23.04.2019

Die Heavy Metal-Ursuppe (2)




CYNIC - FOCUS


Es ist nach zumindest intensiverem Synapsen-Mikado vermutlich keine allzu große Überraschung, dass sich so einiges, was sich vor zwei oder drei Dekaden nicht nur, aber vor allem in der Metal-Ursuppe tummelte, mit einigen Jahren Abstand nicht mehr ganz so revolutionär oder abgedreht anhört, wie es sich beim Erstkontakt möglicherweise anfühlte. Rock im Allgemeinen und Metal im Speziellen mögen aufgrund der durchaus signifikanten Entwicklungssprünge in Sachen Klang, Härte und Dichte, die das Rock-Genre vor allem seit den frühen Nullern durchmacht, besonders anfällig für einen ungünstig verlaufenden Alterungsprozess ihrer vermeintlichen Klassiker sein; Ausnahmen gelten für die seit Äonen ubiquitären Legenden des Mainstream wie Maiden, Priest, Sabbath, Purple und Zeppelin, deren weichgezeichneter Labbersound aus der Eisenzeit heute eher als wünschenswerte Patina gewürdigt wird, sowie für die berüchtigte Loyalität des Metal-Publikums: was mal in den Klassikerkanon einsortiert wurde, kommt da so schnell auch nicht mehr raus. Wie schon in dem Beitrag aus dem Jahr 2018 über Benedictions "Transcend The Rubicon" bemerkt, ist ein heute 15-jähriger Metalfan, der mit der klanglichen Intensität aus dem Metal- und Deathcore oder der technischen Qualität des heutigen Death Metal vertraut ist, mit der Musik seiner Eltern nicht nur aus pubertären Gründen im Sinne der Abgrenzung psychologisch herausgefordert, sondern insgesamt unterfordert.

Dasselbe kann zumindest für diesen Aspekt auch ohne gröbere Gewissenskonflikte über das Debut der US-amerikanischen Band Cynic geschrieben werden, die mit ihrem Debut "Focus" im Jahr 1993 auf der Bildfläche erschienen - wenngleich der Auseinandersetzung mit etwas addierter und der Musik angemessenen Komplexität sicher kein Schaden zugefügt wird, ganz im Gegenteil. "Focus" gilt heute weitläufig als Klassiker des Progressive Metals/Death Metals, und zieht man die Umstände der damaligen Zeit sowie der Szene in Betracht, hat es diesen Status als Zeitdokument einerseits, aber auch als Einfluss auf die spätere Entwicklung des Genres andererseits nicht zu Unrecht. 

Zwar war man selbst als Death Metal Fan im Jahr 1993 schon so einiges gewohnt, weil die "Anything Goes"-Mentalität der frühen neunziger Jahre den Zeitgeist bis in den Untergrund bestimmen sollte:  Fear Factorys Debut "Soul Of A New Machine" zeigte bereits ein Jahr zuvor Experimente mit Klargesang zwischen dem gutturalen Geröchel, Atheist lösten die schon auf früheren Alben nur unzureichend gesicherten Bremsen mit "Elements" endlich komplett und verbanden die fast vollständig aufgelösten Restspuren ihrer Death Metal Vergangenheit mit Latin und Salsa-Beats, während Chuck Schuldiner von Death, dem Großteil der Szene stets mit Sieben-Meilen-Stiefeln voraus, mit "Human" nicht nur einen Meilenstein des technischen Death Metals vorgelegt hatte, sondern auch automatisch die Marschrichtung der kommenden Entwicklungen im extremen Metal vorgab. Maßgeblichen Einfluss daran hatte auch die Hälfte von Schuldiners damaligem Line-Up: Paul Masvidal an der Gitarre und Sean Reinert am Schlagzeug spielten auf "Human" förmlich um ihr Leben und beeinflussten damit Musiker wie einen Gene Hoglan (u.a.Dark Angel), der Reinerts gewebte Prog- und Fusion-Fäden auf "Human" als späterer Death-Schlagzeuger auf den Alben "Individual Thought Pattern" (1993) und "Symbolic" (1995) aufnahm und dabei selbst stetig weiterentwickelte. 

Eben diesen beiden Musiker Paul Masvidal und Sean Reinert bildeten auch die kreative Keimzelle bei Cynic. In Zusammenhang mit dem "Focus"-Produzenten Scott Burns und dem Morrissound Studio in Florida, beides in der Kombination zur damaligen Zeit DER Maßstab schlechthin, wenn es um Death Metal Produktionen ging, wurden Cynic als "Next Level Death Metal" vermarktet - und dafür hatte der ungewöhnlich progressive Sound es durchaus in sich. Die Band wechselte von anspruchsvoll zu spielendem, technischem Death Metal in Bruchteilen von Sekunden in spirituell anmutende und ätherisch wirkende Traumwelten, in denen Akustikgitarren und die mittels Vocodereinsatz surreal verfremdete Stimme von Masvidal den Sound prägten - nicht zu vergessen das melodische Harmonien aufziehende Bassspiel von Sean Malone, der mit seinem Fretless Bass dem Bandsound zusätzliche Originalität verpasste. Im Ergebnis habe ich "Focus", trotz der recht eindeutigen Vorzeichen, nie als Death Metal wahrgenommen; tatsächlich habe ich mich nie darum bemüht, überhaupt irgendeine passende Schublade dafür zu finden. 

Ich habe mir vor wenigen Wochen den Vinyl-Reissue von "Focus" gegönnt und mich in diesem Zuge wieder intensiver mit dem Album befasst. Ich war zunächst über den Sound überrascht - und nicht unbedingt im positiven Sinne. In meiner Erinnerung war das Brett, das die Band mit Scott Burns bohrte, bedeutend dicker und druckvoller als ich es heute empfinde. Ein Gegencheck mit der CD und einem digitalen Format verschaffte Aufklärung: "Focus" klang auch schon 1993 nach heutigen Maßstäben nicht besonders gut, was vielleicht das eindrücklichste Zeichen dafür ist, dass der Zahn der Zeit auch in diesem Fall ein Stück der Faszination abnagen konnte. Interessant ist indes, dass sich im Vergleich zu Burns' Standardsound (Bass- und Schlagzeug-Regler auf 11, alle Mitten raus) auf "Focus" etwas mehr Transparenz und Differenzierung zeigt - das ist unter gegenwärtigen Gesichtspunkten zwar immer noch nicht viel, war aber für damalige Verhältnisse immerhin eine Varianz, eine Öffnung. 

Darüber hinaus erscheint "Focus" aus heutiger Sicht bei Weitem nicht mehr so abgedreht zu sein, wie es sich in der Erinnerung immer noch anfühlt - und wie Rezensenten und Kommentatoren es bis heute beteuern. Besonders ist das Album auch 25 Jahre später ganz sicher noch, technisch wie visionär herausragend - aber am Ende des Tages lediglich im traditionell sehr eng begrenzten Kosmos von Rockmusik und Heavy Metal als unkonventionell zu bezeichnen. Das ist aus diesem Blickwinkel auch im Jahr 2019 noch legitim, vielleicht angesichts der tatsächlich noch dramatischer in Erscheinung tretenden Mutlosigkeit der Szene noch mehr als das. Aber für die, die keinen Tellerrand kennen, weil sie nicht mal einen Teller haben, spielt sich dann eben doch zu viel im Rahmen dessen ab, was man so kennt: klassische Instrumentierung, klassisch-progressive Arrangements, klassischer Sound. Das stete Gerede über ein mit übergeschnappten Ideen vollgepacktes Avantgarde-Jazz-Experimental-Feuerwerk ist letzten Endes irreführend. 

Cynic wurden im Grunde nach ihrer zwischenzeitlichen Pause und ab 2008 mit dem Comebackalbum "Traced In Air" interessanter, weil sie subtiler wurden. Das Gerippe hatte immer noch Rockmusik eintätowiert - und ganz ehrlich: etwas anderes wollte und sollte die Band ja auch niemals sein - aber die Anpassungen in den Arrangements wurden so feingliedrig und behutsam umgesetzt, die Atmosphäre so genuin ätherisch und schwebend inszeniert, dass die Fraktion, die mit "Focus" Death Metal und Mucker-Frickeleien verband, mit dem signifikant zurückgeschraubten Metal-Anteil in ihrer Musik nun wenig überraschend ernste Probleme bekam. Eine erneute Weiterentwicklung gab es auf dem bislang letzten Album "Kindly Bent To Free Us" (2014) zu hören, auf dem Cynic eine besonders nuancierte Nische des Progressive Rocks besetzten und sich von Metal noch mehr als zuvor abgrenzten. 

Es hat Spaß gemacht, "Focus" nochmal zu besuchen und es in diesem Zusammenhang nochmal neu einzusortieren - vielleicht war die neuerliche Beschäftigung nach meiner ganz persönlichen Öffnung zu so unterschiedlichen Musikgenres möglicherweise noch lohnenswerter, als sie es in meiner Adoleszenz war. Ich höre "Focus" heute sicherlich mit anderen Ohren als ich es noch 1993 tat. 

Auch wenn der oben gemachte Versuch einer Differenzierung immer gut tut: An der visionären Kraft, dem Mut und dem Einfluss von "Focus" gibt es auch im Jahr 2019 nur wenig zu rütteln. 




Erschienen auf Roadrunner Records, 1993. 

20.04.2019

Hedonilacholie




ROOSEVELT - YOUNG ROMANCE


Jetzt, da wir dem sich wieder ewig und vier Monate hinziehenden Jahresbestenlistenwahnsinn entronnen sind, ist es an der Zeit, die alten Kleider abzustreifen, sich neu aufzustellen und fokussiert nach vorne zu blicken - Haha, Quatsch mit Soße: noch ein bisschen Resteverwertung aus 2018 zu betreiben. 

Es gehört zu den tragischeren Momenten der Symbiose einer über den eigenen Kopf wachsenden Lohnarbeit mit einer Beinahe-Verstummung oder wenigstens signifikanten Reduzierung von Texten auf diesem Blog, dass ich bislang noch nichts über Roosevelt geschrieben habe. Das Schicksal teilt der junge Mann aus Köln zwar mit einer Legion an Musikern, Bands und Platten, die alle ebenfalls noch in der viel zu langen Warteschlange für einen Beitrag stehen, und geteiltes Leid ist ja halbes Leid - aber besser wird es damit ja auch nicht.

Das selbstbetitelte Debut aus dem Jahr 2016 hat sich mittlerweile im Hause Dreikommaviernull, und das schließt explizit die Herzallerliebste nebst Vierbeiner-Entourage mit ein, nach einer Phase des indifferenten Beschnupperns zu Beginn der Auseinandersetzung zu einer Art Lieblingsplatte gemausert. Vor allem für die sonnigeren Tage ist die Mischung aus 80er Synthiegewürmel, elektronischem Indiepop und dem Musikprogramm des ZDF-Fernsehgartens so erfrischend und euphorisierend wie ein eiskalter und in guter Gesellschaft eingenommener Gin Tonic (natürlich ohne Gurke, Ihr verwirrten, verwirrten Menschen!). 




Im letzten Herbst erschien nun also der Nachfolger "Young Romance" und ich stellte mich auf einen ähnlichen Effekt wie beim Debut ein: Zunächst erscheinen Andrea Kiewel und die untote Ilona Christen vor dem geistigen Auge, Busladungen beige-tragender Silberzwiebeln überfallen fist-raisend Autobahnraststätten und sehnen sich nach einer Nacht mit Florian Silberschwengel oder wenigstens einer Gewürzgurke, und wo zur Hölle ist mein Notfall-Insulin abgeblieben? Nach erfolgreichem Überstehen dieser Phase kann es eigentlich nur in Richtung Tanzfläche, Hawaiihemd und Limettenbaum gehen. Und dann sollte es auch endlich mit der Jahresbestenliste 2018 klappen.

Wir wissen nun: es klappte nicht. 

"Young Romance" erschien Ende September und erwischte mich trotz (oder wegen - you decide!) der immer noch anhaltenden Dauerhitze des vergangenen Jahres auf dem falschen Fuß. Ich hatte einfach genug vom Sommer, war zudem Dank andauernden 50+ Stundenwochen energetisch völlig ausgelaugt und ging zum Weinen in den Keller, wo es dann auch immerhin mal vier Grad kühler war. Lässig auf der Terrasse mit Leinenhemd an der eigenen prachtvollen Erektion lehnen und dazu melancholisch-beschwingte Popmusik hören war indes undenkbar. Ich wollte Winter, ich wollte eiskalten, Haut verätzenden Wind, Hagel, Graupel, Regen - oh fucking hell, ich wollte alles mit sich reißenden Regen. Und Roosevelt nahm darauf natürlich keine Rücksicht; der Mann liegt ganzjährig am Strand und hat 24/7 einen Sex on the Beach in der Hand, wenigstens mental. 

Im Frühjahr 2019 zeichnet sich aber mittlerweile das ursprünglich zu erwartende Bild ab: ich bin bereit für Roosevelt. Ich bin bereit für "Young Romance". Ich bin bereit für den Frühling. Ich bin bereit für die Sonne. Ich bin bereit für synthetisch schmeckendes Eis am Stiel aus den Laboren der Lebensmittelmafia. Für kurze Hosen und Byredos Sunday Cologne bis Oktober. Für eine auf einem Schimmel sitzende Prinzessin im Modern Talking Shirt, die in den Sonnenuntergang reitet und dabei die Bohlen-Faust zeigt. Für vollgesoffene Idioten mit Biermixgetränken in durchtanzten Clubnächten. Für vegane Blowjobs unter Autobahnbrücken. Für Hornissen so groß wie der Reichstag. Für Bio-Limetten und für Rapsölmotoren. Leben, here I come.

Roosevelts Musik ist eine süchtig machende Mixtur aus Melancholie und Euphorie, sie ist zu gleichen Teilen mitreißend wie träumerisch, romantisch wie hedonistisch. Wer immer noch dem pubertären Missverständnis aufsitzt, nur auf dem Nährboden aus Trauer, Dunkelheit, Verzweiflung und (Selbst)Mitleid erwachse relevantes kreatives Schaffen: get help, srsly!




Erschienen auf City Slang, 2018.


16.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 1 ° Marillion - All One Tonight



MARILLION - ALL ONE TONIGHT


Schon wieder Marillion auf der Pole Position? Und schon wieder ein Livealbum im Jahresrückblick? Was ist hier los?

Ich habe ehrlicherweise lange mit mir gerungen, ob eine live aufgenommene Platte wirklich an der Spitze meiner Jahrescharts stehen sollte. Ganz aus Prinzip. Hätten es nicht eher die brillianten Wanderwelle mit ihrer funkensprühenden Kreativität oder die künstlerischen und traumwandlerisch souveränen The Sea And Cake verdient gehabt? Möglicherweise irgendjemand sonst, der wirklich neue Musik im Jahr 2018 präsentieren konnte und also nicht auf Bewährtes zurückgreifen musste, um eine Veröffentlichung vorweisen zu können? 

Am Ende war es eine Entscheidung für ein "mehr als die Summe der einzelnen Teile", eigentlich für das Lebenswerk einer Band, die seit 40 Jahren im Geschäft und noch immer so voller Kraft, Leidenschaft und Kreativität ist. Die nach so langen wie problematischen Zeiten in den neunziger Jahren, in denen außer einer überschaubaren aber loyalen Fanbase niemand mehr einen Pfifferling auf sie geben wollte, sich immer wieder aufraffen und sich am eigenen Schopf aus dem Dreck ziehen konnte. Die trotz eines musikalischen Klimas, das für eine Progressive Rock Band, in der kein Steven Wilson mitspielt, kaum ungemütlicher und unwirtlicher sein kann, plötzlich mit einem aufsehen erregenden Studioalbum in die vorderen Regionen der Charts einsteigen konnte. Und die sich Ende 2017 plötzlich dort wiederfanden, wo sonst nur die größten der Großen aufspielen dürfen: in der Royal Albert Hall. Ein Blick in die Gesichter der fünf Musiker an diesem Abend sagt alles, was man über ihre Hingabe, ihre Begeisterung und ihr Durchhaltevermögen wissen muss. 

Ich habe im August des letzten Jahres sehr ausführlich über "All One Tonight" berichtet und weil ich nicht glaube, außer den an dieser Stelle ausgebreiteten und also einleitenden Sätzen noch weitere Einsichten zum Besten geben zu können, die über das bereits Geschriebene hinaus gehen, lade ich meine werten Leserinnen und Leser ein, den damals herausgearbeiteten Text nochmals über sich ergehen zu lassen - oder ihn alternativ zum ersten Mal zu lesen. Nicht nur mit einer billigen Verlinkung, sondern mit dem vollen Text und in voller Pracht. 

Ich beendete jene erste Huldigung auf "All One Tonight" mit dem Satz "Das ist die beste Band der Welt" und um den Kreis zu den eingangs gestellten Fragen zu schließen: Dann gehört die beste Band der Welt auch auf Platz 1 der Jahrescharts 2018. 

Verdient ist eben verdient. 


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Fans von Marillion sind bisweilen ein seltsames Völkchen. Die Diskografie der Band auf dem Plattensammler- und Plattenverkaufsportal Discogs listet aktuell nicht weniger als 142 Alben auf - und obwohl das Quartett auf eine beinahe vierzigjährige Karriere zurückblicken darf, die sicherlich nicht in erster Linie von Däumchendrehen und Tee trinken geprägt war, erscheint die stattliche Anzahl ein wenig irreführend: die loyale Handvoll Bekehrter, die der Band seit Jahrzehnten nicht nur aus der Hand frisst, sondern sie auch mittels eigenständig durchgeführter Internetpromotion ein wenig mehr in den musikgesellschaftlichen Fokus rücken und damit auch gleichzeitig das eigene Ego ein wenig streicheln möchte, hat also ganze Arbeit geleistet und wirklich jede noch so obskure Zusammenstellung und Liveaufnahme der über die geschäftlichen Hauptquartiere Racket Records, Intact Records und Front Row Club vertriebenen CDs in der Diskografie als Album geführt, hinzu kommen außerdem Bootlegs und BBC Radiomitschnitte, deren Aufnahmedatum in den Kommentarspalten auch noch rührselig korrigiert werden. Das passiert sicherlich und ausschließlich mit den allerbesten Absichten, ist einerseits lohnenswert für die Komplettisten in uns, die dieses eine Rothery-Lick von dieser raren Budapest-Liveaufnahme unbedingt auf eine Plastikscheibe gebrannt haben möchten, andererseits völlig überwältigend und unübersichtlich für fast alle anderen. Wer in dieses Rabbit Hole tatsächlich reinkrabbelt und sich die gelisteten Veröffentlichungen etwas genauer anschaut, stellt schnell fest, dass Liveaufnahmen integraler Bestandteil des Marillion'schen Selbstverständnisses sind. Die Anzahl ist Legion, und der Eindruck, die Band habe von jedem ihrer Konzerte in den letzten 40 Jahren mindestens sieben verschiedene Albenveröffentlichungen geschnitzt, wird plötzlich sonderbar real. Aber wer das alles kauft? Und wer das alles hört? Ich sagte doch: es ist ein seltsames Völkchen.

Selbst mit den offiziellen und also im regulären Handel erhältlichen Livealben wird es für das weniger gut organisierte Oberstübchen unübersichtlich und spätestens bei den zahllosen Versionen eines einzelnen Titels zerfällt wenigstens mein Dachgeschoss in Mikropartikel. In den letzten Jahren begeisterten mich aus dieser Kategorie immerhin zwei Aufnahmen so ausgeprägt, dass sie seitdem im heimischen Plattenschrank stehen und - entgegen des immer wieder vorgetragenen Einwands, man könne das ja eh niemals im Leben alles hören, aber stattdessen alles mal schön einstauben lassen - ziemlich regelmäßig auf dem Plattendreher und in der Playlist landen: "Marbles On The Road" und "A Sunday Night Above The Rain" sind exquisite, auf jeweils 3 LPs verteilte Liveaufnahmen, und ja, ich muss es zugeben: diese eine Version von "Montreal" - holy fucking shitballs, die sollte man gehört haben. Um Missverständnissen vorzubeugen: es ließe sich hier nachlesen, dass ich dem Song vor sechs Jahren nicht sonderlich zugetan war. Jetzt weiß ich: "I was wrong." (Mike Ness) 

Dass nun im Jahr 2018 selbst die allergrößten Die-Hard Fans das aktuelle Werk "All One Tonight" als bestes Livealbum der Band seit dem Urknall feiern, lässt zunächst aufhorchen; bei genauerer Betrachtung ist indes kein anderes Urteil möglich. Die Band spielte nach dem überraschenden Erfolg ihres letzten Studioalbums "F.E.A.R." mit seinem Top Ten-Charteinstieg im Vereinten Königreich, in der nicht nur altehrwürdigen, sondern auch restlos ausverkauften Royal Albert Hall und das ist denkwürdig genug: dort, wo sich sonst nur die richtig Großen die Klinke in die Hand geben, die Roger Waters', die Brian Mays, die Robert Plants, kommen Marillion-Fans aus der ganzen Welt angereist, um das beeindruckende Gemäuer mit Licht, Liebe und Musik zu füllen. Ich möchte nicht respektlos klingen, aber Marillion galten allerspätestens ab Mitte der 1990er Jahre und der Trennung von der EMI nicht gerade als kommerziell attraktiv oder vielversprechend und segelten mit den in Eigenregie organisierten Crowdfunding-Kampagnen und derart finanzierten Albumveröffentlichungen nebst selbstständig gegründeten und geführten Labels unter dem Radar des Mainstreams - manchmal sogar unter dem Radar des Undergrounds. Das Ergebnis: eine außerordentlich enge, vielleicht einmalige Verbindung zu ihren Anhängern - die sich wenig überraschend in den zweieinhalb Stunden dieses auf sage und schreibe 4-LPs verteilten Mammutprogramms in voller Pracht zeigen darf. Die Publikumsreaktionen lassen das Dach der Royal Albert Hall abheben und wer via BluRay/DVD/Youtube in die Gesichter und auf die Körpersprache der Band schaut, die angesichts der Begeisterungsstürme und ob der schieren Tatsache, dass sie tatsächlich und nach vierzig Jahren zum ersten Mal in der verdammten Royal Albert Hall spielen dürfen, erkennt die Einzigartigkeit dieses Abends, dieser Band und ja: auch dieser Fans. Als konkretes Anschauungsobjekt möchte ich auf das weiter unten eingebettete Video von "Go" und auf die Szenen ab Minute 4:55 Minuten verweisen. Die Herzallerliebste und ich überbieten uns praktisch fortwährend mit den über uns schwappenden Gänsehautattacken.

Über das in Gänze aufgeführte "F.E.A.R." habe ich mittlerweile schon genug Lobeshymnen geschrieben, und ich könnte mich auch knapp 2 Jahre nach der Veröffentlichung nur wiederholen - es bleibt eines der drei herausragenden Alben ihrer Karriere und der damit erreichte Erfolg gibt Anlass zur Hoffnung, dass doch noch nicht alles verloren ist. Der zweite Teil des Abends besteht aus bekannten Bandklassikern wie "Afraid Of Sunlight", "The Space", "Easter" oder "Neverland", die mit der Unterstützung eines kleinen Orchesters aufgeführt werden und glücklicherweise nie überarrangiert in die Kitschfalle aus dem Hause Rondo Veneziano plumpsen, sondern dank der sehr behutsam in die Songs eingepassten Orchestrierung zwar voluminöser und einen Tacken melancholischer klingen, aber nie den eigentlichen Spirit aus dem Kern der Komposition verlieren. Unter normalen Umständen wird "All One Tonight" künftig in einem Atemzug mit "Live & Dangerous", "Live At The Apollo", "At Folsom Prison", "It's Alive" oder "Made In Japan" genannt. Nur: was ist heute noch normal?

Nun ist Herr Dreikommaviernull grundlegend ziemlich nah am Wasser gebaut und es ist nicht ungewöhnlich für mich, von Musik so tief berührt zu werden, dass mir selbst in der Öffentlichkeit die Tränen über die Wangen laufen. Es gibt beispielsweise die Heart-Coverversion von Led Zeppelins "Stairway To Heaven" aus dem Kennedy Center, bei der ich in den letzten dreieinhalb Minuten - völlig egal wo ich bin, wie es mir geht, was ich gerade denke und/oder mache - _IMMER_ Rotz und Wasser heulen muss und es also dem ebenfalls sehr gerührten Robert Plant gleichtue - obwohl mir Led Zeppelin weithin am Gesäß vorbeigehen und am Ende des Videos außerdem ein paar Rockstars auf der Bühne stehen, die sich meinetwegen besser einmauern sollten, aber ich kann mich selbst angesichts dieser "abominations unto the lord" (John Oliver) einfach nicht dagegen wehren, emotional fast zerrissen zu werden. Als ich in der vergangenen Woche in meiner Rolle als professioneller Businesskasper im ICE nach München saß und mir mit "Neverland" das schönste Lied der Welt ins Schallgesims gedrückt wurde, rächte sich mal wieder die Entscheidung, keine Papiertaschentücher ins Reisegepäck aufgenommen zu haben. Wie soll man sowas aushalten?

Manchmal erscheint das alles zu groß, wichtig - überlebenswichtig! - und heilend, um es darüber hinaus in Worte oder auch nur Gedanken zu kleiden. 

Manchmal ist es besser, es einfach so im Raum stehen zu lassen: Das ist die beste Band der Welt. 




Erschienen auf Ear Music, 2018.

13.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 2 ° Wanderwelle - Gathering Of The Ancient Spirits




WANDERWELLE - GATHERING OF THE ANCIENT SPIRITS



Den härtesten Kampf mit der Leere auf dem virtuellen Blatt Papier und jener im eigenen Kopf musste ich für den aktuellen Jahresrückblick mit "Gathering Of The Ancient Spirits" austragen. Das hat zwei Gründe. Einerseits war ich sehr spät dran: ich schlief für die Erstpressung dieses Juwels den Schlaf der Gestörten und wachte erst auf, als erstens die Preise für das schön anzuschauende gelbe Vinyl in absurde Höhen kletterten, und ich mich zweitens auf den Repress - diesmal auf blauem Vinyl - freuen konnte. Meine anfänglich nur mit wenig Konfetti schmeißende Libido lässt sich indes auch mit dem ausbleibendem Kniefall vor Wanderwelles Debutalbum "Lost In A Seas Of Trees" erklären, das mich im Jahr 2017 offenbar auf einem falschen Fuß erwischt zu haben schien und letzten Endes an mir ähnlich folgenlos abprallte wie kognitives Leistungsvermögen an der substantia alba von Ulf Poschardt. Und bis ich mich unfallfrei dazu entschließen kann, vom falschen auf den richtigen Fuß umzutänzeln, braucht es hin und wieder ein Weilchen.

Andererseits ist da eine gewisse Furcht, in den ubiquitären Chor vom Ambient-Rezensionen einzustimmen, der wie auf Knopfdruck Begriffe wie "Kopfkino" (es wird tatsächlich immer fucking noch verwendet; vgl. "zeitnah") oder Flug-Analogien ausspuckt. Manches braucht nicht nur Zeit, sondern ab und zu tatsächlich auch mal sowas wie einen Gedanken, einen gescheiten noch dazu. Und es braucht die Basis aus beiden: Inspiration.

"Gathering Of The Ancient Spirits" liefert mir auf zu vielen Ebenen eher zu viel Inspiration - und daraus folgen unweigerliche Kapazitätsengpässe im Oberstübchen: wie fange ich an, über diese Musik zu schreiben? Ich habe sowas noch nicht gehört. Und eigentlich habe ich sowas auch noch nie gefühlt. Und hier könnte diese Rezension zu Ende sein.

Das Produzenten-Duo aus Amsterdam widmet sich auf diesem Konzeptalbum den letzten Jahren des Künstlers Paul Gauguin und seinen Reisen in die Südsee. Gauguin brach erstmals im Jahr 1891 in Richtung Tahiti auf, um das in seiner Fantasie ausgemalte unberührte Paradies zu finden, weit entfernt von seiner Heimat Frankreich, weit entfernt von den Sitten Europas. Er schuf dort Bilder und Holzskulpturen, die weniger ein tatsächliches Abbild dessen waren, was er dort sah und erlebte, als viel mehr die Projektionen seiner Vorstellungen und Hoffnungen eines solchen Lebens in Abgeschiedenheit. Als er zwei Jahre später nach Frankreich zurückkehrte und die dortige Bevölkerung seinen Arbeiten die kalte Schulter zeigte, verließ er seine Heimat ein zweites Mal. Dieses Mal sollte er nicht zurückkehren: er starb 1903 auf Hiva Oa, einer Insel des abgelegenen Marquesas-Archipels. Wanderwelle erzählen über das Leben und die Erlebnisse Gauguins in dieser Zeit.

Hier ist die Synopsis zum Album zu finden. http://silentseason.com/ssv13/

"Gathering Of The Ancient Spirits" ist geheimnisvoll. Getrieben. Unheimlich. Und es steht eigentlich ein paar Stufen über fast allem. Stilistisch, weil die Kombination aus Dubtechno, Ambient, Electronica und Tribal so einzigartig ist. Auf der Metaebene, weil die Musik in Verbindung mit den wortlosen Erzählungen über Natur, Kunst, Leben und Spiritualität und dem umwerfenden Coverartwork plötzlich mehr wird, als nur Klang.

Es ist ein Kunstwerk. Und ich bin ehrlicherweise davon überfordert.


Pressung: +++++ (Makellos)
Ausstattung: +++++ (Gelbes/Blaues Vinyl, Gatefold-Cover, ausführliche Liner Notes, großartiges  Art-Design)





Erschienen auf Silent Season, 2018.

07.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 3 ° The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


Es ist oftmals eine Herausforderung für mich, über alte Bekannte zu schreiben, solche zumal, die zu den Stammgästen auf Dreikommaviernull gehören. Ich habe in den letzten 12 Jahren gleich sieben Mal über The Sea And Cake geschrieben - und das, obwohl die Band in dieser Zeit nur drei Platten veröffentlichte. Eigentlich ist über sie und meine besondere Verbindung mit ihnen alles gesagt, alle Huldigungen sind gefühlt hundertfach ausgesprochen, sämtliche Fanbrillen längst ins Gesicht zementiert, die LP-Sammlung wird gehegt und gepflegt und ist dabei nicht nur komplett, sondern wegen den von Thrill Jockey farblich einzigartig designten Vinylreissues aus den letzten zwei Jahren sogar überkomplett. Schon wieder muss Polt zitiert werden, denn: "mehr habe ich nicht hinzuzufügen!". Eigentlich. 

Vielleicht aber doch noch eine Kleinigkeit. 

"Any Day" war nach sechs Jahren Funkstille ein zwar erhofftes, aber nicht notwendigerweise erwartetes Comeback. Bassist Eric Claridge musste aus gesundheitlichen Gründen sein Engagement bereits vor einigen Jahren beenden, Schlagzeuger John McEntire ist mit Tortoise und Studiojobs ausgelastet, Gitarrist Archer Prewitt arbeitet als selbstständiger Illustrator und Zeichner und Sam Prekop ist in seiner Heimatstadt Chicago aktiver und erfolgreicher Künstler. Die Annahme, dass sie alle nach 25 Jahren Bandkarriere und vermutlich auch nicht erst seit gestern nicht mehr auf The Sea And Cake angewiesen sind, um sich entweder kreativ zu betätigen oder um nur banal die Zeit totzuschlagen, ist wohl nicht allzu abenteuerlich. So löste die Ankündigung für ein neues Studioalbum nichts als große Freude bei mir aus - die sich angesichts der ebenfalls erfolgten Bekanntgabe eines Konzerttermins in Frankfurt im Juni 2018 gar zu einer - Pardon! - prachtvollen Erektion ausweitete.

Ich schrub kürzlich über die sehr gute Band Tocotronic, dass deren 2018er Album "Die Unendlichkeit" zu einem Lebensgefühl, einem Begleiter wurde. Ohne das Urteil weder für die einen noch die anderen verwässern zu wollen, und ich bin mir des möglichen Risikos hierfür durchaus bewusst, aber ich kann, nein: muss! dasselbe nicht nur über "Any Day" in den virtuellen Notizblock kritzeln, ich muss es auf die ganze Band ausweiten. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der langen Pause lag, in deren Verlauf zwar kein Frühling und kein Sommer ohne eine geradewegs hypnotische, aber auch nach Jahren der Auseinandersetzung irgendwie abgeklärt durchgewunkene Phase mit ihrer Musik verging, dass mich die Band sogar über das bekannte Maß hinaus so tief traf wie noch nie zuvor - und wer meine früheren Einlassungen zu The Sea And Cake kennt, wird verstehen, warum das etwas Besonderes ist. Oder lag es an meinem fortgeschrittenen Alter und meinen bestenfalls in gleichem Ausmaß fortgeschrittenen Erfahrungen, Gedanken, Einsichten? Und warum muss es eigentlich immer ein "oder" sein? 




Mir ist den letzten zehn Jahren in einigen wenigen Fällen eine neue und bedeutend intensivere Liebe zu Bands aufgefallen, die ich zwar schon früher längst auf den musikalischen Olymp geschoben hatte, aber plötzlich einen extragroßen Schubser in den fast schon ätherisch zu nennenden Bereich mitnehmen konnten, in dem die Luft selbst für Götter dünner wird. Ein gutes Beispiel sind King's X, die ich mittlerweile in jedem vorstellbaren Universum und für jeden vorstellbaren Aspekt für völlig unantastbar halte und für die meine Anerkennung weit über Alben, Songs oder Texte hinausgeht. Es ist eher der schier endlose Respekt für das Lebenswerk voller Kreativität, Virtuosität, Durchhaltevermögen, Freundschaft, Zusammenhalt, Inspiration, Freiheit, Offenheit, Hingabe und Leidenschaft. 

Ich habe diesen schier endlosen Respekt im letzten Jahr auch für The Sea And Cake gefunden. Ihr Zusammenspiel, ihre Subtilität, ihre Virtuosität, ihr Entdeckerdrang und ihre Ausstrahlung sind völlig einzigartig. Niemand klingt so wie diese vier Musiker, niemand sonst spielt diese feinstoffliche Musik so filigran, so präzise - und dabei gleichzeitig so mühelos und lebhaft. Ich habe heute das Gefühl, "Any Day" hat mich an den Punkt im Universum von The Sea And Cake gebracht, an dem ich den 360° Blick über all das habe, was diese Band im Kern ausmacht, was sie wirklich ist - und diesen Blick dabei jederzeit bis in die engmaschigste Nuance ihres Sounds vergrößern kann, um sie von allen Seiten zu betrachten. Sie funkeln und leuchten zu sehen. 

Der Superzoom ins Reich der Götter. 




Live at KEXP:




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018.

01.04.2019

Best Of 2018 ° Platz 4 ° Earth House Hold - Never Forget Us




EARTH HOUSE HOLD - NEVER FORGET US


"Memories. Because that's what we are, really. Memories." (Penelope Wilton)

Vielleicht liegt's an meiner katholischen Erziehung und der endgültigen Demütigung, gar in der Funktion als Messdiener Gottesdiensten beigewohnt und erwachsenen Menschen beim Ausleben ihrer zerebralen (und immerhin nicht erektilen) Dysfunktion erlebt zu haben, vielleicht ist es der Wunsch nach Vertrautem und am Ende des Tages: nach Sicherheit, Rituale so anziehend zu finden, dass ihre erfolgreiche oder -lose Integration in den Alltag über meine Gemütslage entscheiden können. Und vielleicht kommt es auch mit dem fortgeschrittenen Alter, denn noch vor fünf Jahren wäre das mit der Herzallerliebsten gemeinsame Einnehmen des ersten Kaffees am Morgen wegen unterschiedlicher Prioritäten und daraus resultierendem Zeitmangel unvorstellbar gewesen - heute ist es im besten Fall eine ganze Stunde quality time, die wir für die restliche Zeit des Tages nur selten im Überfluss kredenzt bekommen. Zumal in einem morgendlichen Setting, das einerseits noch so viel Verheißung und Hoffnung auf das, was da heute noch kommen mag verspricht (verbunden mit der nachhallenden Freude darüber, dass es dem "lieben Gott" (Rudi Assauer) offensichtlich noch nicht einfiel, unserer Existenz über Nacht ein jähes Ende zu bereiten), und andererseits noch ohne den nach Feierabend auf Seele und Herz verspritzen Klärschlamm der Lohnarbeit auskommt, der zur Ausführung halbwegs strukturierter menschlicher Interaktion und kognitiver Prozesse bisweilen etwas hinderlich sein kann. 

"Warum erzähle ich ihnen das, Hundskrüppel?" (Polt, o.s.ä.) 

"Never Forget Us", beziehungsweise die Auseinandersetzung mit "Never Forget Us" ist in meinem Emotionszentrum eng mit dem beschriebenen Ritual und den darin gemalten Bildern verknüpft. Das liest sich banal, und ich muss sie enttäuschen: vermutlich werden Sie, werter Leser, das schale Gefühl ebenjenes Banalen auch mit den nächsten Sätzen weder von der Netzhaut noch von ihrem Lebenszeitkonto kratzen beziehungsweise streichen können. Es muss sein, halten Sie sich fest: ein leichter Nieselregen an einem trüben, aber dennoch atmosphärischen topgelaunten und üerraschenderweise hellen Frühlingstag (jetzt besonders stark sein: ich teile diese helle Toplaune nur ganz selten!), eine leichte Brise Petrichor durchs gekippte Fenster, die sich mit dem Duft einer frisch gebrühtem Tasse Kaffee verbindet. Dazu - jetzt wird's final so richtig Punkrock: ein Spritzer Acqua di Parma aufs frischgebügelte und mittlerweile drei Nummern zu große hellblaue Hemd und "Never Forget Us" von Earth Hose Hold auf dem Plattenteller - das Vinyl selbstverständlich in enger farblicher Abstimmung mit der Oberbekleidung, nämlich auch in blau, wenn auch etwas deutlicher ins türkise/petrolige marschierend. Earth House Hold ist ein Alias von Brock van Wey - auf diesem Blog hauptsächlich Stammgast unter seinem Moniker bvdub - und nach langen Jahren des Planens und Wartens endlich auf A Strangely Isolated Place vertreten. 

Ich kann nicht mal sagen, ob sich das eben beschriebene Szenario wirklich eines Tages mal so abspielte; ich meine, wann bitte hat letzten Frühling mal geregnet, "LOL"(Till Schweiger), aber die emotionale Bindung zu dem Moment, der für mich grob unter "pures Glück" abgespeichert ist, ist stark - so stark, dass selbst der dunkle und nasskalte November in die Flucht geschlagen würde. Jedes neuerliche Hören von "Never Forget Us" bringt mich an einen guten Ort. Einen Ort der Ruhe und Kontemplation. Meditation. 

Wie klingt es? Vielleicht tatsächlich wie etwas, was bisher noch nicht zu hören war. In meinem letztjährigen Instagram Beitrag zu "Never Forget Us" schrub ich von atemberaubenden "next level sounds", weil ich die Kombination aus Brocks opulenter Ambientbühne, seinen klassischem Deephouse-Erinnerungen und den typisch souligen Vocalsamples einerseits, und der daraus erwachsenden Atmosphäre aus schwebender Melancholie und funkelnder Euphorie andererseits in dieser Form vorher noch nie gehört hatte. Möglicherweise gibt es aus diesem Grund auch einen Anteil in dieser Musik, der fremdartig erscheint, wie nicht von dieser Welt. Und ebenfalls möglicherweise ist es kein Zufall, eine weitere, eine zweite Platte in dieser einen entdecken zu können. Spielt man "Never Forget Us" nicht wie vorgesehen auf 33rpm, sondern auf 45rpm ab, morpht die Aura des Albums deutlich in Richtung House und entwickelt eine ganz eigene Dynamik, ohne dabei aber auch nur einen Beat der eigenen Identität zu verlieren. Auf links umgekrempelt, aber immer noch derselbe Stoff, aus dem die Träume sind. 





Eine auf mehreren Ebenen außergewöhnliche Platte, die angesichts Brock's bisherigem Schaffen mit der deutlichen Fixierung auf House unter diesem Projektnamen besonders stilistisch überrascht. A Strangely Isolated Place Labelboss Ryan Griffin berichtet, dass er und Brock schon lange über eine Zusammenarbeit nachdachten und nur auf den richtigen Moment warteten, bis Brocks Musik endlich (und erstmals) auf ASIP erscheinen sollte. "Never Forget Us" teilt die Leidenschaft und den Respekt der beiden Männer an den frühen klassischen House-Sound, der sowohl Inspiration als auch Basis für Brocks Musik ist und ist damit die perfekte Ergänzung zum Labelportfolio: Für mich ist "Never Forget Us" ein Gamechanger - ein Album, das in seiner Ausrichtung, seiner Ausstrahlung neues, bisher unberührtes Terrain betritt - im Außen und im Innern. Die Einführung in Brocks Musik mit dem Album "The Art Of Dying Alone" hat mein Leben verändert, und es hat auch neun Jahre später nicht aufgehört. Wie so viele seiner Veröffentlichungen hat auch "Never Forget Us" an meinem Lebensrad gedreht und wenn ich ich die Kamera von hier auf das große Bild aufziehe, dann hat es sich vermutlich schon lange nicht mehr so schnell gedreht. 


Pressung: ++++ (Bisweilen leise Pops, die aber das Gesamtbild nicht stören)
Ausstattung: +++++ (Klappcover, dicke, aber ungefütterte Papp-Innenhüllen, türkisblaues Vinyl. Fantastisches Art-Design)





Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2018.