MARION BROWN - WHY NOT?
Zwei Dinge fallen mir sofort ins Ohr, sobald sich die Nadel auf "Why Not?" absenkt. Erstens: der Beginn des Openers "La Sorrella" mit Browns langgezogenen Tönen, die die majestätische Melodie entwickeln, wecken umgehend Erinnerungen an die stark sprituell geprägten Mittsechzigerwerke von John Coltrane - was nur wenig verwundert, wenn man weiß, dass Brown mit Coltrane an dessen Meilenstein "Acension" mitarbeitete. Zweitens: Pianist Stanley Cowell. Sein Spiel begeistert mich ab der ersten Sekunde. Er lässt sich tief in seine Töne fallen, reiht sie auf, schwingt mit, schlägt überraschende Melodieschneisen durch das Schlagzeuggewimmel Rashied Alis und harmoniert blendend mit dem Flirren von Bassist Norris Jones. Cowell thront über dieser Aufnahme.
Damit gilt es nicht, die Leistung und Präsenz der anderen Musiker zu unterschätzen. Ich bewundere den Altsaxofonisten Marion Brown schon seit einigen Jahren, tatsächlich gehörte er zu meiner ganz persönlichen Speerspitze, als ich mich, noch etwas grün hinter den Ohren, langsam in das Jazz-Spektakel vorstolpern ließ. Sein Album "Porto Novo" hat mir seinerzeit böse den Kopf verdreht; zugegebenermaßen geschah das zu einer Zeit, in der es mir nicht laut und frei und wild genug zugehen konnte. Aber Brown war selbst dann, wenn er dem Affen ordentlich Zucker gab, eben nicht nur laut und frei und wild, er hatte stets einen hymnenhaften Auftritt in der Hinterhand. Es ist nicht nur das Zusammenspiel der vier Herren auf der Ballade "Fortunato", das die Komposition zu einer Landschaft aus Samt und Seide werden lässt; ein Blick auf sanft zerklüftete Melancholie formt Brown mit der großen "on the top of the mountain"-Geste zu einem einheitlichen, runden Ganzen ab, ohne ihr die subtil brummende Dissonanz zu nehmen.
Der Titeltrack läutet die lebhaftere B-Seite ein. Das Quartett agiert nun deutlich freier, hier gibt es praktisch nichts, was sich außer den rasenden Arpeggios Browns im Kopf festsetzt. Furios walzen sich insbesondere Ali und Jones gemeinsam durch den Sturm, den sie selbst entfachen. Trotzdem ist ihre Feinabstimmung sensationell - wenn ich den beiden durch die ersten zwei Drittel des Stücks folge und erlebe, wie sich ihre Kommunikation im Schlagzeugsolo Alis auflöst, wie Ali die Toms einsetzt, und wie ich im Anschluss daran bemerke, dass da vorher Jones nanometergenau den Bass drüberwischte, dann bin ich zunächst mal ordentlich baff. "Homecoming" zum Abschluss ist dann eine Mischung aus Browns Talent für die große, sakrale Hymne und einer Menge von freiem Humor. Die überraschenden Breaks und Stopps lassen meine Mundwinkel ganz natürlich nach oben schießen, und es ist gut vorstellbar, wieviel Spaß das Quartett bei den Aufnahmen hatte. Dabei ist es nun Cowell, der von der Leine gelassen wird und mit Metriken, Melodien und Rhythmen allerhand Schabernack treibt. Browns Ton erinnert hier bisweilen an die Mittsechzigerarbeiten von Jackie McLean: er hat viel seiner Schärfe in seinem Saxofon, vielleicht an den Ecken etwas abgerundet, aber gleichfalls eine markante mehrdeutige Ansprache. Seine Attacken wurden bei "Homecoming" in den Vordergrund gemischt, so scheint es mir, und genau dort sind die Parallelen gut zu erkennen. Es schwingen einige melancholische Bluesfetzen unter dem vordergründigen Noise mit, und plötzlich entfaltet sich dieser Ton in viel mehr als das, was auf einer flachen Wahrnehmung präsentiert wird, er explodiert regelrecht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein weiteres Album Marion Browns aufmerksam machen: das 1970 beim Münchener Label ECM erschienene "Afternoon of a Georgia Faun", einer Collage aus Kraft, Vision und Klang. Vielleicht schreibe ich auch über diesen Meilenstein in Browns Oevre demnächst ein paar Zeilen, verdient hätte er es ohne jede Diskussion.
Erschienen bei ESP, 1966.