03.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 18: Birds Ov Paradise - Memorial




BIRDS OV PARADISE - MEMORIAL


Ich hatte an anderer, früherer Stelle dieses Countdowns ganz möglicherweise schon das ein oder andere Mal durchblicken lassen, dass 2022 das abgefuckteste Scheißjahr seit exakt zwanzig Jahren war, und als im Februar das ganze Unheil seinen Lauf nahm, ich also von Arztpraxis zu Arztpraxis lief und wieder jene lähmende Angst spürte, die mich bereits früher um Schlaf, Energie, Lebenskraft und -freude brachte, war "Memorial" beinahe jeden Tag und über volle zwei Monate Bestandteil meiner musikalischen Morgenroutine. Weil es mich so beruhigte wie es keine andere Musik vermochte. 

Meine erste Begegnung mit David Sabels Projekt fand im Laufe des ersten Coronajahres statt. 2020 begann ich damit, mich noch tiefer mit den über das Ambientgenre hinausgehenden Spielarten elektronischer Musik auseinanderzusetzen und schaute mich beim im Süden Deutschlands ansässigen Mailorder deejay.de um. Und nicht nur ist ihr Reservierungs- und Sammelsystem mein Ruin, sondern auch die sehr bequemen Möglichkeit, in neue Platten reinzuhören. Bei Birds Ov Paradise' "Köpp", der 12-inch aus dem April 2020, war es nach wenigen Sekunden klar: das ist sehr spezielle Musik. Sehr hypnotischer, sehr treibender Techno - und doch melodisch flackernd und durchlässig für die emotionale Tiefengrundierung, die elektronischer Musik nicht selten kategorisch abgesprochen wird. Meistens von Menschen mit eigener Tiefengrundierung in der Stärke eines Stücks recycelten Toilettenpapiers, das selbst in unbenutztem Zustand seine olfaktorische Herkunft nie so ganz verschleiern kann. Mit "Köpp" war also die Tür weit offen für die Anwendung meiner aus dem Metal herübergeretteten Loyalität. Wer mich als Fan erstmal am Arsch kleben hat, bekommt mich so leicht nicht mehr los. 

"Memorial" ist nach einer Reihe von 12-inches das Debut von Birds Ov Paradise. Erschienen auf dem schwedischen Label Hypnus, die in der Vergangenheit unter anderem das nach wie vor brillante Debut "La Via Della Seta" des italienischen Duos Primal Code veröffentlichten. Vermutlich gibt es kein Label, bei dem diese Musik besser aufgehoben wäre. "Memorial" entstand während des ersten, praktisch weltweiten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020. David entwickelte in dieser Zeit ein Klangtagebuch für die Menschen um ihn herum, die ihm nahe stehen. Jedes Stück trägt den Namen einer geliebten Person. Eine Ode an die Freundschaft, an die Verbundenheit, die Gemeinschaft, den Zusammenhalt - und die Liebe. Vielleicht findet das Konzept auch deshalb so viel Widerhall in mir, weil meine emotionale Entwicklung zu all jenem Klimbim mittlerweile eher in der untersten Schublade des Eisfachs angekommen ist. Zwei Jahre Corona haben für einen, der all zu argem zwischenmenschlichen "Gedöns" (Gerhard "Gecht" Schröder) seit jeher, ich formuliere es sehr zurückhaltend: skeptisch gegenüberstand, endlich genau jene nun völlig akzeptierten Entschuldigungen parat gehabt, die im prä-pandemischen Zeitalter als verschroben und eigenbrötlerisch galten. Diese Platte stellt dieser Tendenz einen unironischen und überraschend unkitschigen Kontrapunkt gegenüber. Ich kann zwar auch als professioneller Ja-Sager und "Gummimann" (Antitainment) nicht aus meiner Haut, aber ich kann diese Musik darunterkriechen lassen. Fürs gute Gefühl.

Und scheißrein, es macht mir ein gutes Gefühl! Die emotionale Wärme, die "Memorial" über den konzeptionellen Überbau einerseits, und den Klang und die hypnotischen Tracks andererseits ausstrahlt, ist unwiderstehlich. Es knistert wie ein frisch entzündetes Kaminfeuer, rollt den flauschigsten (Asbest-)Flokati des Universums auf den Boden der Waldhütte in den schwedischen Wäldern aus, Saunaaufguss Lavendel-Melisse, Glühwürmchen. Hochverdichtete Tiefsinnigkeit im Zeichen des Stechapfels. 

Ich will hier nie wieder weg. 

Vinyl: Meine Version auf schwarzem Vinyl (neben der es auch noch eine in Pink/Rosa/Lachs/Magenta/wasweißdennich gibt) ist hey-okay. Platten von Hypnus können machmal Probleme haben, aber meistens sind die dann nicht schwerwiegend. Das Cover-Artwork ist angemessen abstrakt, und vor allem die für Hypnus typischen abgerundeten Kanten des Covers sind immer wieder ein echter Hingucker. (++++) 


    



Erschienen auf Hypnus Records, 2022.

25.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 19: marine eyes - chamomile



MARINE EYES - CHAMOMILE

Ein großes Versäumnis, das der Verzicht auf eine Bestenliste fürs Jahr 2021 auf diesem Blog mit sich brachte, ist die bisherige  Nichterwähnung von marine eyes, einem Ambientprojekt von Cynthia Bernard. Ihr Debutalbum "idyll" brachte mich auf meinem Instagramkanal ins rhetorische Trudeln:

"Sounds as if the vibes from The Sea And Cake's music have an out of body experience under an almond tree in full blossom on the Samoan Islands, right after getting a serious dose of muscle relaxants (life goals, btw!). So peaceful and soothing, you can't help but get lost in it."

Und auch wenn's in so illustren wie professionellen Zirkeln ein bisschen cringe wirkt, sich erstens selbst zu zitieren und sich zweitens dann auch noch selbst auf die Schulter zu klopfen, sei's drum: da stimmt ja immer noch jedes Wort. "idyll" war das reinste, sanfteste, friedvollste Weiß der Welt. Cynthias zweites Album, das im gleichen Jahr veröffentlichte "Unfailing Love", ist in Zusammenarbeit mit Past Inside The Present-Gründer zaké entstanden (gemastered übrigens von niemand Geringerem als Stephan Mathieu) und bekam im direkten Vergleich ein wenig mehr Erdung und Melancholie unter die Schwerelosigkeit gelegt. 

Als im Oktober des letzten Jahres unser Hund Fabbi schwer krank wurde, und ich unter seelischer Betäubung versuchte, die Tage ohne einen oder dreizehn Nervenzusammenbrüche zu überstehen, wurde mir "chamomile" ein Begleiter in dieser von Schlaflosigkeit und großer Traurigkeit geprägten Zeit. Mir erschien die Ansprache dieser Musik als intuitiv unemotional. Sie war einfach...da. Sie forderte nichts ein, sie kam mir nicht ungefragt zu nahe - sie tröstete einfach nur. Sie füllte den Raum um mich herum mit einem Kokon aus tausenden kleinen Lichtpunkten, mit Verständnis und Zuspruch, damit ich nicht fallen konnte. Ein Seraphim. 

"chamomile" kann mir meine Angst vor Krankheit, Tod und Verlust nicht nehmen. Aber es macht den Umgang mit den Erlebnissen und Erfahrungen einfacher. Es ist magische Musik, die das Leben, den Augenblick und das Universum feiert.

--

Vinyl: Meine Past Inside The Present-Pressungen sind leider nicht immer makellos, was bei der im Allgemeinen sehr verhaltenen Musik problematisch werden kann. Meine "Cocoon White"-Version von "chamomile" ist insgesamt zufriedenstellend, aber nicht perfekt. Das Cover-Artwork ist ein Träumchen und so friedvoll und transparent-schimmernd wie die Musik.


   


Erschienen auf Past Inside The Present, 2022.



19.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 20: Blood Incantation - Timewave Zero




BLOOD INCANTATION - TIMEWAVE ZERO

Mein Text zu "Hidden History Of The Human Race", dem Durchbruchsalbum von Blood Incantation aus dem Jahr 2019, endete mit der Einschätzung, gerade einem der ungewöhnlichsten und visionärsten Death Metal Alben aller Zeiten zugehört zu haben. Die Inszenierung mittels technischem Death Metal, sphärischen Ambientsounds, spirituell-kosmischen Texten und des Science Fiction-Artworks, bestäubt mit dem süßen Pulver psychoaktiver Substanzen ist einzigartig, die Überzeugung und die Kompromisslosigkeit, die aufgebracht werden muss, um eine solche Platte zum Leben zu erwecken, inspirierend. In Zeiten, in denen Rockbands im Allgemeinen und Metalbands im Besonderen, vor allem darauf bedacht sind, möglichst wenig Mut, Identität (die eigene, zumal), und Vision zu zeigen, weil das Publikum mittlerweile so konditioniert ist, bei der kleinsten Normabweichung entweder den Vorgesetzten sprechen oder gleich den ganzen Laden in die Luft jagen zu wollen, sind Bands wie Blood Incantation Gold wert. Sie müssen wie ein Spix Ara in Obhut derer genommen werden, die sich der kreativen Freiheit und dem Überleben von Abseitigem, Extremen, Obskurem verschrieben haben. 

Damit sind wir bei "Timewave Zero", einem reinen Ambientalbum in Stile der progressiven und noch in den Kinderschuhen steckenden elektronischen Musik der 1970er Jahre. Gitarrist Paul Riedl weist darauf hin, dass die Band schon vor über zehn Jahren wusste, dass ihr drittes Album ein reines Ambientprojekt werden sollte: 

"Our band since 2011 was saying we're going to make Morbid Angel, Gorguts, Disincarnate, and Death-style death metal mixed with the eccentricity of Lykathea Aflame, later Gorguts, mystical death metal like StarGazer. Our second record is going to have a green logo like "Domination" [dem vierten Album von Morbid Angel - Anmerkung d. Redaktion], and our third record is going to be ambient. Literally over 10 years ago we said that in the practice space." 

Schon lange ein fundamentaler Bestandteil ihres Death Metal Sounds und vielleicht noch wichtiger: ihres Selbstverständnisses, erstrecken sich die über zwei Movements verteilten acht Kompositionen nun über ein ganzes Werk. Riedl sagt "We don't play games, man", und es ist klar, dass "Timewave Zero" kein Gimmick ist, keine schnell eingeschobene Nummer, die schlicht die Wartezeit zur nächsten Death Metal-Kanone verkürzen soll. Es gibt auch keine Diskussionen darüber, einen neuen Projektnamen zu verwenden. Das ist die Band Blood Incantation, und die Mitglieder der Band Blood Incantation mögen elektronischen Ambient - und dann macht die Band Blood Incantation eben ein elektronisches Ambientalbum. So einfach ist das manchmal. Ich weiß nicht, ob die Verantwortlichen A&Rs bei Century Media die Angstattacken mittlerweile in den Griff bekommen haben, aber an dieser Stelle darf man das Label ruhig mal für das Vertrauen und den Mut beglückwünschen. 

Die Sache ist die: eigentlich hat mich die Band mit so einer Geschichte schon im Sack, bevor ich auch nur einen Ton von "Timewave Zero" gehört habe. Dass mir Ambient einstweilen näher steht als Death Metal oder Rockmusik insgesamt, hilft natürlich dabei, jede Vorbehalte hinsichtlich der stilistischen Ausrichtung und des zumindest temporären Stilwechsels abzulegen. Mehr noch, ich umarme dieses knapp über der Grasnarbe schwebende und mit Drogen eingenebelte Raumschiff mit Haut und Haaren. Dabei ist "Timewave Zero" kein heller, leichter, ätherischer Ambient, er ist nicht "relaxt" oder "gelassen". Ganz im Gegenteil. Es liegt Schwermut über und Mystik unter dieser Platte, Haltung und Gravitas. Es ist unvertraut, außerweltlich - und fordert deshalb Konzentration ein. Die Band weist in Interviews etwas bemutternd darauf hin, dass sie für "Timewave Zero" nicht ziellos durchs Nichts delirieren, sondern sich in einem durchkomponierten Werk aufhalten; vielleicht auch eine Art Gebrauchsanweisung für die rockige Fanbase, die nur allzu schnell diesen einen despektierlichen Begriff verwendet, den sie aus Funk & Fernsehen kennt und also "Fahrstuhlmusik" krakeelt, wenn das ADHS kickt und Headbanging eher unangebracht erscheint. 

Man muss "Timewave Zero" keine Aufmerksamkeit schenken. Schließlich gibt es keine Regeln. Tut man es dennoch, lernt man fürs Leben. Es dehnt sich aus. 

Vinyl: Einzel-LP in der "Orange in Black"-Version in matt-texturiertem Cover. Stilistisch sehr ansprechend. Die Pressung ist von kleineren Stögeräuschen abgesehen okay, keine Non-Fills. Kein Downloadcode. (+++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022.

11.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 21: Viul & Benoit Pioulard – Konec



VIUL & BENOIT PIOULARD - KONEC

Vor etwa sechs Jahren habe ich mich darauf geeinigt, ab sofort Schallplatten von A Strangely Isolated Place zu sammeln. Möglicherweise war "A State Of Becoming" von Lav und Purl der Auslöser für jene Entscheidung. Nicht nur die Musik erschien außerweltlich, auch das hinreißende Coverartwork und die darauf farblich abgestimmten Schallplatten in blassrosa lassen mich noch heute Jubelschreie ausstoßen. Seitdem wird jede Veröffentlichung blind gekauft - komme, was wolle. Und es kam so einiges, vor allem im letzten Jahr. Denn so wunderschön und mit solcher Liebe zum Detail, zur Musik und zur Vision des Labels die Platten auch gestaltet sind, so teuer sind sie leider auch. In Europa sind Preise von über 40 Euro für eine Doppel-LP des Labels mittlerweile der Standard und da muss ich bei aller Liebe zugeben: dann wird die Luft selbst für einen Sammel-Kasper schon ziemlich dünn. 

Das wurde sie auch für "Konec", die erste Zusammenarbeit von Luke Entelis (Viul) und Thomas Meluch (Benoît Pioulard), aber spätestens als die Post aus England eintraf und man diese Schönheit mit dem künstlerischen Artwork von Liz Harris in den Händen hält, ist alles vergessen. Gibt's eben am Monatsende die verbrannten Krümel aus dem Toaster und bestes Aqua Hahna. Mir doch egal. 

Liegt die Platte auf dem Plattenspieler, wird's wenig überraschend sogar noch besser. Die beiden Musiker haben "Konec" in der Isolation des New Yorker Covid-Lockdowns im Jahr 2020 geschrieben und mit dick verhangenen, nebligen Loops, grobkörnigen Texturen und zerschossenen Melodien voller Tristesse und Melancholie die Stimmung in der Stadt eingefangen. Vor allem das melodische Element Pioulards, in seinem Fundament sicher nicht weit von den sonoren Orcas-Klassikern entfernt, die er mit Rafael Anton Irisarri produzierte, verleiht den verzerrten und auf Raufaser entworfenen Beobachtungen von Viul eine zusätzliche Ebene der Emotionalität. Nachzuhören bei dem überraschenden Gitarrenoutro von "Flaxen" oder dem vergleichsweise offensiv-harmonischem "Catalune" - neben dem elegischen "Returning Clear Voice" so oder so einem der Herzstücke des Album. 

Es sind Miniaturen der Einsamkeit und des Zerfalls, die sich in ihren besonderen Momenten aus der beengenden und furchteinflößenden Isolation befreien und die Seelenstimmung einer ganzen Stadt aufsaugen können. Und vielleicht ist "Konec" am Ende weniger Beobachtung und Zeitdokument, als Transformation und Gemeinschaft. Dass es dazu immerzu Momente der Agonie und der Verwüstung braucht, um Empathie und Verständnis zu finden, sagt Wesentlicheres über uns aus als uns allen lieb sein kann.


   


Vinyl: Das Gesamtkonzept, der Dreiklang aus Musik, Cover-Artwork und Vinylfarbe, ist nahe an der Perfektion. Die Pressung ist ordentlich, gefütterte Inners, Bandcamp-Download. Dazu legt das Label seinen Vinylausgaben seit einiger Zeit einen gedruckten Flyer bei, der Auskunft über das Konzept, den Aufnahmeprozess, die Artworkgestaltung und die Pressung gibt. Ich möchte Labelchef Ryan hiermit offiziell dazu ermutigen, mit der Arbeit an einem Artbook über alle bislang erschienenen ASIP-Releases, mit großen Coverabbildungen und Hintergrundgeschichten zu beginnen. Die Legende lebt. (+++++)


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022. 


05.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 22: Petrol Girls - Baby




PETROL GIRLS - BABY

War On Women haben sich im Jahr 2022 durch eine für mein Empfinden ziemlich unerträgliche Reaktion auf Anschuldigungen ihrer früheren Gitarristin Nancy, sie sei von Bandmitgliedern über Jahre psychisch missbraucht worden, ins Aus geschossen. Wer auf derlei konkrete Erlebnisberichte einer ehemaligen Mitstreiterin mit einem Statement reagiert, das in furchtbarstem Dummprofessionell-Gelalle nicht viel mehr sagt als "Die hatte schon früher ein paar Schrauben locker", macht sich umgehend unsympathisch und auch hinsichtlich der eigenen stets als überlebenswichtig kolportierten feministischen Message, unglaubwürdig. Ich hätte viel mehr erwartet. So ist es eine riesige Enttäuschung. Streng genommen das Ende von Täuschung.  

So müssen nun die Petrol Girls für meinen feministischen Hardcore-Punk-Rage sorgen - und sie taten es vergangenes Jahr mit einem hochinteressanten Album. Das erkannte auch Youtube-Star Anthony Fantano, der überraschenderweise nicht nur ein Videoreview zu "Baby" produzierte, sondern die Platte auch noch mit eher selten vergebenen neun Punkten adelte. 

Erstens hat die Band für meinen Geschmack im Vergleich zu früheren Platten die Komplexität nochmal erhöht, was einem lange andauernden Hörspaß sehr zugute kommt. "Baby" nutzt sich einfach nicht ab. Zweitens: Was vor allem die Gitarre und das Schlagzeug spielen, ist fast immer außergewöhnlich, virtuos, dissonant, drückend, überlegt, chaotisch - und wirkt wie komplett mühelos aus dem Ärmel geschüttelt. Ich kenne keine andere Band, die so klingt. Drittens: Diese Breaks schießen den Vogel ab. Wild, roh, brutal unerwartet - manche lösen selbst nach dem hundertsten Mal noch einen satten "wtf?"-Moment aus. Höre "Feed My Fire" und seinen Übergang von totalem Kreisch-Armageddon zu einem swingenden siebziger Tanzgala-Schalala. Oder "Fight For Our Lives" mit dem Wechsel von ölverschmiertem Industrialgedröhne zu einer wahren Chorushymne, bei der ich schlimme unkontrollierte Hitzewallungen bekomme. Oder...hier...der Samba in "Sick & Tired"! - it's fucking glorious. 

Viertens - und das ist vielleicht der wichtigste Punkt von allen: keine Kompromisse. Die Petrol Girls sind so kratzbürstig, unbequem und provokativ wie eh und je. Sängerin Ren kreischt mit ungebrochener Intensität und Wut gegen die alles einhüllende Misogynie an, gegen Unterdrückung, Rassismus, Doppelmoral, Ignoranz, Kapitalismus. Als ich die Band 2019 live in Wiesbaden sah, gerieten die Performance und vor allem die Ansagen derart kraftvoll und eindringlich, dass ich manchmal einfach zu Heulen anfangen musste. Auch auf "Baby" gibt es unzählige Momente, die mich zuerst einen Molotow-Cocktail bauen lassen und anschließend auf die nächste von den verdammten Bullen eingekesselte Demo schicken, mit meinen verfickten fists in the verfickte Air. All das natürlich mit dem Überhit der Platte auf den Lippen: "Baby, I Had An Abortion" ist der große Mittelfinger in Richtung des US-Amerikanischen Supreme Courts, der zur Jahresmitte die Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht aufhob und somit ihren christlich-fundamentalistischen Terroristengruppen und all den rechten Sackgesichtern einen großen, feuchten Freiheitsfurz der Erleichterung aus dem Rektum lockten. "Baby, I Had An Abortion" ist ein ironischer, quietschfideler, moderner Tanzflächenpunker mit der Message für die nächsten Jahrzehnte. 

Wichtige Band. Tolle Platte. 

Hier schreibt Ren um englischen Kerrang! über das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen:



Vinyl: Bei dem Geschrote sind kleinere Störgeräusche so relevant wie eine "Blut, Tränen und Dosenwurst"-Kolumne von Sascha "Lobo" Lobo im Landser, Quatsch: im Spiegel! Ich höre da nix. Und ehrlich: mir ist's dann jetzt auch mal latte. Klingt gut. So. Sieht auch gut aus. Kauf' halt, Baby! (++++)


 



 Erschienen auf Hassle Records, 2022.

04.02.2023

Best Of 2022 ° Platz 23: Carlos Ferreira - Before Memories Fade



CARLOS FERREIRA - BEFORE MEMORIES FADE

Meine erste Begegnung mit dem brasilianischen Musiker Carlos Ferreira fand im Rahmen der Auseinandersetzung mit "Quiet Reminders" statt, einer gemeinsamen Arbeit mit Shuta Yasukochi, die 2020 auf dem spanischen Archives Label erschien. Ich halte das Album bis heute für einen echten Ambient-Meilenstein und meine damalige Jubelarie über die weitläufige und bildhafte Sprache der beiden Musiker flüstere ich immer noch in jedes offene Ohr. Ich fand Carlos wenig später auf Instagram und wir stellten nach einiger Zeit fest, dass unsere Biografien sowohl hinsichtlich unserer musikalischen Vergangenheit als auch Gegenwart und unsere politischen Ansichten in erstaunlich parallel verlaufenden Bahnen durchs Leben flitzen. 

Sein im Februar 2022 auf dem texanischen Label Aural Canyon veröffentlichtes "Before Memories Fade" triggerte mich aus zweierlei Gründen. Zum einen sprach mich sowohl der Albumtitel, als auch das dahinter stehende Konzept sofort an. Carlos schreibt dazu:

“One of my strongest creative vectors is about meditating on “memory”. It fascinates me to imagine that every memory corresponds to a fragment that is not static - it changes throughout life, due to our maturation and recent experiences. “Before Memories Fade” is a reflection on this fundamental element of our existence. About eternalizing moments in an organic, live and unpredictable way.”

Ich hatte in den ersten sieben Monaten des abgelaufenen Jahres erneut ein größeres Thema mit meiner Gesundheit. Mir fehlt ehrlicherweise etwas die Kraft, um weiter ins Detail zu gehen, aber ich musste leider wieder die existenziellen Fragen aus dem Koffer holen, der eigentlich seit ein paar Jahren luftdicht verschlossen hinter gleich vierzehn Schrankwänden steht. All die Ängste, Brüche, Konflikte, die Erinnerungen und Enttäuschungen, die Zuversicht, die Hoffnung und die Liebe - es tobte alles für volle sieben Monate durchs Nervengestrüpp wie ein tollwütiges Eichhörnchen auf Crack. "Before Memories Fade" als Konzept, als Ansprache, war ein Resonanzraum für derlei Gedanken. Ich hörte das Album bevorzugt in der heißen Badewanne, wo es die gewünschte Wirkung eines auralen Sedativums am besten entfalten konnte. 

Das bringt uns um zweiten Trigger: der Musik. Vom ätherischen und illuminierenden Beginn mit "Liminal" über das sternenfunkelnde "Dandelion", das aufwühlende "Nostalgia" und dem ausgegrauten Vintagehappen "Cloudy Morning" bis zum meinem persönlichen Highlight "Accepting Transience" - so durchlässig, friedlich, tröstend; es mag makaber sein, aber vielleicht möchte ich genau das als letztes Musikstück hören, bevor das Licht final ausgeknipst wird - es ist deutlich, wie sehr das Konzept über Erinnerungen und die Sicht auf das eigene Erleben jede Minute dieses Albums trägt. Introspektiv, melancholisch, nostalgisch - und mit jedem weiteren Gedanken ein bisschen näher dran am wahren Selbst. 


Für Haptikfreunde gibt es zwar leider kein Vinyl, aber immerhin ein Tape, das über die Bandcamp-Seite des Labels bestellt werden kann. Ansonsten tut's der Bandcamp-Download:


 



Erschienen auf Aural Canyon, 2022.


28.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 24: Mundos Sutis - Quintessence




MUNDOS SUTIS - QUINTESSENCE


Das an der Nordküste Spaniens, genauer gesagt in Kantabrien, beheimatete Label Seven Villas Music mausert sich immer mehr zu einem ernstzunehmenden Kandidaten für die Bandcamp-Subscription. Labelbetreiber und Produzent Pablo Bolivar veröffentlicht mindestens zwei EPs/Alben im Monat und für schlappe 6 Euro bekommt man sie über das Abo leicht und locker in die Download-Queue gespült. 

Für "Quintessence" des mexikanischen Produzenten-Duos von Mundos Sutis war kein Abo notwendig. Gute acht Monate nach dem digitalen Release war endlich die Vinylfassung fertig gebacken und das war ein echter No-Brainer, wie man heute eben so sagt, wenn der Schlaganfall nicht fern ist. Schon ihr Seven Villas-Debut mit der EP "Aquamarine" aus dem Jahr 2021 sorgte für aurale Kuschelorgien, was sollte also auf Albumdistanz schiefgehen?

Natürlich gar nichts. Quod erat demonstrandum. Und das liegt nicht nur daran, dass sich drei Tracks der exzellenten EP nochmal auf "Quintessence" finden lassen. 

Julia Arguello und Matias Delpiano haben im Prinzip ein nächtliches Dampfbad am Strand von Balandra vertont, nachdem man im Hotelzimmer von der als Potpourri getarnten Pilzmischung genascht hat; ein kleiner Gruß aus der Küche. Es ist feucht und heiß da draußen, das Kleinhirn so mellow durchgedampft, dass man's mit einem Strohhalm aus den Ohren rausschlürfen könnte. Die Palmen atmen in der Meeresbrise. Das Wasser weiß wie Schnee. Notbeleuchtung. Durch die Luft schweben Moleküle von buntem Gras, Endorphinen und getragenen Unterhosen. "Quintessence" läuft in Endlosschleife. 

Man möchte eintauchen und nie wieder zurück an die Oberfläche kommen. 


Vinyl: Die Doppel-LP (kein Gatefold) ist in der farblichen Gestaltung des Vinyls mit gold und blau etwas gewagt, die Pressung ist hingegen absolut fehlerlos, der Klang warm und füllig. Das Coversleeve wirkt ein bisschen labberig. Ein Bandcamp-Downloadcode ist beigelegt. Man muss froh sein, dass sich das Label sowas traut. Zeugt von Vertrauen. (++++)


 



Erschienen auf Seven Villas, 2022.

22.01.2023

Best Of 2022 ° Platz 25: Deepchord - Functional Designs




DEEPCHORD - FUNCTIONAL DESIGNS

Das letzte Jahresdrittel 2022 war dunkel. Sehr dunkel. Unser Hund Fabbi, mit fast 19 Jahren geradezu ein Methusalem, hatte sich einen fiesen Magen-Darm-Virus eingefangen und stand mehrmals am Rande der Aufgabe. Über zwei Monate befanden sich Frau und Herr Dreikommaviernull im absoluten Ausnahmezustand, emotional durchlöchert und durch eklatanten Schlafmangel auch physisch in der tiefroten Zombiezone herumtaumelnd. Ich hörte in jener Zeit praktisch keine Musik - und nur wenn die Ruhe wirklich komplett unaushaltbar war, und ich doch den Plattenspieler bemühte, musste Musik sich doch wenigstens so anfühlen wie Ruhe. Deepchords "Auratones" Album aus dem Jahr 2017 (in wunderbarer Re-Release Aufmachung auf sandfarbenem Vinyl) war für solche Momente perfekt, weil es so tief und so emotionslos stoisch vor sich hin pumpt, dass alles was vom Klang übrig bleibt, pun intended, Aura wird. 

Die Ankündigung Rod Modells, fünf Jahre nach "Auratones" mit einem neuen Album zu Soma Quality Recordings zurückzukehren, begleitet von zwei EPs "Functional Extraits 1" und "Functional Extraits 2", brachte zusammen mit einer sehr langsam voranschreitenden Verbesserung von Fabbis Zustand ein paar extra hoffnungsvolle Sonnenstrahlen in den mit +20°C so oder so knöcheltief im Sommer stehenden November 2022. Das gesamte "Functional Designs"-Paket fällt wieder etwas urbaner, dunkler, mystischer aus als das beinahe spirituelle Material auf "Auratones". Modell ist und bleibt der Herrscher der dystopischen Großstadt. Zwischen schwarz verspiegelten Häuserfassaden, verkokeltem Asphalt, hohlem Hochglanz und menschlicher Abgründigkeit inszeniert er seine Tracks mit unwiderstehlichem Drive auf brennendem Eis. Ein Alleskönner, der selbst bei minimaler Lautstärke die Atmosphäre im Raum verändert. Du kannst über die stilistische Perspektivlosigkeit des Dub Techno sagen, was Du willst, aber zeig mir einen, der über eine lebensfeindliche Nacht in Downtown die suchenden Blitze eines Pulsars so herabregnen lassen kann wie Modell in "Strangers". Es ist vielleicht nicht neu, aber es ist eben immer noch beeindruckend. 

Vinyl: Schwarzes Doppelvinyl, kein Gatefold. Stimmungsvolles Cover in leichter Übergröße und einwandfreie Pressung. Kein Downloadcode. Die CD- und Digitalversionen haben drei Tracks zusätzlich. (++++)


 


Erschienen auf Soma Quality Recordings, 2022.


07.01.2023

2021 Revisited: Cynic - Ascension Codes



CYNIC - ASCENSION CODES

Ein Blick auf meine Musiksammlungsdatenbank aus Giga-Nerdhausen, vulgo: Discogs, verrät, dass ich im Jahr 2021 tatsächlich nur drei Platten gekauft habe, für die der Stempel "Rockmusik" passt. Neben Cassius Kings "Field Trip" (prima) und Quicksands "Distant Populations" (naja), war insbesondere die Anschaffung von Cynics "Ascension Codes" eine echte Herzensangelegenheit. 

Zum einen bin ich seit fast dreißig Jahren Fan und finde ihre Musik selbst, oder besser: besonders nach den stilistischen Anpassungen über die letzten 15 Jahre einfach hoffnungslos attraktiv. Zum anderen bewundere ich Paul Masvidal, einen der kreativsten und eigenständigsten Musiker der Metal-Szene. Mutig und unerschrocken, offen, spirituell - und durch den unerwarteten Tod seiner beiden Freunde und ehemaligen Bandmitglieder Sean Reinert (Schlagzeug; Januar 2020) und Sean Malone (Bass, Dezember 2020) voller Trauer und Verzweiflung. Masvidals Beiträge auf seinem Instagram-Account geben Zeugnis von dem Schmerz, den er durch die kurz hintereinander erfolgten Verluste erleiden musste. Ebenfalls, und das soll nicht unerwähnt bleiben, ist Masvidal in meiner Wahrnehmung einer der verkanntesten Songschreiber des Heavy Metal. Warum ihm angesichts des Meisterwerks "Ascension Codes" nicht die halbe Metal-Welt die Tür einrennt, ist angesichts der sich zunächst zeigenden Sperrigkeit des Albums vielleicht nicht die allergrößte Überraschung - auch wenn sich die Komplexität mit ein bisschen Zeit und Eingewöhnung naturgemäß auflösen kann und wird. Aber ich habe durchaus Verständnisschwierigkeiten damit, warum nicht wenigstens die Anhänger des Progressive Rocks/Metals auf Knien angerutscht kommen, und zwar in Scharen. 

Denn das hier sollte eigentlich exakt ihr Sound sein: verspielt, komplex, ultrakomprimiert und dennoch leichtfüßig und mühelos - im Prinzip die musikalische Entsprechung zum Spruch meines Vaters über den ehemaligen Eintracht-Stürmer Anthony Yeboah: "Der spielt dich in einer Telefonzelle schwindelig!". Spektakuläre technische Fähigkeiten, ein atemberaubendes Coverartwork und eine spirituelle Story über das Leben, das Universum, das Unsichtbare, das Mystische, das Außerweltliche - "Ascension Codes" ist die beste Cynic-Platte aller Zeiten und in ihrer emotionalen Ausrichtung und ihrer offen dargestellten Zerbrechlichkeit das Progressive Metal-Album, das ich mir im Jahr 2020 von Fates Warnings "Long Day Good Night" erhoffte, aber nicht bekam. 

Ich möchte über Jahre in diesen Sounds versinken und mich verlieren. Masvidals Gitarre weist mir den Weg und mir ist im Grunde egal, wohin er mich führen wird. 

Chuck Schuldiner prägte den Satz "Let the metal flow!" - Paul Masvidal hat nun die passenden Songs dafür geschrieben. 


Vinyl: Das Mastering meiner Version auf türkisem Vinyl scheint die sowieso schon wahrnehmbare Kompression im Sounddesign noch weiter in den Vordergrund zu stellen; man merkt, dass es der Musik etwas schwer fällt, die Luft zum Atmen zu finden. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um eine aktive Entscheidung im Entstehungsprozess des Albums handelt. Cynic Platten klingen nicht zum ersten Mal so. Die Pressung ist komplett fehlerfrei. Das wirklich atemberaubende und wertige Triple-Gatefold auf mattem, sich seidig anfühlendem Karton in Verbindung mit dem grandiosen Cover-Design von Künstlerin Martina Hoffmann ist nichts weniger als imposant.


   


Erschienen auf Seasons Of Mist, 2021. 

04.09.2022

OVERKILL - THE ATLANTIC YEARS 1986 - 1994 (Vinyl Boxset Review)


Ich hatte es im letzten Videoreview zu Voivods "Forgotten In Space"-Boxset bereits mehrfach angedroht, hier ist es nun: der zweite Beweis dafür, dass ich es mit vollmundigen Einlassungen wie "Ich mag keine Boxsets" oder despiktierlichen Fragen wie "Wer soll denn den ganzen Scheiß kaufen?" besser sein lassen sollte. 

Ich habe mir also Overkills "The Atlantic Years 1986 - 1994"-Rückschau vorgenommen und dabei versucht, es wenigstens ein kleines bisschen weniger zäh werden zu lassen als mein Review-Debut, und was immerhin den Blick auf die Uhr betrifft, ist mir das auch ausnahmsweise gelungen. Inhaltlich gibt es immer noch konfus abschweifendes Gelalle - aber das sind meine werten Leser über die letzten 15 Jahre schließlich auch gewohnt. Und ein wenig Kontinuität erlaube ich mir durchaus in diesen so chaotischen Zeiten. Weil ihr es mir wert seid. 

Enjoy!


 


26.08.2022

Die Top 10 Der Besten Voivod-Songs



Schon wieder Voivod? 

Schon wieder Voivod!

Ende des vergangenen Jahres erhielt ich die Möglichkeit, für die 160. Ausgabe des legendären Ox-Magazins über meine Lieblingsband zu schreiben (Vielen Dank, Simon!). Genauer gesagt, ich erhielt die Möglichkeit, über die zehn besten Songs meiner Lieblingsband zu schreiben. Das war eine Ehre für mich, einerseits wegen des Ox, andererseits wegen Voivod - ich durfte das also auf keinen Fall zersägen. 

Und obwohl ich sofort Feuer und Flamme war, mich in ihre Platten einzugraben und umgehend loszulegen, wusste ich um die große Herausforderung - und wurde gleich mal für die nächsten Tage ausgebremst. Nicht nur wegen der umfangreichen und qualitativ so konstant hochklassigen Diskografie der Band, was eine Auswahl so oder so schwierig machen würde, sondern auch wegen ihres so diversen Repertoires. Wie soll ich diese enorme Bandbreite abdecken, von dem räudigen, chaotischen Thrash Metal zu Beginn ihrer Karriere über eine Heavy Metal-Version von Pink Floyd oder King Crimson bis hin zu einem verwehten Progressive-Industrial-Golem? Oder diesen Wagemut? 

Ihre einzelnen Entwicklungsphasen, und jetzt, wo ich's schreibe, weiß ich gar nicht mehr, was ich mit einer "Entwicklungsphase" eigentlich meine, oder ob sowas in ihrer Realität überhaupt existierte, haben schließlich gleich mehrere Eigenleben entwickelt. Und je weiter ich mich in ihre Welt über die letzten 25 Jahre eingegraben habe, desto mehr wucherte das Selbstverständnis dieser Band, ihr Anspruch und ihre Progressivität über die Brüche in ihrer Musik. Und all das soll ich in nur zehn Songs abdecken? 

Ich brütete über zwei, drei Wochen jeden Tag über dieser Liste. Dezent obsessiv. 

Als die Songs für die Top 10 endlich ausgeknobelt waren, ging es endlich ans Schreiben - und damit begann das eigentliche Martyrium: Zeichenlimit. 

Ein Zeichenlimit. Ich! Ein Zeichenlimit! Ha! Hahaha! 

Es war eine verdammte Pest. Aber ich liebte jede Sekunde der Auseinandersetzung mit den Songs dieser einzigartigen Band.

Enjoy!

 


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Für eine möglicherweise verbesserte Lesbarkeit gibt es hier auch noch die Textversion:



„Tribal Convictions“ 
"Tribal convictions" vom Sci-Fi-Thrash Meilenstein "Dimension Hatröss" ist einer der großen Klassiker der Bandgeschichte und bedeutete 1988 den Durchbruch für VOIVOD – auch dank des Videos, das MTV in sein Programm aufnahm und damit den Bekanntheitsgrad der Kanadier signifikant vergrößerte. Schneller waren fünf Minuten seither nie wieder vorüber. Ein durchgeknalltes Arrangement, das auf eine bizarre Weise trotzdem catchy war, gekrönt von einem umwerfenden Solo von Riffmeister Piggy. Öffnet Türen in Deinem Kopf, die vorher verschlossen waren. 

„Tornado“ 
Für das dritte Album „Killing Technology“ schluckte die Band erstmals ihre Supervitamine. Die Energie dieser Aufnahmen ist legendär und „Tornado“ macht seinem Namen alle Ehre: ein unbarmherziges und außer Kontrolle geratenes Getöse, das vor allem wegen Piggys dissonanten Gitarrenriffs und Aways geradewegs durch Panzerglas marschierenden Schlagzeugs den Vagusnerv mit Juckpulver traktiert. Dazwischen gibt’s nervöse Breaks und manisches Geschrei, die das Chaos nur noch mehr anheizen. Blutdrucksenker, olé!

„Forlorn“ 
Das zweite und letzte Album der Triobesetzung mit dem Bassisten und Sänger E-Force über einen der beiden Monde des Planeten Mars ist eine apokalyptische Tour de Force mit „Forlorn“ als glühend-intensivem Höhepunkt. Die brachiale Mixtur aus verwehtem Industrial Metal und kauzigem Progressive Rock vertont Einsamkeit und Verzweiflung im Zeichen des Untergangs und geht dabei stets über jede physische und emotionale Schmerzgrenze hinaus. „Forlorn“ ist übrigens der einzige Song dieser Ära, der auch nach der Reunion mit Sänger Snake ab und an den Weg in die Live-Setlist fand. Gewaltig. 

„Post Society“ 
Nach dem Tod ihres Riffmeisters Piggy im Jahr 2005 versackte der VOIVOD auf manch neuem Album im stilistischen Verwaltungsmodus; statt irrwitziger Reisen durch die Galaxis bog man lieber an der Autobahnraststätte Ennepetal ab. Mit „Post society“ und den neuen Crewmitgliedern Chewie (Gitarre) und Rocky (Bass) nahmen unsere Helden wieder direkten Kurs auf Centaurus A: der erfreulich angepunkte Titeltrack fächert Psycho-Breaks wie in allerbesten Zeiten auf und zeigt die Band in funkensprühender Spiellaune mit erstaunlichem Drive. Eine Wiedergeburt. 

„Clouds In My House“ 
„Angel Rat“ war nach Aussage von Schlagzeuger Away das Album, bei dem der Band der Wille zu „härter, lauter, schneller“ fehlte. Stattdessen zeigten sich VOIVOD melancholisch und introvertiert – und stießen die nach dem erfolgreichen Vorgänger „Nothingface“ angefütterte Fangemeinde vor den Kopf. Stilistisch steht „Clouds in my house“ zwischen Wave-Geflacker, sprödem Prog und dem „Anything Goes“-Vibe der frühen 1990er Jahre selbst für ihre Verhältnisse auf sehr ambivalentem Terrain. Warum der Song auf MTV’s „120 Minutes“ nicht durch die Decke ging, versteht kein Mensch.

„Into My Hypercube“ 
Völlig gleich, was uns in den letzten dreißig Jahren an neuen Trends und Extremen aufgetischt wurde, das Durchgeknallte, Knallbunte, Exzentrische, das Emotionale und Verletzliche, das Progressive und das Reaktionäre, ein zweites „Nothingface“ war nicht dabei. „Into my hypercube“ steht etwas im Schatten der Klassiker „The unknown knows“ und dem PINK FLOYD-Cover „Astronomy domine“, aber wer könnte dieses unvergleichliche Amalgam aus subtiler Punk-Aura und softer Fliegenpilz-Psychedelik je wieder vergessen, wenn es nur einmal die Blut-Hirn-Schranke passiert hat? 

„Jack Luminous“ 
Der Versuch, den VOIVOD-Sound über wildes Namedropping zu decodieren, wird spätestens nach den 17 Minuten von „Jack luminous“ zu einem traurigen Häufchen Asche zerbröselt. Jeder Vergleich wirkt trivial, jedes Bemühen, den Code dieser Wahnsinnigen zu knacken, endet zwangsweise am Boden existenzieller Unzulänglichkeit. „Jack luminous“ ist in der Bündelung aller Wahrzeichen dieser Band der Urknall ihres Universums, die Stunde Null des VOIVOD. Wer den endgültigen Beweis dafür haben möchte, dass die Oberstübchen dieser Typen einfach anders verdrahtet sind, wird ihn hier finden. 

„Cosmic Conspiracy“ 
Der Alternative-Industrial-Tanzflächenfeger „Nanoman“ vom selben Album „Negatron“ wäre die offensichtlichere Wahl gewesen, aber wir müssen über „Cosmic conspiracy“ sprechen - vor allem über die auf dem 2000er Livealbum „Lives“ veröffentlichte Version. Intensiver hat sich der VOIVOD trotz des etwas besseren Bootlegsounds nie wieder in den Orbit geschossen. Vor allem das Break zur Songmitte und das folgende so simple wie alles zersägende Mega-Riff zeigen, welche Energie diese Besetzung auf der Bühne entfesseln konnte. Die drei Typen machten Krach für zehn. Eine Naturgewalt.

„Nuclear War“ 
Wo wir gerade bei „Lives“ waren, bleiben wir für „Nuclear war“ gleich hier. Ursprünglich auf dem 1984er Debut „War And Pain“ erschienen, bekommt das holpernde Stakkato-Geprügel des Erstlings in der Liverversion mit Sänger/Bassist E-Forst seine definitive (wenn auch leicht gekürzte) Ausbaustufe. Das militärisch stampfende Monster klingt mit der gurgelnden Stimme des neuen Frontmanns bedrohlicher und beklemmender als je zuvor, während Piggy Töne aus seiner Gitarre herausholt, die er ganz offensichtlich per Standleitung von einem anderen Planeten herübergebeamt hat. 

„Fix My Heart“ 
Der Opener des 1993 erschienenen Wunderwerks „The Outer Limits“ steht stellvertretend für einen weiteren Entwicklungsschritt der Band, die selbst nach den energieraubenden Metamorphosen der vorangegangenen drei Alben immer noch nicht müde wurde, nochmal einen draufzusetzen. VOIVOD zeigten sich insgesamt rockiger, ihr Sound schien durchlässiger für einen optimistischen Swing zu sein, die Grooves saßen lockerer, ohne dabei ihren legendären Drive einzubüßen. Ein besserer Beleg als das atemberaubend perlende Hauptriff von „Fix my heart“ wird sich nicht finden lassen.  

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(Mit freundlicher Genehmigung der Ox-Redaktion)

07.08.2022

VOIVOD - FORGOTTEN IN SPACE (Vinyl Box Set Video Review)

Beinahe fünf Monate Blog-Pause sind selbst für meine Wenigkeit ein starkes Stück. Es gibt Gründe - aber um offen zu sein: ich bin zu müde, um sie zunächst in Gedanken und anschließend Schrift nochmal Revue passieren zu lassen. Kommt Zeit, kommt irgendwas. Vielleicht aber auch nicht. 

Ich habe indes nach reiflicher Überlegung, und wer mich kennt, weiß, dass "reiflich" die Untertreibung des Jahrhunderts ist, ein Video aufgenommen, in dem ich über das neue Vinyl-Boxset meiner allerliebsten Metalband VOIVOD referiere. Alles, was ich dazu benötigte, waren zwei Liter schwarzen Kaffees, drei frische Unterhosen und ein kleiner Spritzer LSD. 

Ja, es ist viel zu lang. Niemand, wirklich niemand wird diese 32 Minuten durchhalten, ohne vorher sanft und friedlich wegzudämmern. Aber im Prinzip ist das nicht mein Problem. 

Ja, es ist im Hochformat aufgenommen (was subbi dämlich ist). Das ist definitiv mein Problem.

Ja, ich bekomme Selbstschamattacken. Und es wäre furchtbar, wenn ich sie nicht bekäme. 

Und dennoch: all das hält mich trotzdem nicht davon ab, derart full of myself zu sein, es hier zu posten. 

Enjoy!

   



21.03.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 1: Bad Religion - Generator




BAD RELIGION - GENERATOR


Werte Leserschaft, es ist soweit - das Martyrium ist beendet! 

"Generator" ist die Nummer 1. Und das ist es zurecht, na klar. Dennoch...

...bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich mein Leben drauf verwetten tät', und so genau kann ich mich auch wirklich nicht mehr erinnern, es ist schließlich ziemlich exakte 30 Jahre her, aber ich glaube, dass der Titeltrack des im März 1992 erschienenen sechsten Albums für mich tatsächlich das erste gehörte Musikstück der sehr guten Gruppe Bad Religion war. Mein Bruder hatte sich die CD gekauft und es ist vollkommen im Bereich des Möglichen, dass ich, angefixt von meiner Klassenkameradin Nathalie und ihrer auf dem Schulhof herumgezeigten Kopie von "Against The Grain", Dirk anbettelte, mir die CD doch mal bitte auszuleihen. WENN es denn so war, DANN überrascht einen ja gar nichts mehr. "Generator" ist bis heute einer der allerhellsten Songwritingmomente von Gitarrist Brett Gurewitz; und dass da einer, der mit seinen vierzehn Jahren im Frankfurter Westen zwischen Pubertät (Iron Maiden) und Rebellion (Nirvana) auf diese aberwitzige, abgefahrene, alles abholzende und mit äußerst attraktiven Harmonien jonglierende kalifornische Wunderwaffe trifft, die den Hypothalamus mit einem vulkanisch-eruptiven Endorphinblitzkrieg ("Darf man das in diesen Zeiten überhaupt noch sagen?" - Schmidt) traktiert, sofort und ohne Umschweife lichterloh in Flammen steht, ist so überraschend nicht. Will sagen: sollte das wirklich mein Einstieg in ihre Welt gewesen sein, bon - keine weiteren Fragen euer Ehren. Und dennoch...

...kam "Generator" zur Nummer 1 wie "Die Linke" (Poschardt) zum Durchwinken des imperialistischen Kapitalismus oder des kapitalistischen Imperialismus, oder auch: wie kommt Kuhscheiße aufs Dach? Denn strenggenommen hatte ich nie so richtig darüber nachgedacht, was denn nun mein allerliebstes Bad Religion Album ist. Freilich erstelle ich seit nun drei Jahrzehnten geradezu unentwegt, ja geradzu manisch, Bestenlisten in meinem Kopf, und mit der Zeit kommt für jede DIE_LISTE auch immer eine Art Manifestation ins Spiel; wenn sich also die Reihenfolge und damit auch die Nummer 1 mal etabliert haben, dann bete ich ein paar Jahre später dreizehn Rosenkränze und mach' den Deckel drauf - und warte anschließend bräsig-dampfend auf die Gelegenheit, all das so schön über mehrere Schlaganfälle hindurch ausgeknobelte wieder aufzubrechen, umzuschmeißen, neu zu ordnen. Im Falle unserer Helden aus Kalifornien erschien mir das nie als so recht lohnenswert (schreibt's hin wie Oma Meume und macht dann einen halbjährigen Superscheißcountdown auf seinem Blog, völlig klar), was wohl in erster Linie dem bereits mehrfach herbeigeschriebenen Gedanken geschuldet ist, aus dem, was gemeinhin als Klassikerkanon ihrer Diskografie gilt, schlicht keine Reihenfolge stricken zu können (schreibt's hin wie Doofie Doofmann und macht dann einen halbjährigen Superschei...hmnja). Und dennoch...

...steht, liegt und tänzelt "Generator" nun am Platz an der Sonne, und die Frage, ob ich denn mit dem Küren des Erstkontakts nur wieder einmal die einfachste, anschmiegsamste und offensichtlichste Option wählte, hängt mal wieder quer im Raum herum. Die absolut endgültige Antwort lautet: vielleicht! Auf "Generator" stehen andererseits mit seinen insgesamt gerade mal elf Tracks (Trivialwissen von mir für mich: auf keinem anderen ihrer Alben stehen weniger) die meisten Lieblingssongs, allen voran "Only Entertainment": sowohl textlich als auch musikalisch vielleicht das Beste, was die Band jemals geschrieben hat. Es gab über Jahre, ach was: Jahrzehnte kein Mixtape, auf dem sich nicht irgendwo "Only Entertainment" tummeln sollte. Auf der Bad Religion-Nerdseite thebrpages.net findet sich folgende (mögliche) Interpretation des Texts, die mir sehr passend zu sein scheint:

Forms of media that inform us of worldly events such as 'The News', newspapers and now the electronic form of news; 'e-papers' are what this song is based upon. The organizations that produce these forms of media pick and choose what they feel is what people want to see. They create a window of our world where we see what they want us to see. Thus, this is not reality but only what the media chooses to show, that will draw the most ratings and therefore make them the most income. Two important lines that show this are 'a medium upon which you build reality' and 'they've planted the seed, that sprouts into your picture of the world.' Furthermore, this 'news' we see everyday becomes less about the real world and the important issues at hand but more of a form of entertainment. This is why people are intrigued to see the pain and suffering of third world countries or the deaths of war then to actually be educated on the causes of this pain and suffering or war. Another important point made in this song is seen in the line 'they control two worlds, power and disease, and you cannot suppress your curiosity.' This line shows that it is only power (major corporations, US government, war updates) and disease (hunger, famine, outbreaks of disease) that the media portray of our world as thus control what we can see and interpret of that specific situation, but this is what we are curious to see because all this is only entertainment."

Und wo wir gerade bei Lieblingssongs sind: mit "Fertile Crescent" steht mein liebster "vergessener/untergegangener/unterbewerteter" Bad Religion Song ebenfalls auf "Generator", neben "Chimaera" der einzige Track des Albums, der tatsächlich noch nie live gespielt wurde. Und was ich beim leicht verschnarcht wirkenden "Chimaera" noch so ein kleines bisschen verstehen kann, ist das vermutlich unter den Eindrücken des zweiten Golfkriegs von Papa Bush entstandene "Fertile Crescent" mit seiner genialen Gitarren-Hookline und klassischem Drive eine echte Sternstunde, die es endlich einmal auf die Bühne schaffen sollte. 

Und sonst? Nur Hits. Übermenschliche Hits. Es lohnt nicht, die Songs alle aufzählen, das ist im Prinzip eh alles 11/10. Aber hier, komm  einer noch: "Heaven Is Falling", ebenfalls aus Gurewitz' spitzer Feder, hat diesen Kniff, unter das Highspeed-Getrümmer dieses feine, akzentuierte Riff zu schummeln, mit all seiner offenen Dissonanz und funkelnden Zwischen-, Ober- und Untertönen. Und wenn man es erkannt hat, schreit man hysterisch. Vor Freude. Und Pardon, aber: das kann so kein anderer. 

Und all das kann auch keine andere Band. Selbst wenn ich in den letzten Einträgen manches Mal den Eindruck erweckt haben könnte, nicht so irre glücklich mit dieser "Worst To Best"-Serie zu sein, 's is' ja eh alles Koketterie und Drama, Chérie! - Dieser (unendlich lange und sich unfassbar ziehende) Streifzug durch ihre Diskografie war ganz entgegen früherer Einlassungen äußerst gewinnbringend. Wie bei jeder besonderen Serie über ganz besondere Bands auf diesem Blog, wie damals bei King's X, Warrior Soul, Skyclad oder auch Tribe After Tribe, schließe ich nach der detaillierten Auseinandersetzung und innigen Umarmung das Kapitel jedes Mal mit der Gewissheit, diese eine spezielle Saite angeschlagen zu haben, die mein Herz zunächst vibrieren und erzittern und anschließend schmelzen lässt. Ich bin hinterher immer schlauer und auch irgendwie noch verliebter als vorher. 

Mehr kann ich ich mir nicht wünschen. 

"They're one of the best. They're still one of the best." (Noel Gallagher, Zitat ähnlich)


 


Erschienen auf Epitaph, 1992.