WARRIOR SOUL - STIFF MIDDLE FINGER
Meine Enttäuschung über den aktuellen Versuch Warrior Souls, die Musikwelt doch noch auf ihre Seite zu ziehen, fiele nicht so groß aus, hätte die Band nicht mit dem immer noch großartigen "Chinese Democracy"/"Destroy The War Machine" aus dem Jahr 2009 einen so überaus würdigen Nachfolger zum 1995er "Space Age Playboys"-Album veröffentlicht. Wir erinnern uns: 2008 gab niemand mehr einen Pfifferling auf Kory Clarke und seine zusammengepuzzelte Band und meine Erwartungshaltung war entsprechend im eiskalten Keller. "Chinese Democracy" war aber ein derart starkes, frisches, melodisch brilliantes und authentisches Werk, dass ich mich wirklich auf "Stiff Middle Finger" freute. Die ersten kurzen Soundschnipsel, die es ab Anfang Oktober bei Amazon zu hören gab, zerschmetterten allerdings selbst die leiseste Hoffnung auf einen ähnlichen Überraschungscoup. Die Realität in Form der kompletten Platte ist in ihrer Dramatik sogar noch bedauerlicher: dagegen klingt selbst die sagenumwobene "Chill Pill" Scheibe aus dem Jahr 1993 wie eine ausgefeilte Hi-End-Produktion aus der Schatzkiste der angesagtesten Produzenten des Rock'n'Rolls.
Ich kann zugegebenermaßen fast nichts zur Qualität der einzelnen Tracks sagen, weil mich der unterirdische Sound des Albums nicht mal zum Kern eines Songs durchdringen lässt. Der Amerikaner würde es wohl "hilarious" nennen, denn "Stiff Middle Finger" ist in Sachen Klang nicht mal mit einer Demoproduktion aus dem Jahr 1988 auf Augenhöhe, und ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass Musik im Jahr 2012 noch so klingen muss. Ich kann den Sound nicht mal angemessen beschreiben, weil mir ehrlich gesagt etwas die Worte fehlen: die Gitarren sind völlig totkomprimiert, dumpf und komplett unheavy, das Schlagzeug ist so spritzig wie eine drei Jahre alte Bio-Limette und auf Korys Gesang sind bisweilen undefinierbare Effekte geklatscht, die seine immer noch stark in Mitleidenschaft gezogene Stimme noch kaputter erscheinen lassen, als schon auf der gleichfalls miesen Liveplatte aus dem Jahr 2007. Vielleicht ist es aber auch ganz anders, ich kann hier echt nur spekulieren. Es ist eine große, dumpfe Schlammsoße.
Ich habe mich nun sicherlich bereits zehn Mal durch "Stiff Middle Finger" förmlich hindurchgekämpft und was ich zu den Songs sagen kann, ist nicht sehr schmeichelhaft, wenngleich ich die Kompositionen etwas in Schutz nehmen muss. Vielleicht sähe das mit einer wenigstens halbwegs anständigen Produktion gar nicht so übel aus, aber was sich die Band mit den wirklich miesen "Tear", "Planetary Revolution" oder der dreisten Selbstkopie "Junky Stripper" gedacht hat, ist mir beinahe unbegreiflich. Es macht einfach überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören.
Warrior Soul sind eine meiner fünf Lieblingsbands aller Zeiten und Kory Clarke ist trotz seiner zur Schau gestellten Selbstzerstörung vielleicht mein definitiver Held - ein hochintelligenter Kopf mit beneidenswerter Beobachtungsgabe, ein Stehaufmännchen, ein resoluter Kämpfer, der seinen Standpunkt jederzeit selbst gegen verflixt mächtige Widerstände verteidigt. Als ich ihn 2006 im Rahmen eines Interviews an meinem Telefon hörte, kullerte mir eine Träne über das Gesicht, und als ich die Band, selbst wenn sie schon längst nicht mehr im Original-Lineup existierte, im März 2009 in Essen erstmals auf der Bühne erleben durfte, ging mein vielleicht letzter großer musikalischer Traum in Erfüllung. Fast 20 Jahre wartete ich darauf, diese Songs endlich live zu hören und plötzlich war es soweit. Es war wie im Traum.
Vielleicht kann der ein oder andere nach diesen letzten Worten nachvollziehen, wie schwer es mir gefallen ist, die ersten drei Absätze zu tippen. Ich liebe Warrior Soul und ich kniee bei der anstehenden Tour wieder im tobenden Mob und gröle mir die Seele aus dem Leib. "Stiff Middle Finger" bleibt trotzdem - oder gerade deswegen - die Enttäuschung des Jahres.
Long Live Warrior Soul.
Erschienen auf Livewire, 2012.