund des miesen Vorverkaufs ersatzlos gestrichen, was mich doppelt ärgert. Erstens grenzt es beinahe an ein Wunder, dass die Kalifornier bereits ein paar Monate nach Veröffentlichung des Debuts überhaupt eine Headlinertournee durch Europa durchziehen, und ich glaube nicht, dass die Band so schnell nochmal in die alte Welt übersetzen wird. Zweitens sah ich die Monophonics vor wenigen Wochen im Rahmen eines US-amerikanischen Festivals in dessen Livestream und war begeistert von ihrer Präsenz und ihrem Soul. Ein großes Ensemble mit fantastischen Musikern, die die Tracks des Debuts "In Your Brain" ausgesprochen lebendig und kraftvoll interpretierten. Das wäre sicherlich ein großartiger Abend im Frankfurter Zoom geworden. Es sollte aber nicht sein, weshalb ich aus Trotz die neu erschienene Splitsingle mit den Destruments einkaufen musste. Ein kleines, simples und doch authentisches Juwel aus Soul und Funk, das sich die Plattenladengräber sicherlich schon gesichert haben. Vielleicht wird man sich in 20, 30 Jahren an die Monophonics erinnern und "Mensch, das war auch eine arschcoole Band!" sagen. Meine anfängliche Reserviertheit bezüglich des Albums hat sich jedenfalls und mittlerweile fast in Luft aufgelöst. Ein echter Grower. Weitermachen, bitte. Und irgendwann mit den fantastischen Orgone nochmal auf Europatournee kommen. 

Erschienen auf Colemine, 2012.



03.10.2012

Von Autos und Menschen

Einen ganz wunderbaren Artikel habe ich gestern Nacht im Blog der Tageszeitung entdeckt, und ich möchte an dieser Stelle gerne darauf hinweisen.

Der Autor Karim El-Gawhary lebt in Kairo und schreibt in seiner Kolumne "Arabesken" über das Leben im Nahen Osten. In diesem speziellen Fall berichtet er über sein Erlebnis, als er mit seinem Auto im Halbschlaf ein anderen Auto beim Ausparken schrammte und wie sich der Dialog zwischen dem Geschädigten und dem Täter in der Folge weiterentwickelte.

Es ist nicht ausschließlich dieser Text, der wieder etwas Hoffnung in mir keimen lässt, dass die Welt eben doch nicht dieser kalte, hasszerfressene Ort ist, den ich manchmal am liebsten in rosafarbenen Watteplüsch einmümmeln würde. Es sind auch die vier Kommentare, in denen die Leser ihre Erlebnisse mit dem Kairo'schen Verkehrsgewusel erzählen, die ähnlich viel Herzlichkeit und Offenheit ausstrahlen, wie der Haupttext.

Ich find's jedenfalls total super.

“Wer anderen Autos eine Schramme zufügt”. Eine Liebeserklärung an Kairo

26.09.2012

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MARILLION - SOUNDS THAT CAN'T BE MADE

Mit einem Fazit die Plattenbesprechung beginnen? Was bei der Belegschaft des einmalig behämmerten Musikexpress ein neuntägiges Martyrium nach sich zöge, dass also Friede "Schwarze Witwe" Springer höchstpersönlich den derart geächteten Redakteuren die gesammelten Kolumnen von Franz-Josef Wagner vorliest, nackt, ist mir als Hobby-Schmierfink schlicht schnurzpiep: "Sounds That Can't Be Made" ist kein weiterer Meilenstein im Universum von Marillion. Ebensowenig ist es die beste Platte seit dem 2004 Magnum Opus "Marbles". Das siebzehnte Studioalbum reiht sich bislang irgendwo zwischen dem Trio "Somewhere Else", "Marillion.Com" und "This Strange Engine" ein - was okay, ist, es könnte schließlich schlimmer kommen. Dummerweise aber eben auch ein ganzes Eckchen besser.

Mittlerweile kennt man das Spiel. Im Vorfeld einer jeden neuen Veröffentlichung der britischen Proglegende wirft die eingeschworene Fangemeinde mit Superlativen um sich, aus dem Inner Circle des Fanclubs hört man nichts als die Ankündigung, man habe bisher total aussagekräftige, repräsentative und knapp dreieinhalb Sekunden lange Schnipsel einer Proberaumaufnahme aus dem Herbst 2010 gehört und könne es nicht glauben, wie sich Marillion immer wieder selbst übertreffen und also mal wieder das stärkste Album ihrer gesamten Karriere und des Universums geschrieben haben. Der Luft, Liebe, Lümmeltüte-Schnarzkopp, der diese Zeilen hier gerade einpflegt, fällt jedenfalls in unschöner Regelmäßigkeit auf diese Form des Marketings herein. Im Falle von "Sounds That Can't Be Made" war die Vorfreude aufgrund des bevorstehenden Herbstes sogar noch ein bisschen größer. Melancholische Sonntagnachmittage mit einer Kanne Jasmintee, der Badewanne oder der Couch und der neuen Marillion zu verbringen, erschien mir als durchaus erstrebenswerte Option. Und "Power", ein Stück, das vor der Veröffentlichung des Albums als Appetithäppchen gereicht wurde, machte auch einen guten Eindruck. Nicht zuletzt schwärmt selbst die Band im Video-Trailer in den höchsten Tönen von ihrem Werk.

Also Hogi-Baby! Gib's mir! Gib's mir richtig!

Das Problem mit diesen euphorischen Vorabreaktionen ist offensichtlich: die Erwartungen wachsen nicht nur in den Himmel, wenigstens meine Wenigkeit hofft spätestens nach dem zehnten ekstatischen Jubelschrei auf nichts weniger als auf den Soundtrack zu einer Supernova. Als sich "Sounds That Can't Be Made" dann die ersten Male im Player drehte und die gewünschte Supernova eher einem Kühlschranklicht ähnelte, breitete sich zunächst Ernüchterung und Enttäuschung aus. Das mit allerlei Vorschusslorbeeren verzierte Eröffnungsstück "Gaza", ein über siebzehnminütiger Prog-Schinken, wirkt auch nach dem zehnten Durchlauf immer noch reichlich unfertig, als sei er mit einem Notenenzym behandelt worden, das die einzelnen Songteile wie durch Magie über Nacht in eine komplett zusammenhängende Mini-Oper verklebt hat, ohne jedoch allzu viel Wert auf Struktur, Kontinuität und Dramaturgie zu legen. Und egal, wie intensiv ich "Gaza" bislang hörte: spätestens wenn der Fünfer zum Grande Finale ansetzt, ist die Erinnerung an die ersten 12, 13 Minuten passé - das ist irgendwie kein gutes Zeichen. Ich bin darüber hinaus auch nicht mit der Produktion einverstanden, die besonders gegen Ende des Songs viel zu dick aufträgt und das Gitarrensolo von Steve Rothery unter zähflüssigem und viel zu laut aufgedrehtem Klangballast förmlich erdrückt. Abschließend noch ein Satz zum Text: ich kenne Menschen, die "Gaza" kristallklar als antisemitisch bewerten würden. Ob in diesen Fällen noch Glühdrähte im Oberstübchen müde vor sich hinglimmen oder schon zappendustere Nacht herrscht, ist wieder eine andere Diskussion; ob Hogarth sich mit seiner zwar legitimen, aber blinden Verkürzung einer derart komplexen, verästelten, unüberschaubaren und von unzähligen Faktoren beeinflussten Situation einen Gefallen getan hat, allerdings auch. Ich persönlich stehe ja eher dem Gedanken nahe, dass man die Klappe halten sollte, wenn man einem solch vielschichtigen Thema nichts anderes hinzufügen kann als ein "We all want peace and freedom" und ein "It just ain't right.". Andererseits: dem Publikum der Band, das im
Normalfall so politisch ist wie die Nummer 51 vom Asiaten um die Ecke (Gebackene Banane mit Honig und Mandeln), dürfte es darüber hinaus wohl sowieso egal sein. Mir verhagelt so manche lyrische Banalität eher den Spaß an der Auseinandersetzung mit der Musik. Und wo wir gerade bei lyrischen Banalitäten sind: ruhig mal "Montreal" und "Lucky Man" anhören. Oder auch nicht.

Musikalisch betrachtet gibt es auf "Sounds That Can't Be Made" wenige Überraschungen, qualitativ erfreulicherweise aber auch keinen wirklichen Ausfall, auch wenn der bluesige Trivialschunkler "Lucky Man" schon wenigstens mal die Falltür ins Nichts schnitzt. Etwas ratlos stehe ich aktuell noch "Pour My Love" und "Invisible Ink" gegenüber. Während der erstgenannte Song eine watteweiche Popnummer für die Ü50-Fraktion mit dem Tiefgang eines Tretboots ist, die trotz solcher Unzulänglichkeiten nicht uncharmant ist und mir sogar ganz gut gefällt, ist "Invisible Ink" ein reichlich unspektakulärer Eintagsfliegensong, der schneller von meinem Radar verschwunden ist, als die ersten Minuten von "Gaza". Der Titeltrack, das bereits erwähnte "Power" und der Abschluss mit "The Sky Above The Rain" sind allesamt gute bis sehr gute Marillion-Songs, mit denen man ganz hervorragend leben/in die Badewanne kann.

Vieles des eben ausgeführten klingt nun sehr böse und ungut, und ich will das hier nicht als Verriss verstanden wissen. "Sounds That Can't Be Made" ist ein gutes Album und scheitert, wie oben bereits angedeutet, in erster Linie an meiner eigenen Erwartungshaltung, wofür die Band schließlich nichts kann. Allerdings, und das gibt mir durchaus zu denken, habe ich bislang nur wenige Momente ausgemacht, in die ich mich wirklich unbeschwert reinplumpsen lassen kann, als wäre ich gerade im 45°C warmen Pipibecken des hiesigen Thermalbads. Marillion bleiben bis auf wenige Momente an der Oberfläche dessen, was sie für gewöhnlich zu Leisten imstande sind. Dem Intensitätsniveau von Meisterwerken wie "Neverland", "Quartz", Interior Lulu", "Afraid Of Sunlight", "King", "When I Meet God", "Somewhere Else" oder "A Voice From The Past" kann vorerst kein Stück auf "Sounds That Can't Be Made" das Wasser reichen. Wir sprechen uns allerdings nochmal, wenn ich mich um meine Jahresbestenliste kümmere - das kann irgendwie noch nicht alles gewesen sein.

Erschienen auf Intact Recordings/Edel, 2012.

23.09.2012

Wenn der IQ nur knapp über der Körpertemperatur liegt

Der übersichtlich talentierte Schauspielerdarsteller Til Schweiger hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefurzt:




Hagen Rether macht das Fenster auf:




Präventiv und vorab die Gegendarstellung:
Am 23.9.2012 schrieb der sehr gute Weblog 3,40qm (zu erreichen unter dreikommaviernull.blogspot.com), der übersichtlich talentierte Schauspielerdarsteller Til Schweiger habe im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefurzt. Wir stellen hierzu fest: der übersichtlich talentierte Schauspielerdarsteller Til Schweiger hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht gefurzt.


Sea Shepherd


Ich habe mich in den vergangenen Tagen ausführlich mit der Arbeit von Sea Shepherd beschäftigt, eine 1977 von Paul Watson gegründete Umweltschutzorganisation, die sich den Schutz der Meere zum Auftrag gemacht hat und immer wieder mit spektakulären Aktionen gegen Walfänger aufhorchen lässt. So zählt beispielsweise das Versenken von bislang zehn Walfangschiffen zu den größten Erfolgen Sea Shepherds. Darüber hinaus zwang die Organisation sowohl im Jahr 2011, als auch im Jahr 2012 die japanische Regierung dazu, den Walfang in der Antarktis vorzeitig abzubrechen. Ich habe mittlerweile einen ganzen Batzen Respekt für diese Arbeit entwickelt.

Der Über den Twitteraccount der Organisation erfuhr ich, dass gegenwärtig im japanischen Taji das alljährliche Abschlachten von Delfinen und Polarwalen staffindet. Sea Shepherd ist mit einem Schiff aus der eigenen Flotte vor Ort und berichtete in den letzten Tagen und Wochen minutiös von den Vorgängen, oftmals auch mit entsprechender Unterfütterung mittels Bildern und Videos.

Ich kann und will das nicht weiter kommentieren, möchte allerdings schnell hinzufügen, dass diese Art der Berichterstattung mir dabei geholfen hat, ein Bewusstsein für diese Vorgänge zu schaffen und meine Wahrnehmung zu fokussieren. Ich möchte deshalb heute auf die "What Can You Do?"-Seite von Sea Shepherd verlinken. Mir ist das gerade sehr wichtig.

Macht damit, was ihr wollt.

Ach ja, eines noch: diese Traditions- und Kulturscheiße kann mich mal. Kreuzweise. 


Kleiner Hinweis am Rande: Im aktuellen Kochen Ohne Knochen gibt es ein Interview mit Paul Watson zu lesen. (Zur PDF Ausgabe geht's hier lang)

21.09.2012

Sorgenbrecher



DANNY PAUL GRODY - IN SEARCH OF LIGHT


Felix von Repetition/Distract empfahl mir diese Platte mit den Worten "macht alle Sorgen weg", und mit solchen Aussichten hat man mich praktisch immer am Haken. Und tatsächlich, "In Search Of Light" sollte vor jedem Start in jeden Tag mit einer Tasse des Heißgetränks Deiner Wahl genossen, ja geradeheraus aufgesaugt werden, bevor man sich hinaus in die Kälte begibt, die emotionale, in erster Linie. Als präventiver Schutzpanzer gegen alles Unheil, gegen die Furcht, gegen die Dunkelheit. Dabei ist der Titel ist leicht irreführend. Ich bin mir sehr sicher, dass Grody das Licht entweder schon lange gefunden, oder es wenigstens für diese Aufnahme eingefangen hat.

Die Kraft, die diese kleine Platte entwickelt, überrumpelt mich jedes Mal, wenn ich mich dazu entschließe, dass jetzt die Zeit für eine Licht- und Lebensdosis gekommen ist. Der Einstieg "Hello From Everywhere" hat sich mittlerweile sogar zu einem positiven Trigger entwickelt, zu einer internen Lautsprecherdurchsage an mich selbst:"Alles ist gut. Genieße das Licht. Es geht Dir gut. Wo ist Dein Kaffee?"

Der Gitarrist der US-Postrocklegende Tarentel und der im vergangenen Jahr an dieser Stelle vorgestellten Allstartruppe Moholy-Nagy sitzt mit einer akustischen Gitarre und einem Fitzelchen Elektronik, das aus einem Synthesizer herausschwappt, vor einem Mikrofon, das offensichtlich nicht nur Töne in kristallklarer Qualität aufnimmt, so rein und pur und tief mich die Schwingungen der Gitarrensaiten treffen. Ich sitze hier, es ist Mitternacht, und der Tag verschwindet lautlos in der Erinnerung. Er wird nicht zurückkommen. Nichts kommt jemals wieder zurück. Keine Zeit, kein Gefühl, kein Tod.

"In Search Of Light" umarmt und füllt die Lücken des Lebens mit Bewusstsein auf. Ein leiser, aber mächtiger Lebenskämpfer.

Erschienen auf Students Of Decay, 2011.

16.09.2012

Meer und Kuchen, revisited


Es ist ein freundlicher Sonntagmittag in Wiesbaden und folgerichtig dreht sich zum freundlichen Post-Breakfast-Kaffee die gleichfalls freundliche neue Platte von The Sea And Cake auf dem Plattenteller.

Bevor ich in den kommenden Tagen etwas weiter aushole und eine Handvoll Zeilen über das Werk fallen lasse, habe ich eben entdeckt, dass Drowned In Sound einen vollständigen Albumstream von "Runners" anbieten. Den gilt es nun mit Euch, meinen allerliebsten Lieblingslesern, zu Teilen.

Tasse Kaffee aufbrühen, Fenster auf, Liebe an.

ALBUMSTREAM // THE SEA AND CAKE - RUNNERS 

15.09.2012

Bizarre Tribe


AMERIGO GAZAWAY - BIZARRE TRIBE: A QUEST TO THE PHARCYDE


Nach dem Vorbild des im letzten Jahr erschienenen FELA SOUL-Albums haben Amerigo Gazaway und Gummy Soul ein neues Mix-Album veröffentlicht und sich diesmal A Tribe Called Quest vorgeknöpft. "Bizarre Tribe: A Quest To The Pharcyde" scheint dabei ähnlich stark ausgefallen zu sein wie der De La Soul Mash-Up und kann gleichfalls kostenlos unter dem unten angegebenen Link runtergeladen werden. 

Join Gummy Soul's Amerigo Gazaway as he embarks on a 55 minute "Quest to The Pharcyde". Utilizing the original Jazz, Soul and Funk recordings sampled throughout A Tribe Called Quest’s extensive catalogue, Gazaway recreates classic productions – pairing his reinterpreted instrumentals with select vocals from West Coast “golden era” favorites, The Pharcyde.







12.09.2012

Henry and June



JUNE OF 44 - TROPICS AND MERIDIANS

Es ist wie fünfunddreißig Jahre altes Gebäck, wie von Würmern, Käfern und Raupen durchbohrtes Holz, wie frisch gefallener Schnee, wie naive Malerei in Grau. Wer die Schritte leise zelebriert und die Pinselstriche verfolgt, der hört das Knarzen und das Kratzen. Das tumbe Ächzen unter dem Druck der eigenen Existenz im Angesicht der öden Leere, zerfasert und spröde, brechend und spleißend. Ein Königreich für mehr Luft und mehr Raum.

Der Horizont ist einen ganzen Sommer entfernt, ein ganzes Leben gar, aber wenn das Selbst am Boden liegt und das dünn glimmende Feuer von Tristesse und Trauer ausgespuckt wird, schlüpfen wir lieber in die kugelsichere Seifenblase, die nie zerplatzen wird. Sie ist beinahe visionär, wie sie so im Zeitmaschinen-Ping-Pong hin- und hergeprügelt wird, zwischen der vergilbten Druckerschwärze geistiger Verunreinigung und der Lichtgeschwindigkeit vom kalten Rauch populärer Nebelkerzen. Wer hätte sich das je träumen lassen? Der Rückblick in das Chaos als Manifestation von Licht und Struktur. Und dann sieht man sich wieder unvermittelt im gleißenden Schein der Ultramoderne die eigenen, hilflosen Runden drehen. Alles vergessen, alles ersticken und alles begraben, bevor es wieder von vorne beginnen kann. Karma Extraordinaire.

Die freundlichen und sonnigen Zeiten, sie gibt es. Sie erscheinen wie Episoden, wie Kurzfilme: die Harmonie umspielt den Geist, die Augen sind halb geöffnet und eine sanfte Brise kühlt die sonnenwarme Haut. Es duftet nach nach Sonne und Frieden. Wir halten uns im Arm und sind eins. Am besten Tag unseres Lebens. Der Horizont ist ein ganzes Leben entfernt, einen ganzen Sommer, eine große Liebe.

Wir haben keine Chance. Es brodelt. Und es stürmt.



Erschienen auf Quarterstick Records, 1996.

09.09.2012

It's Like I'm A Fucking Fuse



PROPAGANDHI - FAILED STATES

Eine Minute und fünf Sekunden benötigen Propagandhi auf ihrem sechsten Studioalbum, um praktisch ein ganzes Genre an die Wand zu spielen. "Status Update", bereits im letzten Jahr und damals noch ohne Titel als Proberaumaufnahme bei Youtube aufgetaucht, ist nun, mit entsprechender Produktion im Rücken, der Moment auf "Failed States", der Berge versetzt und Welten zusammenbrechen lässt. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wirbelt das Quartett filigran wie ein Diamantenbohrer durch 65 Sekunden brennender, glühender Intensität. Diese Gitarrenriffs könnten mit links der Feder von den großen Gitarrenduos des Thrash Metals entsprungen sein. Und wo wir gerade über den Thrash Metal plaudern: der begegnet einem auf "Failed States" mehr als nur einmal. In "Cognitive Suicide" haben die erklärten Fans von Bands wie Voivod, Hirax oder Sacrifice sogar ein Slayer Gedächtnissolo untergebracht.

Die restlichen gut 37 Minuten sind gleichfalls dafür verantwortlich, dass ich seit Tagen nur wenig andere Musik zu hören bekomme. Die Band aus dem kanadischen Winnipeg scheint es - entgegen meiner pessimistischen Befürchtung - tatsächlich geschafft zu haben, den Vorgänger "Supporting Caste" zu übertreffen. Nur das bisherige Fehlen eines Überhits wie "Dear Coaches Corner" hält mich im Moment noch davon ab, es laut in die Netzwelt hinaus zu rufen - allerdings befindet sich der Rausschmeißer "Duplicate Keys Icaro (An Interim Report)" gerade auf dem besten Weg, diesen Minimalmakel zu beheben. "Failed States" geht hinsichtlich der Variabilität, der Musikalität und Virtuosität gleich mehrere Schritte weiter. Durch diese verzwickten Arrangements und komplexen Songstrukturen mit ihren wieselflinken, irrwitzigen Breaks muss man sich erstmal durchtanken. Im ungewöhnlich gewählten Opener "Note To Self" sind sogar kleine Postrock-Lichtblitze zu hören, die in einen an New Model Army erinnernden Spannungsbogen eingepasst wurden. Es ist im weiteren Verlauf vor allem die Liebe zum Detail, die so mitreißend und begeisternd ist, dass ich mich nicht selten beim hemmungslosen Air-Drumming und Staubsaugerrohr-Gitarrespielen ertappe. Mit heruntergelassenen Hosen, versteht sich.

Propagandhi haben mittlerweile in meiner Hall Of Fame eine ziemlich breite Ecke besetzt, und das liegt freilich nicht nur an ihrer Musik. Ihre Hin-und Verweise in den Linernotes der letzten beiden Alben, ihre Texte und die Artworks haben mich nach langen Jahren des Zweifelns, in denen mich das schlechte Gewissen beinahe selbst auffraß, für eine vegetarische Ernährung schlussendlich so sensibiliert, dass ich zum Jahresende 2009 endlich den Schritt machen konnte und nun, drei Jahre später, im Begriff bin, mich vegan zu ernähren. Neben den zumeist hochpolitischen, visionären und philosophischen Texten ihrer Songs, engagieren sich die Bandmitglieder ehrenamtlich in sozialen Projekten, unterstützen mit Preisgeldern und speziellen Verkaufsaktionen Non-profit-Organisationen, achten bei der Herstellung ihres Merchandise auf die Verarbeitung von fair gehandelter Bio-Baumwolle und haben auf dem Backcover des neues Albums die vier Grundpfeiler ihrer ideologischen Ausrichtung abgedruckt: animal friendly, anti-fascist, gay positive, pro-feminist - der bandgewordene Albtraum von so manch echtem Mann/Punkrocker/Metaller/Schwachstromelektriker.

Für mich sind Propagandhi echte Vorbilder und eine auf sehr vielen Ebenen ungeheuer inspirierende Band. Auch wenn es sagenhaft uncool ist, sowas zu schreiben, mit Mitte 30 zumal: ich wäre heute sicherlich nicht der Kerl, der ich bin, hätten diese vier Typen und ihre Platten nicht meinen Weg gekreuzt.

Der Rest ist Dankbarkeit.

Erschienen auf Epitaph, 2012.


Hinweis in beinahe eigener Sache: wer sich weiterführend mit der Band und ihren Idealen auseianandersetzen möchte, dem empfehle ich die Lektüre des am 1.Oktober erscheinenden OX-Fanzines. Blank When Zero-Trommler und Freund Simon hatte die Gelegenheit, der Band im Rahmen eines Interviews zu "Failed States" einige Fragen zu stellen und erhielt interessante Antworten.