OVERKILL - THE ELECTRIC AGE
Chartplatzierungen sind im Metal seit einigen Jahren schwer en vogue. Das ist in einer Szene, die sich gerne als besonders unangepasst und rebellisch geriert nicht nur kurios, sondern auch noch ein klein wenig lustig. Ich vermute dahinter den Wunsch, Rückschlüsse auf die Verkaufszahlen ziehen zu können, Zahlen, die von Labels und Bands traditionell im Atombunker aufbewahrt werden - was in den meisten Fällen angesichts der zu vermutenden eher suboptimalen Ergebnisse sicherlich nachzuvolliehen ist. Und machen wir uns nix vor: wir alle wüssten gerne, was die ein oder andere Lieblingsband so an Tonträgern/Downloads vertickt. Die wiedererstarkte New Yorker-Thrashlegende Overkill hat mit ihrem sechzehnten Studioalbum erstmals in ihrer 32 Jahre andauernden Karriere tatsächlich die US-amerikanischen Billboard Top 100 geknackt und fand sich in der ersten Veröffentlichungswoche auf Platz 77 wieder. Das ist für eine Band, die nicht nur für mich spätestens ab der äußerst uninspirierten und ausgebrannten "From The Underground...And Below" Platte von 1998 praktisch weg vom Fenster war, höchst überraschend, um nicht zu sagen sensationell. Und man fragt sich, warum das dem bisher meistverkauftesten und gleichzeitig umstrittensten Album "I Hear Black" von 1993 nicht gelang. Wie kommt's also? Warum erleben die alten Säcke ausgerechnet jetzt ihren zweiten Frühling, wo doch Mitte der Nullerjahre nur noch die hartgesottensten Alleskäufer ihre Kröten für eine neue Overkill-Scheibe über den Tresen warfen?
Die Antwort liegt im letzten Album "Ironbound". Nuclear Blast nahmen sich der beinahe toten Band an und ließen ganz offensichtlich wenigstens soviel Vorschuss springen, damit sich Sängerlegende Blitz nebst Gefolgschaft wenigstens mal wieder sowas wie einen Sound auf einem Album leisten konnten. Zusätzlich warf das Donzdorfer Label ihre berüchtigte Promomaschine an, und Overkill verwendeten ein paar mehr Elemente des klassischen Heavy Metals als üblich in ihren Songs. Eingänge Refrains, hier und da gab es melodische Twinguitars und die besonders zur Frühphase der Band typischen Mitgröhlnummern nebst passenden "United We Stand"-Lyrics. Und ein paar alte Exodus-Riffs hat man auch noch in der Studioschublade gefunden. Wo bereits "Ironbound" sehr erfolgreich war, fährt "The Electric Age" nun die Früchte dieser Taktik ein - die Produktion ist im Vergleich zum Vorgänger vor allem im Schlagzeugbereich druckvoller und moderner (was wenig überraschend zu Lasten der Natürlichkeit geht), und die Riffs versprühen stellenweise den Glanz alter Großtaten, als die New Yorker ihren Punk und Hardcorewurzeln noch etwas mehr Auslauf gönnten. Die Band hat außerdem alle verfügbaren Handbremsen gelöst und brettert furios durch zehn neue Kompositionen.
Ich war ja bisher immer der Ansicht, dass ein Overkill-Album immer nur so gut ist wie die Gitarristen, die auf ihm spielen. Für mich ist der Ur-Gitarrist und ehemalige Hauptsongwriter Bobby Gustafson mit seinem Einfallsreichtum und seinem einzigartigen Sound immer noch das Maß aller Shreddinge (beanspruche erneut Copyright!); das Nachfolgerduo Merrit Gant und Rob Cannavino benötigte auch dementsprechend zwei Alben Eingewöhnung, bis sie sich auf dem 1994er "W.F.O." in voller Pracht ins Nirvana riffen konnten. Deren Nachfolger Joe Comeau und Sebastian Marino wiederum konnten sich auf den schwachen Alben "The Killing Kind", "From The Underground...And Below" und "Necroshine" nicht entscheidend durchsetzen, und das nun seit 2001 existierende Duo Derek Tailer und Dave Linsk hat die vier Alben andauernde kreative Schwachstelle an den sechs Saiten erst mit "Ironbound" dichtmachen können. Mittlerweile sind die beiden zu einem prächtigen Gespann herangereift, inklusive der immer wieder zu hörenden spirituellen Verneigung in Richtung alter Riffs von Bobby Gustafson.
"The Electric Age" hat zweifellos Charme; Overkill klingen ganz im Gegensatz zu den Comebackalben ihrer ollen Thrashkollegen wie Forbidden oder Heathen, als seien die Buben in den letzten 20 Jahren eingefroren gewesen und nun pünktlich zum Studiotermin aufgetaut worden. Ich bin wirklich ein überkritischer Penner mit absoluten Vollhohl-Maßstäben, wenn es um meinen alten Liebling Thrash geht, aber es ist wirklich verblüffend, wie frisch und kraftvoll die alten Säcke immer noch oder schon wieder klingen. Das ist auch der Grund, warum die Platte wirklich soviel Spaß machen kann. Selbstverständlich gibt es die üblichen Unzulänglichkeiten - der Sound ist mir persönlich zu klinisch und zu modern, die Kosakenchöre funktionieren nicht, die Selbstzitate nehmen fast schon Maiden-typische Ausmaße an und insgesamt dauert das Album wieder mal viel zu lange, aber es ist die wie Pech und Schwefel herabregnende Energie und die Power, die vieles wieder wett und "The Electric Age" zur vielleicht besten Overkill-Scheibe seit dem 1994er "W.F.O." macht. Das ist ganz bestimmt mehr, als ich überhaupt nochmal von einem Overkill-Album erwartet hätte, weshalb sich die Platte sicherlich noch das ein oder andere Mal im Player drehen darf. Hut ab.
Erschienen auf Nuclear Blast, 2012.