30.03.2018

Best of 2017 ° Platz 3: Jordan Rakei - Wallflower




Platz 3: JORDAN RAKEI - WALLFLOWER


Im Oktober des letzten Jahres schrub ich an anderer Stelle über "Wallflower", das zweite Album des gebürtigen Australiers Jordan Rakei werde in der Jahresendabrechnung ganz sicher unter den ersten 5 zu finden sein. Nun ist es tatsächlich die Bronzemedaille geworden - und das ist, wie ich mir just in diesem Augenblick nochmal via Endlosschleife auf dem Plattenteller versichern lasse, nicht nur verdient, sondern sogar das untere vorstellbare Limit. Das ist eine sensationell gute Platte. 

Aufmerksam geworden bin ich auf den mittlerweile in London lebenden Multiinstrumentalisten bereits 2016. Das Coverartwork seines "Cloak" Debuts (erschienen auf Soul Has No Tempo), ein kunterbuntes und geheimnisvolles Gemälde von der kuwaitischen Künstlerin Zaina Al Hizami versprach wenigstens Interessantes - und ich sollte nicht enttäuscht werden. "Cloak" ist ein beeindruckendes Debut und zeigt bereits Rakeis Fähigkeit, aus rhytmisch raffinierten Kompositionen eingängige Refrains zu entwickeln. Fatalerweise war und ist die Vinylpressung von "Cloak" eine der furchtbarsten aller Zeiten, und so gab ich nach drei Versuchen (jeweils bei unterschiedlichen Mailorders bestellt) entnervt auf: die erste Lieferung hatte zwei Mal die A/B-Seite in der Hülle stecken, aber keine C/D-Seite - trotz Laminierung! Was zum Fick? Der zweite und dritte Anlauf sollte die negativen Kommentare auf Discogs bestätigen: ein einziges Kratzen, Schleifen und Springen. Ich habe wirklich noch niemals eine derartig miese Pressung gehört, aber das hält natürlich niemanden davon ab, "Cloak" immer noch zum Verkauf anzubieten. Ganz im Gegenteil, denn mittlerweile ist das Vinyl ziemlich rar geworden und kostet eine ordentliche Stange Geld. Augen auf beim Plattenkauf: so toll die Musik auf der Platte auch ist, ist hier ganz sicher ein anderes Format vorzuziehen. 



Die Vinylpressung von "Wallflower" hingegen ist fehlerlos und damit ganz so, wie man es von Ninja Tune erwarten konnte. Rakei ist mittlerweile zum britischen Spezialistenlabel für modernen Eklektizismus gewechselt und das macht Sinn: seine Musik zeigt Einflüsse aus Jazz, Rhythm & Blues, Hip Hop, Electronica, Soul und Reggae, die er hier noch mehr als auf "Cloak" zu einer homogenen, äußerst stimmungsvoll in Szene gesetzten Melange zusammenfügt. "Wallflower" ist nicht nur ernster und dunkler als der Vorgänger, es zeigt auch einen lyrisch deutlich intimere Seite des Musikers, der unglaublicherweise erst 25 Jahre alt ist: Rakei reflektiert in seinen Texten sein Leben als "Outsider" in sozialen, zwischenmenschlichen Situationen, zeigt sich auf "Wallflower" sehr persönlich und und wollte das auch im Coverartwork widerspiegeln: das Bild des kleinen Jungen mit dem überspannten Regenschirm ist der junge Jordan im australischen Brisbane:

"It's an image that's very personal to my family and me. It's a picture of me that used to sit in our house when we were growing up. Visitors would always comment on it. Because the album is so personal, I wanted to make sure I didn't overcomplicate the artwork. I was focused on portraying as much vulnerability as possible, and this photo definitely represents that."

Das fällt bei der Wohngemeinschaft Dreikommaviernull mit seinen ehemaligen Kindern des Grunge natürlich auf offene Herzen und geradewegs in sanft pulsierende Hosen: wir waren beide derart angetan von dem über Wochen auf heavy rotation laufenden "Wallflower", dass wir uns an einem kalten Novemberabend und nach einem wie gemalt maximal abgefuckten Arbeitstag ins 80 Kilometer entfernte Mannheim bewegten, um gemeinsam mit einer überraschend hohen Anzahl Besucher Rakei nebst seiner Liveband auf der Bühne zu bewundern. Wir würden es jederzeit wieder tun. In a heartbeat. 

Ich habe weiter oben von Rakei's "rhythmisch raffinierten Kompositionen" geschrieben und als Paradebeispiel kann, wenn nicht gar: muss "Sorceress" genannt werden; hier in einer leider nicht optimal aufgenommenen Liveversion aus New York. Es ist jedes Mal aufs Neue verwunderlich, wie prima das alles ineinanderfließt - und wie die Band es schafft, dabei nicht komplett auseinanderzufallen:




Und weil die Performance von "Talk To Me" beim letztjährigen North Sea Jazz Festival so umwerfend ist, gibt es das Video noch als extra Zugabe - auch wenn der Song vom Vorgängeralbum "Cloak" stammt. Was für ein Monsterdrummer das ist.



Erschienen auf Ninja Tune, 2017.


25.03.2018

Best of 2017 ° Platz 4: bvdub - Heartless



Platz 4: bvdub - Heartless



Der geneigte Leser weiß, dass ich über keinen anderen Künstler und keine andere Band so häufig geschrieben habe wie über den mittlerweile in Polen lebenden Brock van Wey. Das liegt nicht zwangsläufig nur an der Quantität seines Werks - "Heartless" ist das sage und schreibe 29.Album innerhalb von zehn Jahren - sondern an dem überwältigenden Einfluss seiner Musik auf mein Leben. Neulich, als die Vinylfreaks des Bildchen-Portals Instagram die neun Alben ins rechte Licht setzten, die ihr aller Leben veränderten, und Herr Dreikommaviernull also natürlich mitmachen musste, weil: why not?, da war es selbst für einen, der sich für solche Entscheidungen unter normalen Umständen erst mal ein halbes Jahr mit seiner Excel-Datenbank in einen unterirdisch gelegenen Höllenbunker ohne ausreichende Sauerstoffversorgung quetschen muss, überraschend schnell und streifenfrei klar, dass meine erste Berührung mit seinem Werk, dem 2010 erschienenen "The Art Of Dying Alone" als vorerst letzte musikalische Revolution in die Riege der schlechterdings sogenannten "Gamechanger" aufgenommen werden muss - obwohl dieser zu monumentalen Klanggebirgen aufgeschichtete Ambientsound zur damaligen Zeit zunächst undurchdringbar erschien. Zu sehr versuchte die Ratio zu verstehen, was hier passiert; zu schwer fiel es, sich von diesem Klumpen final wegkegeln zu lassen. Kontrollverlust. Beziehungsweise: die Angst davor. Erst im Laufe der der letzten sieben Jahre ging mir mehr und mehr das Licht auf - ich habe es mehr als nur einmal geschrieben und auch wenn's kitschig und abgehoben und naiv klingt: es ist Liebe. Es ist die reinste, aufrichtigste, ehrlichste, reichste Liebe. Der Kopf hat hier nichts verloren - es ist nur das Herz, das springt, trauert, leidet - und eben liebt. Brock van Wey, der von sich selbst sagt, dass er eigentlich nächtelang ausschließlich Videospiele spielt, wenn er mal gerade keine Musik macht, vertont Liebe. "Heartless", die erste Albumveröffentlichung Brocks auf Vinyl unter seinem bvdub Alias, steht in einer Reihe mit seinen großen Klassikern "Home", "The Art Of Dying Alone" und "Safety In A Number". Ein einziger Rausch.





Erschienen auf n5MD, 2017.

17.03.2018

Best of 2017 ° Platz 5: Tara Jane O'Neil - Tara Jane O'Neil



Platz 5 - TARA JANE O'NEIL - TARA JANE O'NEIL


Im Dezember 2016 schrieb ich über das zwei Jahre zuvor erschienene Album der US-amerikanischen Multinstrumentalistin Tara Jane O'Neil, "Where Shine New Lights" sei "möglicherweise die vollkommenste Verbindung ihrer experimentellen, bisweilen launischen Kunst und ihrem klassischen, in Blues und Folk verwurzelten Singer/Songwriter-Ansatz." Auf ihrem aktuellen, selbstbetitelten Album hat O'Neil die offensichtlichsten Experimente im Gitarrenkoffer gelassen und dem Singer/Songwriter in ihr die Oberhand gewinnen lassen. Das Ergebnis ist von beinahe so blendender Schönheit wie die Sonnenreflektion auf dem wunderbaren Coverartwork; eine betörend warmherzige Musik, der es trotz der im Vergleich zu früheren Arbeiten deutlich abgerundeten Ecken und Kanten erstaunlicherweise nicht an Tiefgang fehlt. Das liegt zum einen an den subtil im Sound versteckten Details, die Dank der durchaus großformatig inszenierten Produktion durchgängig wahrnehmbar sind, ein tiefes, sonores Brummen als Mutterboden für ihre sowohl perlenden als auch dürren Haarliniengitarren, das Zischeln der Becken, ihre zu Liedtexten transformierten Gedichte und die im Vordergrund stehende, glasklare Stimme. Das Schnarren der Gitarrensaiten - man meint manchmal gar, die Innenseite der akustischen Gitarre spüren, sehen, hören zu können. Zum anderen ist O'Neils Ansatz, und darauf legt die Künstlerin wert, nicht besonders konventionell zu nennen. Ihr Ziel ist es nicht, everybody's darling zu sein, ihre Akkordfolgen und Arrangements sind ungewöhnlich und bisweilen spröde - und trotzdem spielt diese Musik nicht in der Liga von Lo-Fi-Schlafzimmerproduktionen. Es ist ein Album des Reichtums der kalifornischen Sonne und des dazu passenden Lebensgefühls, heruntergekocht auf die erste Tasse Kaffee des Tages an einem friedlichen Frühlingsmorgen.  




Erschienen auf Gnomonsong, 2017.

10.03.2018

Best Of 2017 ° Platz 6: Slowdive - Slowdive



Platz 6: SLOWDIVE - SLOWDIVE


Ich hatte es an anderer Stelle bereits erwähnt: meine Beziehung zu Slowdives Comebackalbum sollte sehr persönlich und besonders werden. Denn als im Mai des vergangenen Jahres Chris Cornell starb, und sowohl ich als auch die Herzallerliebste über Wochen und gar Monate hinweg praktisch am Boden zerstört waren, lieferte "Slowdive" den Soundtrack zum Trauern - und zwar so ausgeprägt und nachhaltig, dass es für gleich ein paar Wochen nicht in Frage kam, diese Platte vom Plattenteller zu lösen. Sie schien wie festgeschweißt. Ich hätte keine andere Musik ertragen können. Mir ist darüber hinaus sowieso nichts bekannt, was diese spezielle Mischung ihres einzigartigen Sounds - eine sowohl melodisch als auch atmosphärisch kitschfreie Sicht auf Leben und Liebe mit zahlreich eingeflochtenen Extra-, Meta-, Superduper-, Obendrunter-Ebenen der prachtvollsten und reichsten Melancholie, die die Welt seit Marsilio Ficino jemals vertont gehört hat - selbst in einer weniger anspruchsvollen Vollendung kopieren könnte. Das ist alles lebensechte schwarze Galle mit darin schwimmenden Regenbogenschleifchenbooten. Vor allem erscheint es aber so plastisch und einfach zu verstehen: Das Licht und der Schatten. Die Umarmung und das Abwenden. Die Struktur und das Chaos. Das Leben und der Tod. Und da ist sie wieder, die niemals alt werdende Idee: die Suche zum Mittelpunkt des Lebens, des Guten, des Schönen. Im vorliegenden Fall gemeinsam mit dem Eindruck, den Weg zum Ziel wieder ein Stückchen abkürzen zu können. "Slowdive" hat mich tatsächlich getröstet. Nicht mit Thoughts and Prayers, nicht mit einem Lolli, nicht mit Schnaps. 

"Slowdive" hat mir einen Teil des Lebens erklärt. 

Pathos Olé!




Erschienen auf Dead Oceans, 2017.

04.03.2018

Best of 2017 ° Platz 7: Shuta Yasukochi - Short Stories




Platz 7: SHUTA YASUKOCHI - SHORT STORIES


Der Titel "Spätzünder des Jahres" geht an "Short Stories" des japanischen Künstlers Shuta Yasukochi - und da soll mir nochmal jemand sagen, das ganze Ambient-"Gschwerrl" (Polt) sei beliebig untereinander austauschbar. Für gut zwei Monate war mir außer einem gut gemeinten Achselzucken nicht viel zu entlocken, bis sich ganz allmählich der Wind drehte und die Zeit plötzlich stillzustehen schien. Verantwortlich dafür sind in erster Linie zwei Tracks, die sanft-schimmernde Klangflächen mit der bildhaften Idylle eines neu anbrechenden Tages voller Hoffnung meisterhaft miteinander verbinden und mit ihrem Fluss im Albumkontext das Kernstück von "Short Stories" bilden: "Izukohe" und vor allem "Daylight" knipsen das Licht auch in der der trübsten Birne an. Und plötzlich glimmte auch mein Glühwürmchen (Euphemismus!): seit Juli 2017 befindet sich diese Platte in meinem CD-Wechsler und versüßte mir und der Herzallerliebsten somit den ein oder anderen Morgen zur ersten Tasse Kaffee des Tages. Sie ist bis heute der Rückzugsort der Stille und des Friedens, interessanterweise wahrnehmbar selbst in einer Lautstärke, die nur wenig mehr als Hintergrundrauschen ist. Lautlose Präsenz. Subtile Einkehr. Ein beeindruckendes und kerzengerade in das sowohl qualitative als auch stilistische Raster von Archives passendes Debut. 




Erschienen auf Archives, 2017.