24.02.2017

2016 ° Platz 10 ° Brazzaville - The Oceans Of Ganymede




Mein musikalisches 2016 war ein bemerkenswertes Jahr. Dass sich die virtuell mit mir herumgeschleppte Liste mit den besten Platten über das Jahr lässig und beinahe wie von selbst füllte, ist dabei nicht der außergewöhnlichste Punkt; dass sich indes unter den 20 Gewinnern des letzten Jahres eine gar nicht so kleine Anzahl von Alben tummeln, die einen so großen Eindruck auf mich und meinen Alltag der vergangenen Monate machten, die mir so ans Herz gewachsen sind, dass sie aus meinem Leben gar nicht mehr wirklich wegzudenken sind, ist hingegen beispiellos. 

"The Oceans Of Ganymede" ist eines dieser Alben. Meinen Sommer 2016 erlebte ich vor allem mit dieser Musik, und es gibt so viele Bilder, die mit ihr verbunden sind: als ich wegen des plötzlich in den Song kriechenden Saxofons in "Fanny" in der heißen Badewanne lag und trotzdem Gänsehaut bekam. Der brütend warme und daher auf der faulen Haut und in eiskaltem Gin Tonic verbrachte Samstagnachmittag, an dem sich die Sonne zwischen den heruntergelassenen Jalousien (und Hosen) ins Wohnzimmer erbrach und der Reggaebeat und die frech geklimperten Klavierspitzen von "Rockaway Beach" das Fernweh an die Sonnenseite New Yorks beinahe unerträglich werden ließ - und dabei war ich weder jemals in New York, noch an der Rockaway Beach:

Tiny sand dunes 
In the midday sun 
Tattooed young Dominicans 
A gentle breeze from New York City 
Salt and diesel fumes 
And life seemed not so out of reach 
That day on Rockaway Beach 

She seemed so serious 
And so debonnaire 
Salt water dryin' in her hair 
Her eyes closed tight against the glare 
Life's hard at 23 
But life seemed not so out of reach 
That day on Rockaway Beach 

Candy wrappers 
In the sand 
Old men strollin' down the strand 
Airplanes off to distant lands 
Full of hopes and dreams 
And life seemed not so out of reach 
That day on Rockaway Beach




Oder die morgendlichen Fahrten ins Büro durch den Frankfurter Downtown-Sommer mit "Happy Man" und "Aurelia", die mit ihrem Drive gleichzeitig Sorgenglätter und aurale Vitamin-D-Spender waren. 

Noch heute höre ich "The Oceans Of Ganymede" sehr regelmäßig. Und weil ich bei unseren Bandproben wohl derart blind und naiv ins grenzenlose Schwärmen geriet, und die beiden Blank When Zero-Jungs komplett wahnsinnig und außerdem komplett toll und großartig sind, kann ich jetzt sogar die komplette Brazzaville-Diskografie, erhältlich bei Bandcamp, ebenfalls sehr regelmäßig hören - was ich, nehme ich die Nerd-Statistiken meines Last.fm Kontos für bahre Münze, auch tatsächlich und immer noch tue. 

Es gibt "keine Note auf dieser Platte, die nicht den Geist Barcelonas zwischen urbaner Freiheit, Ausgelassenheit und Melancholie mit dem bittersüßen Fotofilter aus dem Sommer 1976 einfängt. Es gibt keine Note auf dieser Platte, die ohne herzergreifende Wärme, Liebe und Hingabe gespielt ist, keine Note, der nicht die Sehnsucht nach Frieden und Schönheit innewohnt." - das schrieb ich im Mai 2016 in meinem ersten Text zu "The Oceans Of Ganymede". 

"Mehr habe ich nicht hinzuzufügen." (Polt)




Erschienen im Eigenvertrieb Brazzaville, 2016.

18.02.2017

2016 ° Platz 11 ° Young Magic - Still Life



"Still Life" ist urbaner Next-Level-Shit für das Großstadtgeflacker. Für nächtliche Taxifahrten durch Downtown. Für kalten Toast mit einem Glas warmer Reismilch zum Abendessen. Für melancholisch auf der Fensterbank sitzen und rauchend in den Regen gucken, während eine Leuchtreklame für die abgerissene Cocktailbar im Erdgeschoss zwei aufgespießte Oliven in Neonrosa tanzen lässt. In Manhattan, versteht sich. Wenn es dort noch abgerissene Cocktailbars gäbe, versteht sich. Dabei sind die wohl alle...abgerissen. Pun intended.

Ein tiefenromantisches Album über die Suche nach sich selbst. Ich habe über die Auseinandersetzung mit "Still Life" in den vergangenen Monaten mit einiger Verblüffung gelernt, wie sehr es seine Entstehungsgeschichte reflektiert und wie stark mich diese Musik nicht zuletzt deswegen in ihren Bann zieht. Denn was oftmals als beiläufiges Hören begann, entwickelte sich nicht nur zu einem beinahe aktiven Austausch mit Sängerin Melati Malay und den mystisch aufgeladenen Geschichten der Erlebnisse Ihrer Weltreisen, der Selbstsuche auf den Spuren des verstorbenen Vaters. Auch das kaskadierende Soundgetröpfel von Isaac Emmanuel ist in seinem Wechselspiel zwischen perkussiver Stimulanz und nebliger Zurückhaltung eine reine Wohltat; in einer Gegenwart zumal, in der es kaum bellender, galliger und schriller zugehen könnte. 

Eintauchen & Abtauchen. Am Ende ist es wahrscheinlich nur Popmusik. Und ich bin echt froh darüber, sie erleben zu dürfen.




Erschienen auf Carpark, 2016.


Noch mehr über "Still Life" lesen? Hier geht's weiter.


11.02.2017

2016 ° Platz 12 ° Oliver Schories - Relatively Definitely



"But honestly, since I make music I never heard any DJ play one of my original tracks." (Oliver Schories)

Ich kann nicht mehr genau sagen, warum das letzte Album des "Bremeners" (Thomas Berthold) lediglich in meiner 2015er Nachzügler-Liste und nicht etwa unter den nominell 20 besten Scheiben des Jahres auftauchte - da hätte es gar nicht mal so irre streng genommen nämlich hingehört. Der Sommersoundtrack 2015 wurde zweifellos zu einem ziemlich guten Stück von "Fields Without Fences" bestritten, einem schwül-flirrenden Gemisch aus Techno und wärmenden Downbeatsounds, das die Sonne immer nochmal ein bisschen heller und heißer machte. Jedenfalls: das passiert mir nicht nochmal! 

Nur ein knappes Jahr nach "Fields Without Fences" erschien mit "Relatively Definitely" gleich die nächste Zusammenstellung von Songs, die Schories als persönliches "Best Of" betrachtet, und erneut bin ich total verschossen. Seine Tracks sind nicht für die Tanzfläche, sondern für Abende vor dem Plattenspieler oder für lange und nächtliche Autofahrten gemacht - also genau das, was neben Lohnarbeit, Katzenklo und Decke anstarren mein Leben zu einem Großteil ausmacht. Und wäre Herr Dreikommaviernull nicht ganz so unfähig gewesen und hätte er also die MP3s von "Relatively Definitely" ordentlich getaggt, wäre das Album sicherlich in den Top 5 der meist gehörten Platten auf meinem überraschenderweise immer noch existenten Last.Fm-Profil  aufgetaucht. Die größte Stärke von Schories ist sein Spiel mit eingängigen Melodien, dieser unwiderstehlichen Straight-Forward-Attitüde der stoisch durchgebummsten (Huch!) Bassdrum und vor allem den daraus entstehenden Stimmungen der Tracks. Melancholisch? Ja, aber irgendwie nicht so richtig. Happy Frohsinn-Feuerwerk? Dafür sind andere zuständig. Drive? Aber Hallo! Positive und relaxte Vibes? Wie ein Abend mit stundenlangem Oralsex auf der zwei mal zwei Meter großen Partypizza. Und der Mann hat im Jahr 2016 ein paar ganz dicke Parties gefeiert: 108 Shows und 146 Reisetage auf vier Kontinenten. 

"Quality will find its way" lautet das Motto. Was ja auch ein Grund dafür ist, warum ihr das hier gerade lest. 





Und für die nächste Gartenparty im Sommer 2017 sein Set beim letzjährigen Bespoke Musik Sunset Boat Festival in New York:




Erschienen auf SoSo Records, 2016.

04.02.2017

2016 ° Platz 13 ° Bvdub - Yours Are Stories Of Sadness




"Yours Are Stories Of Sadness" ist ein hochverdichtetes Konzentrat aus dem bisherigen Schaffen des Kaliforniers Brock van Wey. Waren seine Alben aus den vergangenen Jahren meist bis auf die letzte Sekunde mit epischen, jeweils zwanzig bis dreißig Minuten dauernden Ambient-Operetten vollgepackt, in denen er seine - und wenn er schon dabei war: Deine auch! - Gefühlswelten ausbreitete und in diesem Rahmen jeden Augenblick mit überschäumenden Melancholiefontänen bis zum beinahe physisch erfahrbaren Zusammenbruch auskostete, ist das im Oktober 2016 erschienene Werk ein Bruch mit dieser Tradition. Zwar reizt "Yours Are Stories Of Sadness" mit einer Spielzeit von über 78 Minuten das alte CD-Format noch fast bis zum letzten Byte aus, benötigt dafür aber nicht weniger als 19 Tracks. Den Hintergrund für das Konzept beschreibt Brock so:

"In 2012, I was singing karaoke in the lavish VIP suite of the most opulent bar of Shaoxing. Hours in, at the height of drunken revelry, suddenly, literally out of nowhere, one of the hired girls walked over to me from the other end of the room, and whispered in my ear: 

"When I saw you walk in, I knew yours was a story of sadness." 

These are flashes of memories from that time... broken fragments, and spaces in-between... each a portrait of instances I have remembered that moment, each its own place and time. Every time I remembered that moment in the years that followed, I made a brief tribute to the beginnings of that realization, and the starting point for my mental wanderings that followed... putting that initial realization to sound, before going the rest of the journey in my own head.(...)

4 years later, these were the 19 times I remembered that moment... they will surely not be the last."

Es ist ungewohnt, diesen sonst so passionierten Langstreckenläufer plötzlich auf der Kurzstrecke zu begleiten - und das ist weniger eine wertende, als eine emotionale Feststellung. Über sechs Jahre hatte ich mich an ausdauerndes Suhlen im bittersüßen Weltschmerz-Bällebad mit seinen Alben als Soundtrack gewöhnt, nun ist manchmal schon nach dreieinhalb Minuten alles vorbei. Melancholicus interruptus, wie der Schwachkopf Lateiner sagt. Außerdem ist's auch nur die halbe Wahrheit: die typischen Kennzeichen seiner Musik lassen sich sowohl in Aufbau als auch Textur seiner Sounds immer noch dechiffrieren, und selbst in der Melodieführung ist es nicht völlig unmöglich, seine Signatur zu erkennen - der Unterschied zu seinen zwanzigminütigen Brocken ist auch nicht die ausbleibende, sondern die deutlich zügiger ablaufende Entwicklung seiner Motive im Rahmen dieser Tracks. Tatsächlich habe ich nie das Gefühl des Unfertigen oder des Unerfüllten, wohl aber den Eindruck, nicht in explizite Momente dieser Platte komplett eintauchen zu können, und ich vermute nach monatelanger Auseinandersetzung mit diesem Gedanken den Grund dafür in der Zusammenstellung dieser Momentaufnahmen: Brock hat sicher nicht ohne Grund erstmals auf Songtitel verzichtet. Der eigentliche Star des Albums ist das Album als solches, dessen Spannungsbogen weniger innerhalb der vierminütigen Grenzen einzelner musikalischer Mosaiksteinchen, sondern in den kompletten 78 Minuten von "Yours Are Stories Of Sadness" liegt. 

Das Resultat hat schlussendlich Parallelen zu den Ergebnissen seiner gewohnten Arbeitsweise: ich höre "Yours Are Stories Of Sadness" oft in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, mit den Gedanken auf Weltreise in die eigene Vergangenheit zur Selbstbeobachtung, schwebend, etwa zwei Meter über dem Erdboden.





Erschienen in Eigenregie, 2016.


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