Platz 1:
DARK ANGEL - TIME DOES NOT HEAL
"9 songs, 67 minutes, 246 riffs!" (Sticker auf der US-amerikanischen LP-Ausgabe)
Oh Mann, diese Band. Und diese Platte. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß es wirklich nicht. 22 Jahre gemeinsame und bewegte Geschichte sind nicht so leicht zusammenzufassen.
"Time Does Not Heal" ist das letzte Studioalbum des Quintetts aus Kalifornien. Ich kaufte mir das Doppelvinyl kurz nach Erscheinen im Frühjahr 1991 im Franfurter Saturn-Hansa in Frankfurt-Bornheim. Die Erinnerung ist weniger der guten Gedächtnisleistung meinerseits, als viel mehr dem Preisschild auf der Rückseite des Covers zu verdanken. 21,95 DM liefen damals trotz Doppelalbum unter "ganz schön teuer", heute ist's ein Witz. Da ich spätestens ab Mitte der 90er wie viele meiner Generationsgenossen der Musikindustrie genauso auf den Leim gegangen bin, wie's die heutige Generation der Jung- und Altgebliebenen dank MP3 und Spotify-Schwachsinn tut - da merkt man dann ja schon, dass wir alle gleich bescheuert sind - und also meine schönen Vinyle wenn schon wenigstens nicht verkaufte, dann aber doch zugunsten der CD im Schrank stehen ließ, musste ich irgendwann UNBEDINGT "Time Does Not Heal" auf CD haben. Für meine jüngeren Leser (haha!) muss ich dazu sagen, dass wir damals kein Internet hatten um mal eben das übriggebliebene Exemplar in Kuala Lumpur mit drei Mausklicks einfliegen zu lassen. Tatsächlich wussten 1994 nur die Wenigstens, was überhaupt nur Mausklicks sind. Und ob Kuala Lumpur nicht doch eine neue Kaffeesorte von Eduscho ist.
Was blieb: alle fünf Tage im Frankfurter Musikladen reinschneien und fragen, ob die Bestellung denn mittlerweile angekommen sei: *gelächter*. Auf Plattenbörsen sorgte ich ebenfalls über Jahre für großes Hallo, wenn ich die Frage aller Fragen stellte:"Kannst Du irgendwie die "Time Does Not Heal" auf CD auftreiben?". Es wurden Telefonnummern ausgetauscht, ich sprach mit komischen Typen (die in erster Linie komisch waren, weil sie ihren Kram auf Plattenbörsen verkauften), die wieder komische Typen kannten. Der Mythos um diese Platte wurde durch Sätze wie "Der Cousin meiner Frau sei'm Onkel hat die neulich in einem Kiosk in Neuharlingersiel gesehen, warte mal, ich habe die Fax(!)nummer..." nur noch ärger angeheizt, und bevor jetzt jemand die Stirn runzelt und sich fragt, ob ich nicht wieder mal maßlos übertreibe: ich übertreibe nicht. Ich fand sowohl "Time Does Not Heal" als auch die beiden anderen als verschollen geglaubten CD Versionen des Debuts "We Have Arrived" und des Nachfolgers "Darkness Descends" Ende der neunziger Jahre für einen obszönen Geldbetrag, bevor die Dinger ein Jahr später wiederveröffentlicht wurden. Dann kam Ebay um die Ecke und dann war eh alles zu spät. Muss es in meinem Kopf damals dunkel gewesen sein, wa?!
So, nun ist's ja aber so: ich bin kein Sammler in dem Sinne, dass ich Platten kaufe, damit ich sie habe. Ich kaufe mir Platten, weil ich sie mag. Was ich nicht mag, wird nicht gekauft. Und jetzt müsst ihr eins und eins zusammenzählen: meine Liebe für dieses Album ist nur ein bisschen besorgniserregend.
Thinking Man's Thrash Metal
"DAS HABEN DIE ÄRSCHE NUR EINMAL SO GESPIELT - UND ZWAR ALS SIE ES AUFGENOMMEN HABEN! DAS KANN MAN SO NICHT SPIELEN. HAST DU MAL EINEN KAFFEE FÜR MICH?"
entfuhr. Dann dirigierte er mich wieder durch die Bedienung des CD Players, während er den nächsten Anlauf nahm:
"LOS! NOCHMAL! STOP! ZURÜCK! NOCHMAL! WEITER ZURÜCK! AAAAAAHHHHHH! NOCHMAL! JETZT! JETZT! JETZT HAB ICH'S! NEE, DOCH NICHT! ZURÜCK! KAFFEE!"
Ich werde das nie nie nie nie vergessen.
Das Riffing der beiden Saitenhexer Meyer und Eriksen entfaltet sich besonders mit einer Minidosis Aufmerksamkeit unter dem Kopfhörer in voller Pracht und wird damit zu einer beinahe spirituellen Erfahrung - wie oft sie im Grunde gegen jeden Takt spielen und mal hier, mal da rüberspringen, wieder zurückfedern, um plötzlich wieder bretthart und unisono mit aller Macht nach vorne drücken, manchmal nur von den Wahnsinnsdrums von der Legende Gene Hoglan und den ungewöhnlichen, überraschend melodischen Vocallines zusammengehalten, das ist einzigartig, das ist herausragend. Und wo ich gerade den Gesang ansprach: mir ist bewusst, dass der ein oder andere Betonkopf die Stimme von Originalsänger Don Doty für die reine Metallehre hält, ich ziehe allerdings zu jeder Sekunde seinen auch auf "Time Does Not Heal" am Mikro stehenden Nachfolger Ron Rinehart vor. Rineharts Stimme ist kontrolliert und melodiös, dabei gleichfalls sehr, sehr originell.
Rinehart ist auch einer der Gründe, warum ich das von vielen so bös' verschmähte "Leave Scars" Album aus dem Jahr 1989 so gerne mag, auf dem er noch etwas räudiger und weniger poliert klingt. Auf "Leave Scars" deutete sich mit den ebenfall überlangen Songs "The Promise Of Agony", "No One Answers" und dem sagenhaften Titeltrack übrigens schon an, zu was diese Band noch in der Lage sein sollte. Folgerichtig spielten Dark Angel spätestens ab "Time Does Not Heal" auch stilistisch in einer ganz eigenen Liga. Ein dazu beitragendes Element ist das ungewöhnliche Hitpotential einiger Songs, die nicht nur mit intelligenter Härte die dichtesten Riffteppiche der Welt zusammenknüpften, sondern wie im Falle von "Act Of Contrition" oder "Pain's Invention, Madness" auch große Refrains präsentierten, die sich im Ohr festsetzen konnten. Jedenfalls glaube ich das nach den 22 Jahren, in denen ich "Time Does Not Heal" rauf und runter gehört habe.
Und das beste zum Schluss: Harald und ich konnten "An Ancient Inherited Shame" übrigens nach zwei drei Wochen relativ unfallfrei auf der Gitarre nachspielen und wieder feste Nahrung zu uns nehmen.
Erschienen auf Combat, 1991.