20.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 1



Platz 1:
DARK ANGEL - TIME DOES NOT HEAL


"9 songs, 67 minutes, 246 riffs!" (Sticker auf der US-amerikanischen LP-Ausgabe)


Oh Mann, diese Band. Und diese Platte. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß es wirklich nicht. 22 Jahre gemeinsame und bewegte Geschichte sind nicht so leicht zusammenzufassen.

"Time Does Not Heal" ist das letzte Studioalbum des Quintetts aus Kalifornien. Ich kaufte mir das Doppelvinyl kurz nach Erscheinen im Frühjahr 1991 im Franfurter Saturn-Hansa in Frankfurt-Bornheim. Die Erinnerung ist weniger der guten Gedächtnisleistung meinerseits, als viel mehr dem Preisschild auf der Rückseite des Covers zu verdanken. 21,95 DM liefen damals trotz Doppelalbum unter "ganz schön teuer", heute ist's ein Witz. Da ich spätestens ab Mitte der 90er wie viele meiner Generationsgenossen der Musikindustrie genauso auf den Leim gegangen bin, wie's die heutige Generation der Jung- und Altgebliebenen dank MP3 und Spotify-Schwachsinn tut - da merkt man dann ja schon, dass wir alle gleich bescheuert sind - und also meine schönen Vinyle wenn schon wenigstens nicht verkaufte, dann aber doch zugunsten der CD im Schrank stehen ließ, musste ich irgendwann UNBEDINGT "Time Does Not Heal" auf CD haben. Für meine jüngeren Leser (haha!) muss ich dazu sagen, dass wir damals kein Internet hatten um mal eben das übriggebliebene Exemplar in Kuala Lumpur mit drei Mausklicks einfliegen zu lassen. Tatsächlich wussten 1994 nur die Wenigstens, was überhaupt nur Mausklicks sind. Und ob Kuala Lumpur nicht doch eine neue Kaffeesorte von Eduscho ist.

Was blieb: alle fünf Tage im Frankfurter Musikladen reinschneien und fragen, ob die Bestellung denn mittlerweile angekommen sei: *gelächter*. Auf Plattenbörsen sorgte ich ebenfalls über Jahre für großes Hallo, wenn ich die Frage aller Fragen stellte:"Kannst Du irgendwie die "Time Does Not Heal" auf CD auftreiben?". Es wurden Telefonnummern ausgetauscht, ich sprach mit komischen Typen (die in erster Linie komisch waren, weil sie ihren Kram auf Plattenbörsen verkauften), die wieder komische Typen kannten. Der Mythos um diese Platte wurde durch Sätze wie "Der Cousin meiner Frau sei'm Onkel hat die neulich in einem Kiosk in Neuharlingersiel gesehen, warte mal, ich habe die Fax(!)nummer..." nur noch ärger angeheizt, und bevor jetzt jemand die Stirn runzelt und sich fragt, ob ich nicht wieder mal maßlos übertreibe: ich übertreibe nicht. Ich fand sowohl "Time Does Not Heal" als auch die beiden anderen als verschollen geglaubten CD Versionen des Debuts "We Have Arrived" und des Nachfolgers "Darkness Descends" Ende der neunziger Jahre für einen obszönen Geldbetrag, bevor die Dinger ein Jahr später wiederveröffentlicht wurden. Dann kam Ebay um die Ecke und dann war eh alles zu spät. Muss es in meinem Kopf damals dunkel gewesen sein, wa?!

So, nun ist's ja aber so: ich bin kein Sammler in dem Sinne, dass ich Platten kaufe, damit ich sie habe. Ich kaufe mir Platten, weil ich sie mag. Was ich nicht mag, wird nicht gekauft. Und jetzt müsst ihr eins und eins zusammenzählen: meine Liebe für dieses Album ist nur ein bisschen besorgniserregend.

Thinking Man's Thrash Metal

"Time Does Not Heal" ist das progressivste, komplexeste Thrash Metal Album aller Zeiten. Die überlangen Songs, die nicht selten an der 10-Minuten Marke kratzen, sind bis heute beeindruckende, herausfordernde Epen, die die engen Grenzen des Genres scheinbar mühelos sprengen und eigentlich von jeder Zutat noch ein Schippchen drauflegen. Die Produktion? Die beste, die Dark Angel je hatten. Wer's jetzt nicht gut mit mir meint, wird vermutlich "Das ist nicht schwer!" sagen. Die Riffs? Unfassbar. Eric Meyer und der von Viking gewechselte Brett Eriksen waren jahrelang meine Vorbilder und wenigstens auf dieser Platte das beste Gitarren-Duo des Thrash Metals. Nachdem ich meinen damaligen Gitarrenlehrer darum bat, wir sollten mal versuchen, uns die Riffs zu "An Ancient Inherited Shame" und "Trauma And Catharsis" herauszuhören, wurde der gute Harald nach den ersten Minuten ganz schön blass um die Nase, bis ihm irgendwann ein verzweifeltes

"DAS HABEN DIE ÄRSCHE NUR EINMAL SO GESPIELT - UND ZWAR ALS SIE ES AUFGENOMMEN HABEN! DAS KANN MAN SO NICHT SPIELEN. HAST DU MAL EINEN KAFFEE FÜR MICH?"

entfuhr. Dann dirigierte er mich wieder durch die Bedienung des CD Players, während er den nächsten Anlauf nahm:

"LOS! NOCHMAL! STOP! ZURÜCK! NOCHMAL! WEITER ZURÜCK! AAAAAAHHHHHH! NOCHMAL! JETZT! JETZT! JETZT HAB ICH'S! NEE, DOCH NICHT! ZURÜCK! KAFFEE!"

Ich werde das nie nie nie nie vergessen.

Das Riffing der beiden Saitenhexer Meyer und Eriksen entfaltet sich besonders mit einer Minidosis Aufmerksamkeit unter dem Kopfhörer in voller Pracht und wird damit zu einer beinahe spirituellen Erfahrung - wie oft sie im Grunde gegen jeden Takt spielen und mal hier, mal da rüberspringen, wieder zurückfedern, um plötzlich wieder bretthart und unisono mit aller Macht nach vorne drücken, manchmal nur von den Wahnsinnsdrums von der Legende Gene Hoglan und den ungewöhnlichen, überraschend melodischen Vocallines zusammengehalten, das ist einzigartig, das ist herausragend. Und wo ich gerade den Gesang ansprach: mir ist bewusst, dass der ein oder andere Betonkopf die Stimme von Originalsänger Don Doty für die reine Metallehre hält, ich ziehe allerdings zu jeder Sekunde seinen auch auf "Time Does Not Heal" am Mikro stehenden Nachfolger Ron Rinehart vor. Rineharts Stimme ist kontrolliert und melodiös, dabei gleichfalls sehr, sehr originell.

Rinehart ist auch einer der Gründe, warum ich das von vielen so bös' verschmähte "Leave Scars" Album aus dem Jahr 1989 so gerne mag, auf dem er noch etwas räudiger und weniger poliert klingt. Auf "Leave Scars" deutete sich mit den ebenfall überlangen Songs "The Promise Of Agony", "No One Answers" und dem sagenhaften Titeltrack übrigens schon an, zu was diese Band noch in der Lage sein sollte. Folgerichtig spielten Dark Angel spätestens ab "Time Does Not Heal" auch stilistisch in einer ganz eigenen Liga. Ein dazu beitragendes Element ist das ungewöhnliche Hitpotential einiger Songs, die nicht nur mit intelligenter Härte die dichtesten Riffteppiche der Welt zusammenknüpften, sondern wie im Falle von "Act Of Contrition" oder "Pain's Invention, Madness" auch große Refrains präsentierten, die sich im Ohr festsetzen konnten. Jedenfalls glaube ich das nach den 22 Jahren, in denen ich "Time Does Not Heal" rauf und runter gehört habe.


Vieles verklärt sich, vieles ist hinter dem jugendlichen Schleier schlicht käsige Romantik - manches aber bleibt. Dark Angel und "Time Does Not Heal" bleiben.

Und das beste zum Schluss: Harald und ich konnten "An Ancient Inherited Shame" übrigens nach zwei drei Wochen relativ unfallfrei auf der Gitarre nachspielen und wieder feste Nahrung zu uns nehmen.

Erschienen auf Combat, 1991.

18.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 2



Platz 2
SLAYER - SEASONS IN THE ABYSS


Mein Verhältnis zu Slayer ist ein höchst ambivalentes, und ich könnte es im Prinzip keinem verdenken, der mich nun wegen Heuchelei, Doppelmoral und der Tatsache, dass in meinem Kühlschrank gerade tatsächlich veganer Käse liegt an den Kalbshaxenpranger stellt. Slayer sind keine sympathischen Jungs. Genau genommen machen sie auf mich den Eindruck, sie seien intellektuell gerade aus dem Pleistozän gekrabbelt - nur dass sie anstatt der Keule eben eine Gitarre über die Schulter geworfen haben. Ihre verursachten Skandale in den achtziger Jahren, meinetwegen allesamt selbstinszeniert und durch eine sich schon damals an Remmidemmi abarbeitende und aufgeilende Medienlandschaft forciert, der heikle "Angel Of Death" Text, die auf die Gitarre geklebte Nazischeiße von Jeff Hannemann, Kerry Kings angebliche Verstrickungen in zumindest konservativ-redneckig angestrichene Kreise und nicht zuletzt der Umgang mit der mutmaßlichen Krankheit und dem späteren Tod Jeff Hannemanns einerseits, aber auch der Umgang mit der Kündigung von Schlagzeuger Dave Lombardo andererseits, tragen nicht dazu bei, dass die Kapelle bei mir hoch im Kurs steht. Und auch wenn es immer wieder aufs erste Hinsehen verblüffend ist, wie wenig all das die Metalszene juckt, solange die Mucke geil und der Pimmel auf halb elf steht, und was beim näheren Hinsehen eben doch genau so - und zwar GENAU SO - sein muss, ist jetzt vielleicht die Stelle gekommen, an der das berühmte "Aber!" hingehören sollte. Ich kurbel auch mal schnell den Pimmel hoch. Schuldig im Sinne der Anklage. Live with it.

Die Kehrseite der Medaille ist nämlich, dass die Band bis 1991 durchaus eine exponierte Stellung in meinem musikalischen Universum einnahm. Mein Bruder machte mir das Debut "Show No Mercy" schmackhaft, und ich hörte "Reign In Blood" zum ersten Mal in seinem Zimmer, obwohl er mir, also immerhin einem gerade mal elfjährigen Dreivegankäsehoch, kurz vorher noch mitteilte, die Platte sei "nix für dich." Womit er natürlich strahlend falsch lag - ich raffte die 29 Minuten Hartholz von "Reign In Blood" freilich damals kein Stück, was ich aber verstand war sein rowdyhaftes und irres Backcover sowie die schwarzen Augenringe Hannemanns und das umgedrehte Kreuz auf der Rückseite des Debuts. Ich raffte das vor allem deshalb, weil es Mutti Angst machte. Das musste irgendwie böse sein. Und böse war damals gut - nicht weil es böse, sondern das exakte Gegenteil war: es war lustig. Und weil es in erster Linie lustig war, mit diesen Provokationen zu spielen, verbrachte ich keine Sekunde damit, die Texte zu lesen. Verstanden hätte ich eh kein Wort.

Nun ist "Reign In Blood" natürlich der anerkannte Konsensklassiker und viel mehr als nur die weithin als Sternstunde Slayers geltende Pflichtveranstaltung für Metalfans, und tatsächlich ist der Einfluss besonders jenes Albums auf die weitere Entwicklung des Genres immens. Wenn wir aber über meine Lieblingsplatte der Band sprechen, und genau das tun wir hier, führt kein Weg an "Seasons In The Abyss" vorbei. Meinetwegen hätten sich Slayer spätestens nach der anschließenden Liveplatte "Decade Of Aggression" ins Thrashnirwana verabschieden können, das wäre der endgültige und würdige Schlusspunkt ihrer Karriere gewesen. Von hier aus konnte es nur noch bergab gehen. Was es ja dann auch - Wir sind alle schockiert! - auch tat.

"Seasons In The Abyss" bietet musikalisch alles, was Slayer ausmacht, und sogar noch ein bisschen mehr. Durch die Auseinandersetzung mit diesen Songs wird im Nachgang klar, dass der Vorgänger "South Of Heaven" ein Übergangsalbum war, oder, etwas provokativer formuliert, ein notwendiges, wenngleich ärgerliches Übel. Man sieht's mir nach: ich konnte mit "South Of Heaven" mit Ausnahme des apokalyptischen Titelsongs noch nie etwas anfangen, aber wenn es so klingen musste, damit wir uns zwei Jahre später in der Gruft namens "Seasons In The Abyss" suhlen durften - bon. Zwei zentrale Themen, die diese Platte so speziell machen, inhaltlich aber kurioserweise kaum voneinander zu trennen sind, was nebenbei gesagt viel, wenn nicht gar alles aussagt: Erstens haben die Songs soviel Hitpotential wie noch nie zuvor und/oder danach. Der klassische Albumsong, der für gewöhnlich nur deshalb existiert, weil man noch ein bisschen Platz auf der Platte hatte, existiert hier eben gerade nicht; das Format wird aufgelöst und bekommt stattdessen zehn Thrash Metal Giganten eingefräst, die sich stilistisch exakt zwischen "Reign In Blood" und "South Of Heaven" platzieren, sich indes qualitativ, sowohl melodisch und strukturell, als auch und ganz besonders atmosphärisch an die Spitze der (fast ganzen Thrash-) Welt setzen. Was uns zu Zwotens führt: der Sound. Mein Gott, dieser Sound! In meinen Einlassungen zu Sepulturas "Arise" schrieb ich, es gäbe praktisch nur eine Thrashplatte, die besser als eben "Arise" klingt, und hier haben wir sie. Eine morbidere, vernebeltere, im Wortsinn atemberaubendere Platte habe ich in meinem Leben nicht gehört. Wer die Ohren spitzt und tief in die schwarze Pestwolke eintaucht, muss befürchten, dass dieser von Rick Rubin verantwortete Staubklumpen in jedem Augenblick in sich zusammenfällt - es riecht nach Apokalypse, nach Dunkelheit, es ist dumpf, macht ohnmächtig, und trotzdem kann Metal zeitgleich nicht massiver, gewaltiger und bedrückender klingen. Diese Produktion ist ein Meisterwerk, das nicht aus technischer Limitierung, sondern aus einer Vision entstand, und sie bläst bis heute praktisch alles an die Wand, was seitdem ein Studio von innen gesehen hat.

Alleine der Sound von "Seasons In The Abyss" ist der Grund, warum ich mir seit Jahren keine aktuellen Metalplatten mehr anhören kann und mag: im Vergleich mit dieser nunmehr über zwanzig Jahre alten Scheibe erscheint mir alles visionslos, gleichförmig, leer, billig und flach.

Erschienen auf Def Jam, 1990.

15.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 3


Platz 3:
DEMOLITION HAMMER - EPIDEMIC OF VIOLENCE


"I threw my desk chair out of the window. Just a natural response to something so fucking heavy. Thank you, Demolition Hammer!" (User Danger555 auf Youtube)

Ich habe mir "Epidemic Of Violence" am Veröffentlichungstag der Iron Maiden-Single "Be Qick Or Be Dead" gekauft, am 13.4.1992, im alten Frankfurter Musikladen, als jener noch in der Kinopassage der Hauptwache war. Der Raum war kaum größer als meine heutige Küche, und die Plattencover in den Fächern waren leer, weil das schwarze Gold in den Wandregalen hinter dem Tresen stand. Brachte man also eine (leere) Hülle zu den coolen Fuckern, die die Herrscher über diesen wunderbaren Bestand waren, zogen sie in Rekordgeschwindigkeit das dazu passende Inlay nebst Schallplatte aus dem Regal, schoben beides in die Hülle und kassierten die Kohle. Und das waren wirklich coole Fucker. Einer von ihnen fragte mich mal (beim Kauf der zweiten Killers Platte "Murder One"), ob ich auch beim Gig von Paul Di'Anno in Frankfurt gewesen sei. Da war ich 15 und natürlich war ich nicht da. "Nee. War gut?" -"Boah, das war so hammergeil, ey." Hätte man damals schon gewusst, dass gut 20 Jahre später der Ausdruck "Fuck My Life" in diesem crazy little thing called Interfuckingnet den Blinddarmdurchbruch feiern würde, hätte ich es wohl 1992 zum ersten Mal laut ausgerufen. Dann Tantiemen, Hollywood, Koksüberdosis, Tod mit 32. In eine Mitarbeiterin des Musikladens war ich in meiner pubertären Phase ("Da kommst Du auch noch rein."(Mutti, vor 3 Tagen)) böse verknallt, und als ich sie beim Benediction Konzert 1993 im Frankfurter Negativ vor dem Club stehen sah, musste ich natürlich extrem supercool an meiner Cola nippen. Mit niederschmetterndem Erfolg. Nee, Moment: "Erfolg".

Kleiner Ausflug in mein Leben des Jahres 1992 (den anderen Teil mit Rollkunstlauf, blauen Flecken, Paiettenkostümen und Stretchhosen erzähle ich irgendwann mal. Später. Viel später.), der zugegebenermaßen nur am Rande etwas mit Demolition Hammers zweiten Album zu tun hat, aber man muss das hier ja auch alles mal auflockern. Außerdem, und das war es auch, was ich eigentlich sagen möchte, sollte "Be Quick Or Be Dead" ja eine der besseren Nummern auf Maidens späterer- pardon! - Scheißplatte "Fear Of The Dark" sein, und ich hörte den Song in meiner Vernarrtheit über Stunden hinweg auf Endlosschleife - was etwas aufwändig sein kann, wenn man sich die 12"-Single kauft und der Plattenspieler die Repeatfunktion nicht kennt. "Be Quick Or Be Dead" wurde allerdings nach den ersten Sekunden des Openers, Achtung, festhalten:"Skull Fracturing Nightmare" (gnihihihi) atomisiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Bands der damaligen Zeit wurde das New Yorker Quartett nicht langsamer oder grooviger, sie wurden schneller, härter, brutaler. Wie es schon Frank Albrecht in seiner Review zu "Epidemic Of Violence" im Rock Hard Magazin ausnahmsweise völlig richtig feststellte, muss man es diesen Wahnsinnigen hoch anrechnen, dass sie nach ihrem Debut "Tortured Existence" und dem darauf gebotenen Gemisch aus Thrash und Death Metal nicht etwa in Richtung Death Metal weiterliefen, sondern die Abfahrt für den wohl extremsten Thrash Metal aller Zeiten nahmen, und zwar mit Schmackes! "Epidemic Of Violence" ist mit Leichtigkeit eines der beeindruckendsten Metal-Alben der letzten 20 Jahre.

Wer sich bis zu dieser Stelle durch meine letzten Beiträge gekämpft hat, wird festgestellt haben, dass ich dem Produzenten Scott Burns ein Denkmal in mein Schlafzimmer gestellt habe und es jeden Abend mit einem Tässchen Tofublut und einem Lappen Seitansteak ehre. Umso schwerer wiegt der folgende Satz: Demolition Hammer haben mit der Entscheidung, "Epidemic Of Violence" nicht etwa wie das Debut von Burns, sondern von Tony Soares produzieren und mischen zu lassen, allesallesalles richtig gemacht. Zwar hat Soares wie Burns auch die Rhythmusfraktion in erster Linie auf dem Schirm und entsprechend nach vorne gezogen, die Gitarren und der Gesamtsound klingen indes deutlich transparenter und fokussierter als in den Produktionen von Burns. Und mein Gott, klingt das gut. Unbedingt originell, gnadenlos hart. Es ist nicht nur, aber zu einem großen Teil auch dieser fantastische Sound, der "Epidemic Of Violence" zu einer Genre-Sternstunde macht. Die weiteren Zutaten: bessere Riffs als auf "Tortured Existence", eine sprachlos machende Intensität und Kompromisslosigkeit, die heiser-brüllkrächzende Stimme von Steve Reynolds, die man unter Tausenden Schreihälsen sofort heraushört und ein komplett irrer Schlagzeuger, der beim Höhepunkt der Platte "Omnivore" mal eben den dritten Weltkrieg auslöst. Und vier Jahre nach Veröffentlichung dieses Albums angeblich an einer Vergiftung durch falsch zubereiteten Kugelfisch starb.

Um Classicthrash.com zu zitieren:"It doesn't get much heavier than this, really."

Erschienen auf Century Media, 1992.

08.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 4



Platz 4:
DEVASTATION - IDOLATRY

Wo sich insbesondere bei Overkill und Forbidden das Luxusproblem der Qual der Wahl einstellte, läuft's mir bei dieser Kapelle aus Texas ganz flüssig am Bein entlang. Devastation veröffentlichten zu Lebzeiten drei Alben, derer zwei man in aller Seelenruhe und gerade jetzt im Winter als Eiskratzer für die Karre verwenden kann. Sofern man eine Karre hat. Alternativ lassen sich auch schöne Obstschalen aus den Vinylen formen. Besonders das Debut "Violent Termination", von einigen komplett Schwachsinnigen für geradewegs obszön zu bezeichnende Geldbeträge im Internet angeboten, ist wenig mehr als naives, mies produziertes Gerumpel mit einem faszinierend schlecht klingenden Sänger. Was das Album übrigens zu einem Paradebeispiel für eine sich immer absurder entwickelnde Sammlerkultur macht, die sowohl ironischer- als auch konsequenterweise in einer Reihe mit nicht mehr ganz so neuen Streamingformaten steht: wenn es nur noch um den inhaltsfreien, tumben Konsum geht, um den Besitz und die Pose - dann können wir den Laden eigentlich heute schon zumachen. Die Lichter sind schließlich schon aus.

Der Nachfolger "Signs Of Life" lieferte vor allem klanglich eine Steigerung zum Debut ab, im Gesamtbild blieb das Quintett im Vergleich zur Konkurrenz aus der zweiten oder dritten Thrash-Garde noch immer (fast) alles schuldig. Gerade vor diesem Hintergrund ist es für mich bis heute ein großes Rätsel, was wohl zwischen "Signs Of Life" und "Idolatry" geschehen sein mag. Das dritte und letzte Album der Band ist ein perfektes Thrashalbum der dritten Generation und ein völlig fehlerloses, packendes Lehrstück harter, extremer Musik. Devastation müssen ihr letztes Hemd für diese Platte gegeben haben, denn sie stiegen direkt aus der Regionalliga in die Champions League auf.

Von der ersten bis zur letzten Minute ist der durchdringende Wille des Quintetts wahrnehmbar und das stilvolle Songwriting mit einem alles zerbröselnden Riffing ist ein Quantensprung zu den Vorgängerwerken - ultraheavy, stringent, mit Hand und Fuß. Scott Burns hatte in Sachen Sound seine Finger im Spiel, und in Momenten, in denen ich weniger gut gelaunt bin (entgegen der verbreiteten Meinung ist das bedeutend seltener der Fall als weithin angenommen), ertappe ich mich bei der bösen Vermutung, die Band konnte wohl keine zwei Schritte unfallfrei geradeaus laufen, bis sie auf einen Hexer wie Burns traf, der sich ihrer Musik annahm. In diesem Zusammenhang ist es ratsam darauf hinzuweisen, dass die Ansicht, Burns hätte in seinen Glanzzeiten sowieso nur einen einzigen Sound gehabt und diesen immer nur wiederholt, im Falle von "Idolatry" nicht greift. Sicherlich lässt es sich auch ohne güldene Ohren und ohne einzuholenden Expertenrat recht fix heraushören, wer das Gebretter am Mischpult zusammenstrickte, dass "Idolatry" trotzdem sehr eigenständig und einzigartig klingt, steht gleichfalls außer Frage. Für meine eben geäußerte Theorie spricht übrigens auch, dass sich die Band nach Veröffentlichung ihres dritten Albums auflöste - ab "Idolatry" konnte es im Prinzip nur noch bergab gehen. Vielleicht war selbst die Band sich dessen bewusst.

Erschienen auf Combat, 1991.

Nachtrag: Manchmal ist es vielleicht ganz gut, seine alten Helden in Ruhe zu lassen, um bloß nicht feststellen zu müssen, dass sie (mittlerweile?) alte, bärtige und aufgepumpte Rednecks sind, die mit Maschinengewehren posieren und sich Zitate von Hank "Hirnschaden" Williams Jr. auf Facebook hochknallen. In dem Fall wäre ich nämlich tatsächlich mal wieder ziemlich schlecht gelaunt. Andererseits...es is' halt Texas, ne?! "Where Fuck-Up's come alive." Bei uns wäre das ja Bayern. 

01.12.2013

Thrash'n'Spekulatius - Platz 5



Platz 5:
FORBIDDEN - TWISTED INTO FORM

Noch so ein schwerer Kampf um das "richtige" Album, aber ich hatte mich im konkreten Fall schon vor einigen Jahren festgelegt, dass "Twisted Into Form" mit einer Nasenspitze Vorsprung vor dem Debut "Forbidden Evil" ins Ziel mosht. Ein Testdurchgang im Rahmen dieser Liste ergab keine Veränderung an dieser Entscheidung, auch wenn man mich zugegebenermaßen bei Killertracks wie "Chalice Of Blood" oder dem unglaublichen "Through Eyes Of Glass" mit Superkleber an die Heizung pappen muss, damit ich nicht auch hier die Einrichtung (und das Universum) zerlege. "Forbidden Evil" hat möglicherweise in Bezug auf die eben genannten Songs zwar die stärkeren Highlights, "Twisted Into Form" ist aber insgesamt konsistenter und vor allem atmosphärisch ungeschlagen.

Das 1990 erschienene Album wurde nach dem gefeierten Debut mit riesiger Spannung erwartet und konnte in den Reviews einschlägiger Magazine zunächst nicht unbedingt mit euphorischen Reaktionen punkten. Ich erinnere mich gut an die kritischen Stimmen, die das gedrosselte Tempo und die banalen Riffs monierten - vor allem der letztgenannte Vorwurf erscheint aus heutiger Sicht völlig grotesk. Es dauert genau genommen eine Minute und achtundfünfzig Sekunden, bis mich der Wahnsinn erstmals packt und an die Decke schleudert, denn alleine für dieses an der Stelle einsetzende Riff im Opener "Infinite" hätte ich damals die aufgerufenen 20 Mark gezahlt. Aber auch da kann man mal sehen, wie konservativ die "Szene", sofern es die damals überhaupt gab, auf Veränderungen reagierte - und ja bis heute reagiert. Forbidden haben im Vergleich zu "Forbidden Evil" ihren Sound auf "Twisted Into Form" freilich weiterentwickelt, sie haben die beeindruckende juvenile Frische und Naivität des Debuts gegen eine dunkle, beklemmende Stimmung ausgetauscht, darüber hinaus wurde in gleichem Maße, in dem sie das Tempo aus dem Songs herausnahmen, der technische, komplexe Aspekt ihrer Musik in den Vordergrund geschoben - ohne jedoch das Hitpotential ihrer Kompositionen unter der Last von ziellosem Gefrickel zerdrücken zu lassen. "Step By Step" oder der fantastische Titelsong sind Klassiker des Genres, die final belegen, dass sich herausragende Musikalität nicht mit feinen Hooklines und Eingängigkeit beißen muss.

Das Ergebnis ist ein stilvolles, ernsthaftes und düsteres Thrash Metal Werk mit einem knochentrockenen, wenngleich überwältigend dichten und zermalmenden Sound. Und wie auf jeder Platte der Bay Area Helden steht das größte Plus der Band hinter dem Mikrofon: Russ Anderson war einer der größten Thrash-Sänger seiner Zeit, gesegnet mit einer einzigartigen Stimme, die so brutal und hart auf der einen, so melodisch und schlicht angenehm auf der anderen seite sein konnte, und die in keinem dieser Aggregatzustände aufgesetzt klang. Der Typ konnte _WIRKLICH_ singen. Über seinen Zustand bei den Reunion-Shows im Jahr 2009 und 2011 decken wir gerade im Angesicht der Leistung auf den ersten vier Forbidden Scheiben einen ganz großen Mantel, denn darum soll es hier nicht gehen. "Twisted Into Form" ist eines der ganz, ganz großen Kunstwerke des Thrash Metal und qualitativ in seiner stilistischen Ausprägung bis heute unerreicht.

Erschienen auf Combat Records, 1990.

23.11.2013

Thrash'n'Spekulatius - Plätze 06 - 10


Platz 10:
OVERKILL - THE YEARS OF DECAY

Overkill waren einer der Hauptgründe, weshalb sich der ganze Schmarrn mit dieser Liste so lange hinzog. Sie lieferten mir den härtesten Kampf bei der Auswahl ihrer Platten. "Feel The Fire" und "The Years Of Decay" standen zur Debatte - das punkige Debut mit einem bunten Strauß früher Speed Metal Hits, oder eben "The Years Of Decay", das mit Abstand ausgereifteste und auch experimentellste Overkill-Album der achtziger Jahre. Overkill begaben sich hier erstmals auf die Reise ins Land der Songs unter 180bpm und bauten um fantastisch produzierte Großtaten vom alten Schlag wie "E.vil N.ever D.ies" und "Elimination" progressive Longtracks wie den balladesken Titelsong, das gleichfalls epische, pechschwarze "Who Tends The Fire" und vor allem die zehnminütige Lavawalze "Playing With Spiders/Skullkrusher" herum, die allesamt von Metallicas "...And Justice For All"-Werk beeinflusst erschienen, allerdings mit der so typischen und praktisch sofort zu identifizierenden, etwas kruden Punk und Hardcore-Schlagseite der US-amerikanischen Ostküstenbands. "The Years Of Decay" war außerdem die letzte Platte mit Ausnahmegitarrist Bobby Gustafson, und es mag Menschen geben, die mit dem Ausscheiden des Hauptsongwriters den beginnenden Abstieg Overkills erkannt haben wollen. Ich will soweit nicht gehen, schließlich folgten noch drei gute bis sehr gute Alben, bevor das Licht immer dunkler wurde, aber Overkill waren ohne Bobby wenigstens angeschlagen. Unabhängig davon: "The Years Of Decay" ist mein Lieblingsalbum von Overkill und es eröffnet damit auch den Reigen meiner Top 10.

Erschienen auf Atlantic, 1989.





Platz 9:
SACRAMENT - HAUNTS OF VIOLENCE

Über dieses Juwel hatte ich schon in meiner "Verstaubt & Liegengelassen"-Reihe mit einiger Überraschung referiert, und meine Begeisterung hat sich seit 2009 nicht merklich eingetrübt. Noch immer ist "Haunts Of Violence" die größte Überraschung der letzten 15 Jahre für mich und es ist glückliche Fügung des Internets, dass eine Seite wie Classicthrash.com existiert, deren Autor der Platte eine Nominierung für den Titel "the best thrash metal release that most people never heard of" ums Nietenarmband wickelte. "Haunts Of Violence" ist eine hochkomplexe, technische, staubtrockene Riffschlacht, die unter dem Kopfhörer eine beinahe hypnotisierende Wirkung entwickelt. Die Band ist praktisch durchgehend am Limit, gleichzeitig so manisch kontrolliert wie verspielt. Sacrament machten sich um das vermeintliche Hitpotential ihrer Musik keine Gedanken - die Band hatte einen ganz anderen Plan: man krallt sich die Freaks, die sich auf ein solches Monstrum einlassen können und wollen, lässt die Rolläden runter und spielt tagelanges Riff-Tetris. Und in zwanzig Jahren schreibt irgendein Quatschkopf einen Beitrag in sein Tagebuch, über eine Platte, die kein Mensch kennt. Zumindest dieser Plan ging auf. Das einzige große Ärgernis mit "Haunts Of Violence" sind die religiösen Texte. White Metal. Was für ein Missverständnis.

Erschienen auf Rex Music, 1992.




Platz 8:
NUCLEAR ASSAULT - GAME OVER

Spätestens ab dieser Platte wird die Luft hinsichtlich meiner ausgeknobelten Reihenfolge bedenklich dünn. "Game Over" ist eine der wildesten und bis heute frischesten Thrash Alben aller Zeiten. Der Drive dieser New Yorker Band ist legendär und es gibt nicht viele Platten, auf denen mir alleine die ersten vier Tracks so viel Spaß machen wie hier. Eigentlich möchte ich bei jedem Hören wegen dieser entfesselten Raserei mindestens den ganzen Stadtteil in Schutt und Asche legen, und am besten tät ich's in diesem Kostüm. Und zum gerade mal 46 Sekunden dauernden "Hang The Pope" ("Let's go to the Vatican, get him out of bed / Put the noose around his neck and hang him till he's fucking dead") wird ins Taufbecken gepinkelt - ist ja offenbar eh nix Neues. Charakteristisch für Nuclear Assault war neben der stetig durchklotzenden Doublebass zum einen der hohe Gesang von John Conelly, der das furiose, mit Hardcore-Elementen angereichterte Gedresche damit bestens unterstützte, zum anderen der nur leicht angezerrte Gitarrensound, der sich mit dem höhenlastigen Bass-Geklacker von Kiff-Schlonk Danny Lilker bestens ergänzte. "Game Over" ist vom ersten bis zum letzten Ton ein Ausbruch frischer, jugendlicher, unbekümmerter Kraft. 

Erschienen auf Combat, 1986.




Platz 7:
SACRED REICH - THE AMERICAN WAY

Nach diesem Speedmonster von Nuclear Assault hat es "The American Way" tatsächlich ein bisschen schwer, aber das liegt nicht an dieser Platte. Sacred Reich killen hier mit Style und nicht nur mein ehemaliger Deutschpauker Gert "Get" Beck hätte mich für diesen Ausdruck mindestens gepfählt. Inhaltlich ist's aber völlig richtig, es wird sogar richtiger, desto öfter ich die Platte höre. Nach dem sehr flotten Debut "Ignorance" nahmen Sacred Reich für "The American Way" zwar ordentlich den Fuß vom Gaspedal, haben dafür in Sachen kompakte, groovende Songs mit minimalistischem, aber hypereffizientem Riffing alles in den Ring geworfen, was sie hatten. Das Ergebnis waren acht künftige Klassiker, die musikalisch einen hohen Wiedererkennungswert hatten und textlich ganze Universen von dem üblichen "Blut & Gedärm"-Krempel entfernt waren. Ihre Beobachtungen über Umweltverschmutzung in "Crimes Against Humanity", den Abstieg der US-amerikanischen Gesellschaft im Titelsong, den Gerichtsverfahren gegen Metalbands, weil sie Jugendliche in den Selbstmord getrieben haben sollen in "Who's To Blame", oder natürlich die Funk-Hymne "31 Flavors", die all den jungen Metalheads "Open your mind!" in die Muschel trompetete und bis heute die Beschränkten auf die Palme bringt - Sacred Reich waren schon damals einfach eine hochsympatische Band mit Typen, die man gerne als Kumpels gehabt hätte, und "The American Way" ist in ihrer Erhabenheit und Eleganz zweifellos ihre beste Platte.

Erschienen auf Roadrunner, 1990.





Platz 6:
EXHORDER - SLAUGHTER IN THE VATICAN

Und wo wir gerade die intelligente Thrash Metal-Version hatten, geht es mit dem Debut dieser vier Kaputten ziemlich tief in den Asi-Keller. Der Text zum Song "Anal Lust" stieß die Druckerei, die das Textblatt fertigestellen sollte, angeblich derart ab, dass sie ihn schlicht nicht druckte...was daran Wahrheit, Mythos oder ein Promotionschiss der Plattenfirma war, werden wir nicht erfahren - aber "Anal Lust" ist selbst mit der größten ironie- und humoraffinen Brille eine höchst diskussionswürdige Angelegenheit. Davon abgesehen ist das Debut dieser Kapelle aus New Orleans auch musikalisch eines der unbarmherzigsten Werke aller Zeiten, sofern das wirklich ein Qualitätsmerkmal sein kann. Riesenüberraschung: es kann! Es gibt Momente auf "Slaughter In The Vatican", die so heavy sind, dass man sich wirklich freiwillig den Kopf zwischen Stahltür und -rahmen einklemmen will und der eigenen Mutti befiehlt, mal kräftig zuzuschlagen. Die Tür, wohlgemerkt. Mit 'nem Unimog. Und das meine ich selbstverständlich ausnahmslos positiv. Scott Burns mauerte seine gefürchtete und berüchtigte Morrissound-Soundwand (die die Band übrigens nach eigener Aussage aus tiefstem Herzen hasst), deren musikalisches und lyrisches Fundament aus blanker Niederträchtigkeit und außer Kontrolle geratenem Rowdytum besteht. Ich bin jetzt 36 Jahre alt und sollte mich vielleicht eher mit Beyonce oder Joe Cocker beschäftigen, aber dieses unvergleichlich primitive Gehacke verdreht mir jedes Mal aufs Neue den Kopf. Was ich ausnahmsweise mal nicht nur bildlich verstanden haben möchte.

Erschienen auf Roadrunner, 1990.

17.11.2013

Thrash'n'Spekulatius - Plätze 11 - 15



Platz 15:
VOIVOD - KILLING TECHNOLOGY

Wer mich und meine leuchtenden Augen kennt, die immer dann heller strahlen als gewöhnlich, wenn ich über Voivod spreche, der könnte jetzt ungläubig wenigstens eine Augenbraue lüften - nur Platz 15? Und wenn ich jetzt noch sage, dass auch "Killing Technology" ein Wackelkandidat war, ist der Ofen wohl völlig aus. Dabei ist das genau die Platte, die ich im Ohr hatte, als ich vor ein paar Tagen über Schubladen und über "abgefahrenen Scheiß, der nirgendwo reinpasst" schrieb. "Killing Technology" ist wie fast jedes ihrer Alben bis 1997 ein Übergangswerk, das im konkreten Fall aber einer "Art" Thrash Metal definitiv am nächsten kommt. Aber ganz ehrlich: man greift sich schon an die hohle Rübe, wenn man sich diesen offensichtlich wirklich von Außerirdischen ausgedachten chaotischen, funkensprühenden Klangbatzen anhört. Die verarbeiteten Ideen des Vierers alleine im Titelsong reichen für mindestens hundert Indieschnarchkacksackbands, und Piggy...mein Gott, was soll ich noch über Piggy schreiben?! Ich könnte Tage und Wochen damit verbringen, nur seine Gitarrenriffs anzuhören. Was der Junge gespielt hat und wie er die Musik Voivods prägte...er war einfach der Größte.

Erschienen auf Noise Records, 1987.



Platz 14:
TESTAMENT - THE LEGACY

Mir würde heute viel Schlechtes zu Testament einfallen. Die eklige Anbiederung an das unkritische und konservative Metalpublikum, das damit einhergehende Nuclear Blast-Geschwerrl oder die unerträglichen Plastikproduktionen ihrer neueren Studioalben. Aber eine Runde "The Legacy" ist das Gegengift, um all die bösen Gedanken aus dem Fenster zu jagen. Das Debut aus dem Jahr 1987 ist bis heute unangefochten die Nummer 1 ihres Katalogs, denn sie waren nie besser als hier. Die Band aus der berüchtigten Bay Area in San Francisco fuhr schon ab der ersten gespielten Note einen im Grunde bis heute komplett einzigartigen Sound auf, und Leadgitarrist Alex Skolnick blies nicht nur aus technischer Sicht schon im Alter von nur 19 Jahren die gesamte Konkurrenz an die Wand. Er komponierte auch bis heute tadellose Genreklassiker, die mit solch grandiosen Hooklines wie in "Burnt Offerings" oder "Alone In The Dark" gespickt waren. Ich werde nie die Worte meines Bruders vergessen, der sich irgendwann Ende der 80er Jahre angesichts der genialen Twin-Guitar-Strophen von "Burnt Offerings" zu einem "Das geilste Lied der Welt." hinreißen ließ. "The Legacy" ist eine beeindruckende Ansammlung von klassischen, virtuosen Thrash-Ohrwürmern.

Erschienen auf Atlantic, 1987.


Platz 13:
SEPULTURA - ARISE

"Arise" ist das Magnum Opus Sepulturas, und selbst wenn die beiden Nachfolger "Chaos A.D." und "Roots" kommerziell erfolgreicher und vor allem einflussreicher waren als dieser 1991er Abschluss ihrer Thrash-Ära, bleibt "Arise" qualitativ unerreicht. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens kann eine Thrash-Platte praktisch nicht besser klingen (es gibt eine Ausnahme, aber über die sprechen wir zu einem späteren Zeitpunkt), der Sound von "Arise" ist auch nach 22 Jahren keinen Tag gealtert. Brutzelnd, kraftvoll, ultratransparent und für das Produktionsjahr 1991 mehr als nur eine kleine Sensation. Ein Name: Scott Burns. Wer sonst? Überraschend indes: Andy Wallace besorgte den Mix für "Arise" und setzte zwei Jahre später den Sound von "Chaos A.D." in den Sand. Kann man ja auch mal drüber nachdenken. Zweitens und wenig überraschend sind es die Songs, die als eine Art Blaupause für straffen, kompakten Thrash Metal der zweiten Generation durchgehen könnten. Nicht über Gebühr komplex oder technisch, durch die sich zaghaft zeigenden Elemente des Punk und des Hardcore ist sogar eher das Gegenteil der Fall, aber dafür irrsinnig fokussiert. Auf "Arise" stehen neun todsichere Hits. Und ich erinnere mich auch nach jahrelanger Abstinenz noch an jede einzelne Note, an jedes Break und an (fast) jede Textzeile. Fast. Ich werde ja auch nicht jünger.

Erschienen auf Roadrunner, 1991

 

Platz 12:
EXODUS - BONDED BY BLOOD

Es gibt nur einen Exodus-Sänger - und der heißt Paul Baloff. An der Stelle könnte ich eigentlich schon zur nächsten Platte springen, denn so irrsinnig viel mehr gibt's nicht zu sagen. Außer: ich bin grundlegend kein großer Freund von Exodus und im Prinzip brauche ich genau zwei ihrer Platten: das Debut "Bonded By Blood", weil es in all seinem naiven Wahnsinn, sowohl textlich als auch musikalisch, die charmanteste Darstellung der damaligen Szene ist, und das 1997er Livealbum "Another Lesson In Violence", weil es die alten, wilden Kracher der ersten beiden Platten in einem erstklassigen, wenn auch böse bearbeiteten Breitwandsound, sowie mit einer unbändigen Energie auffährt. Beide Platten haben eines gemeinsam: der Sänger heißt Paul Baloff. Ich kam nie mit seinen Nachfolgern zurecht, und wenn einer mit USA-Unterhose auf die Bühne geht, ist bei mir sowieso alles aus, aber ich finde das ganz und gar nicht traurig. "Bonded By Blood" und "Another Lesson In Violence" versorgen mich mit allem, was ich brauche. Dass die aktuellen Bandmitglieder zusätzlich unsympathische Sackgesichter sind, die sich auch mal in "Support Our Troops" Shirts ablichten lassen, macht's auch gleich einfacher, auf den aufgeblasenen neuen  Kram zu verzichten.

"Heavy must stay together, all others must die." (Paul Baloff).

Erschienen auf Combat, 1985.



Platz 11:
INVOCATOR - WEAVE THE APOCALYPSE

Als das Genre im Grunde schon ziemlich streng müffelte und also seit einigen Jahren im ziemlich tiefen Koma lag, machten sich diese vier Dänen auf, nochmal einen richtigen Meilenstein rauszuhauen - zusammen mit Sacred Reichs "Heal" aus dem Jahr 1995 ist "Weave The Apocalypse" vielleicht das beste Thrash-Album nach 1993. Invocator orientierten sich zu meiner großen Freude an den Spätwerken ihrer großen Vorbilder von Dark Angel und spätestens jetzt dürfen Eingeweihte nervös den virtuellen Notizblock zücken: Riffs! Riffsriffsriffs! Riffs! Doppelriffs! Dreifachriffs! Es ist übrigens kein mentales Problem meinerseits, dass "Weave The Apocalypse" sehr hartnäckig an der Top 10 kratzt: das ist eine sagenhaft gute Platte mit einfallsreichen Songstrukturen ("Breed Of Sin"), Riffmassakern ("Condition Critical") und tonnenschweren Groovern ("Doomed To Be"). Dabei nahmen Invocator eine ähnliche Entwicklung wie viele Bands zu jener Zeit: sie drosselten das Tempo. Woran viele Combos scheiterten und sich mit lahmen und orientierungslosen Alben selbst den Stöpsel aus der Badewanne zogen. Invocator haben nicht vergessen, kompakte und sogar melodische Songs zu schreiben, die trotzdem so unfassabar heavy waren. Hab' ich eigentlich schon erwähnt, wie viele großartige Riffs auf dieser Platte sind?

Erschienen auf Black Mark, 1993.

13.11.2013

Thrash'n'Spekulatius - Plätze 16 - 20

Bevor es losgeht nur noch zwei Kleinigkeiten, quasi der Disclaimer.

Erstens gilt die "linke Reihe anstellen, jeder nur ein Kreuz"-Regel. Das heißt: von jeder Band findet nur eine ihrer Platten den Weg in die Top 20. Andernfalls könnte ich hier komplette Diskografien unterbringen - und glaubt mir, ich würde es tun. Will ja aber keiner lesen. Was uns zu zwotestens führt. Was nämlich ebenfalls keiner lesen will, sind Reviews über Megadeth. Nachdem Dave Mustaine die Ausfahrt zur Intelligenz, Weitsicht, Empathie und mentaler Gesundheit nicht genommen hat und stattdessen mit Karacho in Richtung Religion, Patriotismus, vielleicht sogar Faschismus und grundlegender bodenloser, strunzdummer Quadratblödheit unterwegs ist, und darüber hinaus seit eh fast 20 Jahren nur noch Scheißplatten macht, gibt's auch von ihm nix weiter zu lesen. "Rust In Peace" hin, "Peace Sells..." her. Ende.

Und jetzt viel Spatz!



Platz 20:
CYCLONE TEMPLE - I HATE THEREFORE I AM

Aus der Asche der Speed Metaller Znöwhite (hervorragendes Album: "Act Of God") erhoben sich Ende der 80er Jahre Cyclone Temple, die gleich mit dem Debut "I Hate Therefore I Am" einen feinen Underground-Klassiker erschufen. Herausragend: das Gitarrenspiel von Greg Fulton, einem überaus talentierten Gitarristen mit der vielleicht akzentuiertesten Anschlagtechnik der gesamten Szene, sowie der Drang der Band, in das komplexe Geschreddere Melodien und Hooklines einzuhäkeln. Cyclone Temple waren weder die härteste noch schnellste Band der Welt, aber sie waren zumindest auf ihrem Debut sehr virtuos - und sehr eigenständig. Der Nachfolger "My Friend Lonely" (1994) ist dagegen mit den hilflosen, aber damals typischen Verweisen in Richtung Pantera ein ziemlich unguter Witz. 

Erschienen auf Combat Records, 1991.




Platz 19:
FLOTSAM AND JETSAM - NO PLACE FOR DISGRACE

Diese Platte hatte ich bereits an anderer Stelle lobend erwähnt und ich kann es drehen und wenden, wie ich will: auch wenn Flotsam And Jetsam in ihrer Sturm & Drang-Phase Mitte/Ende der 80er Jahre immer eher dem Speed Metal zuzurechnen waren, müssen die Buben alleine wegen der Qualität ihrer beiden Erstlingswerke hier genannt werden. "No Place For Disgrace" klingt dabei ausgereifter und strukturierter als das forsche Debut und weist trotz des kurz vor den Aufnahmen zu Metallica gewechselten und damit abhanden gekommenen Hauptsongwriters Jason Newsted keinerlei Schwächen im Songwriting auf. Dafür bringen mich Granaten wie "Hard On You", "I Live, You Die" oder der Titelsong auch 25 Jahre nach Veröffentlichung immer noch zur Raserei. Menschen mit einer Allergie für hohe Metalstimmen sollten allerdings Turnschuhe anziehen, in denen sie schnell laufen können.

Erschienen auf Elektra, 1988.



Platz 18:
VIO-LENCE - ETERNAL NIGHTMARE

"Eternal Nightmare" ist eine oftmals übersehene Perle des Genres, gleichzeitig aber auch eine der energiereichsten Aufnahmen aus der Blütezeit des Thrash Metal. Vio-Lence wurden, vor allem in Europa, in erster Linie mit dem zweiten, immerhin auf dem Major Megaforce erschienenen Album "Oppressing The Masses" für einen Sommer bekannt - das Debut ging im direkten Verlgeich stets etwas unter. Die Problemzone der Band ist vor allem Sänger Sean Kilian, der auf "Eternal Nightmare" zwar noch einen guten und originellen Eindruck hinterlässt, auf späteren Alben aber wirklich kaum zu ertragen ist. Die Band haut auf "Eternal Nightmare" jedenfalls ein Wahnsinnsriff nach dem anderen raus und die physisch spürbare Energie der fünf Chaoten (einer von ihnen heißt übrigens Robb Flynn) überträgt sich automatisch auf den Hörer. Und wo die großen Vorbilder Exodus "Good, Friendly, Violent Fun" propagierten, ließen Vio-Lence davon nur "Violent" übrig.


Erschienen auf Megaforce, 1988.



Platz 17:
HEATHEN - VICTIMS OF DECEPTION

Als das zweite Heathen-Album "Victims Of Deception" 1991 erschien, hatte sich der Thrash Metal aus den ruppigen, schnellen, naiven Anfangstagen schon längst zu einem komplexen Groove- und Riffmonstrum wentwickelt - nicht zuletzt beeinflusst durch eine Platte wie Metallicas "...And Justice For All". "Victims Of Deception" ist eine dieser Platten, die jene Entwicklung mit hochverdichteten, überlangen Kompositionen und großen, ausladenden Riffschlachten aufgriff und sogar einen Schritt weiterführte. Alleine die ersten drei Songs rechtfertigen alle Huldigungen, die über diese Scheibe kursieren. "Hypnotized", "Opiate Of The Masses" und "Heathen's Song", jeweils zwischen knappen acht und neuneinhalb Minuten lang, gehören zum Besten, was dieses Genre bislang produziert hat. Schade, dass die 2010 erschienene Comebackscheibe mit patriotischem US-Bullshit kokettiert und darüber hinaus auch klanglich ein aufgeblasener, kaputtkomprimierter, phantasieloser Haufen Mist ist.

Erschienen auf Roadrunner, 1991. 



Platz 16:
MORBID SAINT - SPECTRUM OF DEATH

32 Minuten Tod, Hass, Zerstörung und "wahnsinnige Geschwindigkeit" (Lord Helmchen) - "Spectrum Of Death" ist eine der extremsten Thrashplatten aller Zeiten. Ungeheuer roh und wild jagt das Quintett durch sieben SOngs und ein kurzes Intro, als sei Markus Lanz persönlich hinter ihnen her. In so manchem Moment bleibt einem angesichts der schieren Gewalt der Songs nicht mehr viel anders übrig, als laut loszulachen, beispielsweise bei "Scars", der mit über sieben Minuten längste Track der Platte. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: das ist kein lächerliches und kopfloses Gerumpel, die Jungs wussten im Gegensatz zum Produzenten (Eric Greif, Manager von Death) sehr genau, was sie hier tun. Aber die Intensität ihrer Attacken ist so glühend, so verzehrend...da muss man sich ab und zu nochmal daran erinnern, dass das alles nur Musik ist. Eine Platte, vor der man weniger aufgrund kompositorischer Leckerbissen, als vor ihrer Leidenschaft den Hut ziehen muss, und die außerdem wohl 98% der heutigen Plastikmetallerszene heillos überfordert.

Erschienen auf Avanzada Metallica, 1989.



11.11.2013

Thrash'n'Spekulatius



Ich hatte es ja erst seit einem knappen Jahr angekündigt, die Mühlen mahlen eben langsam auf Dreikommaviergähn: es ist Zeit für meine zwanzig liebsten Thrash Metal Platten. Bis schätzungsweise März gibt's nun also Listen, Listen, Listen und noch mehr Listen. Uhr ihr steht doch auf Listen, ich weiß es. Schließlich geht es Ende Dezember dann auch schon in die heiße Top 20 2013-Phase. Das wird alles so wunderschön, ich könnte mir jetzt schon in die Büx machen.

Der Grund, warum der ganze Quatsch so lange gedauert hat, ist übrigens der denkbar Offensichtlichste. Aus dem Fundus von über dreihundert genre-relevanten Scheiben in der Sammlung die zwanzig Güldenen auszuwählen ist eine Sache (die mich schon komplett überfordert hat), diese Kandidaten dann noch in eine schmissige und halbwegs nachvollziehbare Reihenfolge zu bringen eine ganz andere. Zudem kommt der ewige und überaus leidige Schubladenkampf, der selbst mich als nicht unbedingt schubladensüchtig bekannten Typen kirre macht: ist das schon Thrash, oder noch US-Metal? Was ist mit Speed Metal? Power Metal, anyone? Und was mach' ich mit diesem abgefahrenen Scheiß hier, der im Prinzip weder das eine, noch das andere ist - ganz zu schweigen von dem ganz anderen. Und trotzdem gehört's am Ende eben doch dazu. Es blieb erwartungsgemäß grotesk viel auf der Strecke, und wo so manches einfacher zu streichen war, musste ich bei der ein oder anderen Entscheidung manchmal wochenlang mit mir kämpfen. Und als ich mir in den letzten Tagen die finale Aufstellung nochmal genauer anschaute, ging der ganze Mist schon wieder von vorne los. Es hilft nichts - Strich drunter machen und einfach loslegen. Dacht' ich mir so. 

Noch ein kurzes Wort zum Prozedere: zu den Plätzen 6 - 20 gibt's Kurzreviews, die Plätze 1 - 5 werden ausführlicher angesprochen. Morddrohungen, weil Deine Lieblingslatte fehlt, gehen an die bekannte Adresse. In diesem Zusammenhang können Metallica-Fans schonmal ihr Mailprogramm öffnen. Pfrz! Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier absolut nichts zu sehen.

Eine Sache gibt's jedoch, die ich jetzt noch kurz ansprechen muss. Um nicht Gefahr zu laufen, komplett zu vernerden, gibt es eine Platte, die strenggenommen zwar zu den Top20 gezählt werden könnte, die ich aber schlussendlich nicht in meine Hall Of Fame aufgenommen habe. Zum einen besitze ich sie nicht in physischer Form, was sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern wird. "Vision" der längst aufgelösten Thrashcombo SILENCE aus Washington, USA gibt es erstens nur auf CD und kostet zweitens ein nicht mehr ganz so kleines Vermögen: zwischen 300 und 800 Dollar ist hier offensichtlich alles im Bereich des Möglichen. Zum anderen ist "Vision" eher ein Kandidat für die nächste "Vergessene Perlen"-Reihe und bis 2015 will ich nicht warten. Tatsächlich hat erst vor vier Tagen ein astreiner Typ (ich war's nicht!) die komplette Platte auf Youtube hochgewemmst, weshalb ihr sie jetzt ohne Runterladerei ganz entspannt hören könnt.

Ich bin jedenfalls bei jedem Hören immer wieder baff, wie die Buben sowas aus dem Ärmel schütteln konnten. Im Grunde ist "Vision" der missing link zwischen Dark Angel ab 1989 und Ostküstenherrlichkeit wie jener von Overkill oder den frühen Anthrax, qualitativ beinahe auf Augenhöhe. Hätte man den Jungs 1990 einen etablierten Produzenten vors Mischpult geknallt, der ihnen die Songs ein bisschen gestrafft und sie dynamischer zusammengebastelt hätte, wäre es garantiert nicht nur bei diesem einen Album geblieben, das heute komplett vergessen ist.

Enjoy!






07.11.2013

Nachtblüte



EVAN CAMINITI - DREAMLESS SLEEP


Falls sich noch jemand an meine mehr als nur lobenden Worte über und für Caminits "Night Dust" Album vom vergangenen Jahr erinnert, wird sich ein, zwei Gedankenfunken später möglicherweise gefragt haben, wo denn die zwangsläufige und damit konsequente Huldigung zum kurz darauf erschienenen "Dreamless Sleep" Album zu finden sei. Bis vor sechs Wochen hätte ich noch rotzfrech geantwortet, dass ich für so dicht aufeinanderfolgende Platten qualitativ keine Hand ins Feuer legen würde, und ich mir von einer Solotyp-streichelt-die-Gitarre-Musik jetzt auch nicht endgültig jede Veröffentlichung neben das Bio-Basilikum ins Regal stellen muss. Was natürlich alleine ob meiner BVDUB-Verehrung und dem damit verbundenem Konsumrausch hinsichtlich seiner mindestens drölf Trilliarden Platten pro Quartal wenigstens diskussionswürdig, wenn nicht gleich komplett plem-plem ist, aber das müssen wir jetzt nicht brutalstmöglich aufklären, am End' weint wieder jemand und dann haben wir den Salat. Außerdem hatte ich an "Night Dust" derart helle Freude, dass es einfach nicht mehr benötigte. Ich bin's selten genug, aber ich war halt mal total glücklich und zufrieden.

Ich wusste also, dass "Dreamless Sleep" existiert, aber ich ließ es links liegen - bis ich das Werk für schlappe 12 Euro beim guten Herrn Ratzer, besser gesagt in dessen Stuttgarter Plattencafé herumliegen sah. Und für 12 Euro, dazu ein gutes Jahr nach "Night Dust", würde ich mir selbst eine Maxisingle von Marianne & Michael andrehen lassen. Fast. Meine Reaktion nach alleine dem ersten Hördurchgang mag sich jetzt jeder selbst denken können; der freudetrunkene Gesichtsausdruck in Richtung der nebenan sitzenden Herzallerliebsten, verbunden mit einer prachtvollen Erektion, Quatsch: Endorphinquote im Hypothalamus (ich bin kein Wirbeltier, aber es passt halt dramaturgisch ganz gut rein, in den Text...Apropos: Schleimaale sind auch Wirbeltiere!) brachte mich auf Badeschaumwolke Sieben. Zunächst gilt es festzustellen: "Dreamless Sleep" ist weniger architektonisch als sein Vorgänger. Die räumliche Struktur von "Night Dust" hat sich an feinstofflichen Schwebeteilchen geheftklammert und sich somit zu tatsächlich nokturnen Zwischenwelten hinwegamorphelt, die Dich und die Deinen durch das tragen, was "zumindestens"(Tom Angelripper) in meinem Buch unter dem Rubrum "Leben" abgebildet ist: auf dem Musiksessel sitzen, die Kopfhörer auf den Ohren, die Lautstärke in einem Bereich gepegelt, der gesundheitlich sicherlich nicht so völlig astrein ist - aber wenn er dann kommt, dieser Erweckungsmoment, dieses Durchschlüpfen zu der Erkenntnis, gerade einem ziemlich Großen zuzuhören, wie er uns da mit perfekt ausbalancierter Ästhetik die Nacht erklärt, er uns wie Copperfield in der Schwebe hält, im Nebel, der Gischt, spürt man trotz des einen umgebenenden irdischen Irrsinns plötzlich die Erleichterung darüber, dass es die andere Seite eben auch noch gibt. Die lebendige, die aufgewachte und bewusste Seite. Mehr kann Musik nicht für Dich tun.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

04.11.2013

Die Vergessenen



FLOTSAM AND JETSAM - CUATRO


Als Einstimmung zur sich nunmehr wenigstens leise ankündigenden Thrash Metal Top 20, geht es heute mit Flotsam And Jetsam um eine Band, die seit beinahe dreißig Jahren zu den großen Konstanten des Heavy Metal zählt und gleichzeitig Anfang der neunziger Jahre einen beispiellosen Absturz hinnehmen musste. Das klingt kaum so, als sei es miteinander vereinbar, aber diese Band hat eben einen eisernen Durchhaltewillen. Dafür habe ich beispielhaft mit "Cuatro" ein Album ausgewählt, das so gemeinschaftlich wie grundlos als eines ihrer schwächeren gilt. Die Auswahl hat auch mit der Vinylanschaffung zu tun, die ich kürzlich tätigte. Die Kratzer in der Größe des verdammten Grand Canyons auf beiden Seiten können mir ehrlich gesagt mal den Schuh aufpumpen, denn selbst sie können mir den Hörspaß zu keiner Sekunde verhageln.

Flotsam And Jetsam aus Arizona starteten mit zwei Alben in ihre Karriere, die heute in aller Seelenruhe einstimmig zum Kanon des Speed Metal gezählt werden dürfen. Nach zwei Demos und Beiträgen auf den legendären Metal Massacre und Speed Metal Hell Samplern zeigt das Debut "Doomsday For The Deceiver", veröffentlicht im Juli 1986, eine hungrige, taufrische Band nebst blitzsauber komponierten, teils komplexen Sternstunden des Heavy Metal. Was folgte war der erste Bruch in einer an Brüchen nicht besonders ärmlichen Karriere: Bassist und Hauptsongwriter Jason Newsted wechselt wenige Monate nach Veröffentlichung des Debuts zu Metallica, um dort den verstorbenen Cliff Burton zu ersetzen; gleichzeitig der Startschuss für ein instabiles Line-Up, dem besonders die Position des Bassisten für die nächsten Jahre einige Sorgen bereitet. Das Zweitwerk "No Place For Disgrace" aus dem Jahr 1988 lässt indes qualitativ keinerlei Rückschlüsse auf den internen Zustand der Band zu, denn sie zeigt sich kompositorisch nochmals gereift und feuert ihren brettharten, dank Wundersänger Eric A. Knutson auch überaus orginellen Speed Metal aus allen Rohren. Das Seil, um sich an den "...And Justice For All"-Erfolg der großen Vorreiter Metallica zu hängen ist nicht nur geknüpft, es ist bereits gespannt: der Major MCA nimmt die Flots unter Vertrag und schickt sie mit Produzent Alex Perialas ins Studio, um das wegweisende und so wichtige dritte Album aufzunehmen. "When The Storm Comes Down" ist dann der zweite Nackenschlag, der allerdings nachhaltigere Konsequenzen als Newsteds Abgang für die Truppe bereithält. Nach Aussage der Band ist es vermutlich das Mastering, das kolossal in die Hose geht: der Klang der Snare ist ein Anschlag auf den guten Geschmack, dazu ist sie im Gesamtsound unverschämt präsent, der Gitarrensound ist dagegen verwaschen und so crisp wie ein vier Tage altes Heringsalatbrötchen und Eric A. Knutsons Stimme lässt an manchen Stellen Köpfe und Stahltanks explodieren. Die Songs? "Orientierungslos" trifft es wohl am besten. Einiges ist tatsächlich ausnehmend gut ("Suffer The Madness"), aber der eigentliche Schaden war mit dem Sound des Albums angerichtet.

Damit endet auch die lange Einflugschneise zu "Cuatro". 1992 hatte der Grunge seinen vorübergehenden Siegeszug angetreten, und zusammen mit seinem schlecht muffelnden Bruder Alternative Rock sollte er den verbliebenen Metal Bands für einige Jahre das Leben schwer machen. Metallica wurden als vielleicht einzige "alte" Band von dieser musikalischen Kontinentaldrift verschont: sie feierten mit dem schwarzen Album den endgültigen Einzug in den Mainstream. Nimmt man alleine diese beiden Faktoren zur Hand, hat man eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie "Cuatro" klingt. Wie groß der Einfluss des Labels auf das vierte Studioalbum ausfiel, ist schwer zu sagen, wenngleich man sich wohl nicht allzu weit aus dem Fenster lehnt, wenn man angesichts der miesen Verkaufszahlen des Vorgängers und des veränderten musikalischen Klimas von der ein oder anderen Sondersitzung des Labels mit der Band ausgeht. Die Tage des Thrash Metals waren jedenfalls gezählt, und wo schon auf "When The Storm Comes Down" das Tempo deutlich gedrosselt wurde, regierte auf "Cuatro" endgültig das Midtempo, das nur von einigen kurzlebigen oppositonellen Revolutionen unterbrochen wurde. Aber es ist wie so oft viel zu kurzsichtig, eine Platte nur an ihrem Tempo zu bewerten, denn das strahlendste Element auf "Cuatro" sind die Gitarren- und Gesangsarrangements, beide bedeutend vielschichter und komplexer als in der Vergangenheit. Es sind in erster Linie die etwas zurückgezogeneren Tracks wie "The Message", "Cradle Me Now" und vor allem das fantastische "Wading Through The Darkness", die der komplexen und tiefen, an das zweite Mind Funk-Album erinnernden  Gitarrenarbeit den erforderlichen Auslauf liefern, während Eric A.K. die verblüffend guten Hooklines zusammenknüpft und für Ohrwürmer en masse sorgt. Und auch wenn nicht jede Songidee den Weg in mein Herz findet, ist die Platte in ihrer Gesamtheit viel besser als ihr Ruf.

Ich stand immer sehr loyal zu Flotsam And Jetsam. Bis zum 1999er Album "Unnatural Selection" hatte ich jede ihrer Platten im Schrank stehen - erst danach verlies es mich. Wohl auch, weil die Band ab "Unnatural Selection" erstmalig ihr Mojo verlor. Die Platte klang so tragisch, so unvollständig, so sehr nach absteigendem Ast, nach aufgebrauchter Kraft. Dagegen halte ich die beiden Nachfolger von "Cuatro" - "Drift" aus dem Jahr 1995 und "High" (1997) - auch heute noch für gut- bis hochklassige Metalalben. Vor allem "Drift" hat einige ganz feine, kompakte, brilliant produzierte Hits, die im Gegensatz zu so manch anderer Scheibe aus dem Neunzigern auch überraschend gut gealtert sind. Womit wir beim Kern dessen sind, was ich mit dem ganzen Klimbim sagen möchte. Flotsam and Jetsam hatten in den Neunzigern ausgiebig mit jenen Betonköpfen zu kämpfen, die ihnen Ausverkauf und Anbiederung an den Zeitgeist vorwarfen. Im Vorfeld zu "Drift" wurde beispielsweise standhaft berichtet, die Band würde jetzt alternativen Rock spielen und sich an damals hippen Industrialelementen vergreifen. Und spätestens da war das Metal-Kind endgültig in den Glaubwürdigkeitsbrunnen gefallen. Die Truppe war schon nach den vieldiskutierten Alben drei und vier angeschlagen, nun war sie endgültig unten durch - und selbst der Labelwechsel in den Heimathafen Metal Blade zum 1997er "High"-Werk vermochte den Schaden nicht mehr gut zu machen. Seitdem krebsen Flotsam And Jetsam mehr schlecht als recht durch die Jahre, Platten und Clubs dieser Welt, verständlicherweise längst nicht mehr mit dem Feuer und der Eindringlichkeit früherer Jahre, dabei aber immer noch couragiert und leidenschaftlich. Und außerdem mit einem der besten, originellsten und kraftvollsten Sängern des Heavy Metal.

Ich muss das alles nicht mehr hören, aber ich verfolge ihre Karriere mindestens mit einem halben, aber dafür wachsamen Auge.

Erschienen auf MCA Records, 1992.

23.10.2013

OOOOOOOOOOOOOOOOOHHHHHHHHHH, CRIKEY!



LAWNMOWER DETH - OOH CRIKEY IT'S...LAWNMOWER DETH


Ich hatte gestern den gesamten Tag über einen (musikalischen) Ohrwurm im Schädel, den ich kurioserweise bis zum Verlassen des Büros nicht eine Sekunde hinterfragte, im Sinne von "was hörst Du denn da schon wieder für einen Mist?". Erst beim tatsächlich ersten Schritt vor die Tür dämmerte es mir: das ist die "Kids In America" Coverversion der britischen Moshcoreler von Lawnmower Deth. Der sich direkt daran anschließende "Wie geil ist das denn?"-Gedanke konnte mir zwar auch nicht erklären, wie ich nach jahrelanger Bandabstinenz plötzlich gerade auf die Chaostruppe kam, aber es war total super, an eine Platte erinnert zu werden, die meine Jugend maßgeblich begleitete.

Lawnmower Deth standen für ihre drei Langspielplatten und die "Kids In America"-Maxi bei der englischen Death'n'Grind-Labelinstitution Earache unter Vertrag und es war vor allem das Debut "Ooooohhhh Crikey It's...Lawnmower Deth!", das mich begeistern konnte. Die Bandmitglieder nannten sich Qualcast "Koffee Perkulator" Mutilator, Concorde Faceripper, Schizo Rotary Sprintmaster, Mightymo Destructimo und Explodin' Dr Jaggers Flymo, auf dem Cover machten ein paar wildgewordene Rasenmäher Supermann fertig, und Titel wie "Can I Cultivate Your Groinal Garden" oder mein persönlicher Favorit "Icky Ficky" waren selbst (oder besser: ganz besonders) für einen vierzehnjährigen Pubertätsbolzen genau das richtige. Ich meine, come on?!

Auch musikalisch hätte man die fünf Irren auch gleich ins entsprechende Haus einliefern lassen können - man wusste irgendwie nicht so richtig, wie man dieses Hardcore, Punk und Thrash-Klamaukgemisch nehmen sollte. Dabei lag die Antwort auf der Hand: am besten mit einem Zwerchfellriss. Im Grunde ist das Debut mit Hits, Hits und Hits gespickt - manchmal einfach nur sekundenlanger Trash, ein ander Mal patent gespielter, naiver und ungestümer Thrash. Ihre Unbeschwertheit fanden Lanmower Deth nach "Oooh Crikey..." nur noch selten. 1994 war nach dem deutlich konventionelleren Album "Billy" Schluss.










Die Band hat sich 2009 für ein paar Auftritte reformiert und gehört seitdem fast schon zum Inventar des Download-Festivals, was nicht verwundert, wenn man sich die Reaktionen des Publikums anschaut. Dabei ist es gleichfalls nicht wenig überraschend, dass die Truppe sich tatsächlich in exzellenter und lebhafter Form präsentiert. Keine Spur von den erwartbaren alten Männern. Hier habe ich euch eine Version von "Icky Ficky" beigefügt (es gab mal noch eine Aufnahme auf Youtube, die diesen Wahnsinn besser ins Bild brachte, aber sie ist dummerweise verschwunden), die total großartig finde:




Und zum Abschluss noch das eingangs erwähnte Cover von "Kids In America":





Auch solche Band werden heute irgendwie nicht mehr gebaut.

Erschienen auf Earache, 1990.

17.10.2013

Tout Nouveau Tout Beau (9)

dEUS - FOLLOWING SEA

dEUS sind für mich die europäische, aufgeräumte, intellektuelle Version der kaputten Afghan Whigs. Der zweifellos in ihrer Musik zu erkennende Hedonismus ist im Gegensatz zu jenem eines Greg Dulli dabei weniger zerstörerisch, dafür introspektiv und eine Spur überlegter. Wo sich Dulli im Heroinnebel die Arme mit einer geplatzten Vodkaflasche zerschnippelt, sitzt dEUS-Fronter Tom Barmann in einem Pariser Café, trinkt - Überraschung - Kaffee (schwarz, stark) und raucht Gitanes, wenn er in einem Pariser Café noch rauchen dürfte. Und er verzehrt sich. Innerlich. Nach Liebe und Freiheit und Ficken und Emotion. Es geht um die Verbindung von Pimmel, Kopf und Bauch und dEUS kämpfen um jedes Neuron. Oder Spermium. Oder meinetwegen auch: jeden Ton. Wie so manches auf ihren Platten nach der Wiedervereinigung ist vieles völlig vockstark, um nicht zu sagen: vegeisternd, so manches schießt in seiner Banalität auch über das Ziel der offenen Hose hinaus. Der auf französisch gesungene (und in meiner Wahrnehmung alleine deshalb irgendwie obszöne) Opener "Quatre Mains" und der Rausschmeißer "One Thing About Waves" sind große Intesitätsmonster, letzteres wird sogar von der Herzallerliebsten goutiert; dagegen ist "Girls Keep Drinking" ein nicht irrsinnig spannender Abklatsch von "The Architect" (von "Vantage Point"), und "Crazy About You" wirklich nur Kitsch, und ist darüber hinaus sehr übersichtlich veranlagt. Das wichtigste Element von "Following Sea" ist aber die Geschlossenheit nicht nur dieser Platte, sondern dieser Band im Allgemeinen. dEUS wissen hundertprozentig, wie sie klingen wollen, und wie sie klingen müssen. Und das bleibt auch auf "Following Sea" ihr inspirierendstes Element.

Erschienen auf Play It Again Sam, 2012.




BVDUB & LOSCIL - EREBUS

Google verrät mir, dass bislang noch niemand in deutscher Sprache über diese Platte geschrieben hat, und selbst wenn "Erebus" erst seit Anfang dieser Woche erhältlich ist, kann, nein muss ich es ändern. Über Brock van Weys BVDUB und seiner Armee an veröffentlichter Musik im Laufe des Jahres wird an anderer Stelle und zu einem späteren Zeitpunkt noch zu reden und schreiben sein. Dass mich diese Kooperation mit Loscil (aka Scott Morgan) sehr kurzfristig wieder an exakt jene Wand schleudert, an der noch heute ein Abdruck meines zerschmetterten Körpers zu finden ist, weil ich sein "The Art Of Dying Alone"-Album vielleicht das ein oder andere Mal zu oft, zu laut und zu endorphinisiert gehört habe, will ich jetzt schon loswerden. Es gibt Momente auf dieser Platte, die mir schier die seelenlose Hülle meines irdischen Daseins sprengen. Es ist laut, manchmal nah an der Unerträglichkeit. Ich will, ach was: ich muss platzen. Ich bekomme körperliche Reaktionen. Schweißausbruch. Husten. Jetzt könnte man sagen, ich soll aufhören das Poster von Kristina Köhler anzuschauen, aber was alleine "Aether" mit mir anstellt, ist beeindruckend, beängstigend und macht einen am Ende des Tages dann eben doch zwei Köpfe größer, mindestens aber zu einem besseren Menschen. Genug der Lobhudelei, nur eins noch: "Erebus" erscheint auf Glacial Movements. Spätestens jetzt wissen die Eingeweihten, was zu tun ist. Genau, Fieberthermometer und Wadenwickel. 

Erschienen auf Glacial Movement, 2013.




BOARDS OF CANADA - TOMORROW'S HARVEST

Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich mit "Tomorrow's Harvest" anstellen soll und ehrlich gesagt weiß ich es immer noch nicht so genau. Mein Gefühl zu dieser Platte ist völlig indifferent, und ich habe mich für diesen Blogpost kurzerhand dazu entschieden, dass ich jenes Gefühl als kein allzu gutes Zeichen werte. Wenn ich auch nach mehreren Wochen des ausgiebigen Hörens immer noch nicht weiß, was das hier alles soll, ist für gewöhnlich Ärger im Verzug.

Zugegeben, der Hype um die Veröffentlichung dieses Comebacks der beiden Schotten Michael Sandison und Marcus Eoin Sandison machte es mir zunächst schwer, überhaupt vorurteilsfrei an "Tomorrow's Harvest" heranzutreten - dieser ganze Quatschhaufen aus limitierten LPs und Maxis, Streamingsessions in der Wüste, rätselhaften Zahlenkombinationen und dieser ganz grundlegend elitäre Dreck kann mich mal kreuzweise. Natürlich lebt der Mythos Boards Of Canada auch und insbesondere genau davon, aber trotzdem wäre man noch vor wenigen Jahren einhellig der Meinung gewesen, dass gerade die Musik dieser beiden Phantome all das nicht notwendig hat. Im Jahr 2013 gehört das Klappern aber eben auch (und insbesondere) zur Hipster-Internet-Welt der Pitchfork-Generation, und die erzielten Chartpositionen beweisen zumindest die geschäftliche Relevanz dieser Taktik.

Die künstlerische Seite ist schon eine Spur heikler, zumal die Platte den Hype im Prinzip zu keiner Sekunde rechtfertigt. Aber so ist es ja irgendwie immer. Welche Platte rechtfertigt schon einen übertriebenen Hype? Talking about Erwartungshaltung. Zumal es ja im Grunde auch keinen mehr interessiert, wenn die Platte mal im Schränkchen steht. Insofern passt "Tomorrow's Harvest" bestens in die heutige Zeit der Verschleierung und des Plastikwahns. Dabei stricken die beiden Brüder ihre Musik zwar immer noch eindeutig nach altbewährtem Muster, haben die interessanten, experimentelleren und tief eingegrabenen, verschlungenden Pfade der Vergangenheit mittlerweile aber weitgehend verlassen und setzen hinsichtlich Stimmung und Atmosphäre auf haudünn ausgerolltes musikalisches Butterbrotpapier. Vieles auf "Tomorrow's Harvest" ist für meinen Geschmack viel zu anschmiegsam, zu gefällig und in der Konsequenz genau so trüb wie die Skyline San Franciscos auf dem Coverartwork. Manches ist besser ("Nothing Is Real"), manches geradezu gruselig ("Split Your Infinities", "New Seeds"), während der vor sich hin dümpelnde Mittelteil der eindrücklichste Beweis dafür ist, dass einer wie Four Tets Kieran Hebden die beiden Brüder in Sachen Kreativität, Spielwitz und Tiefe mit Karacho rechts überholt hat.

"Tomorrow's Harvest" ist die generationsangepasste Light-Version der Boards Of Canada - man kann den jungen, wilden, kreativen Latte Macchiato Menschen von heute einfach nicht mehr zumuten. Sehen wir's ein. Marketing took over.

Erschienen auf Warp, 2013.