14.03.2013

Clive Burr - 8. März 1957 - 12. März 2013




Tschüss, Clive. Dein Schlagzeugeinsteig bei "The Prisoner" brachte mich zu Iron Maiden und zum Metal.

Und nach Deinem Ausstieg waren Maiden einfach eine andere Band.


13.03.2013

Dunkelstadt



STEVEN R. SMITH - CITIES

Das Dusted Magazin beschreibt Steven R. Smith als "one of America's great hidden artists", und die Tatsache, dass "Cities" trotz fast vierjähriger Familienzugehörigkeit im Plattenregal noch keine Erwähnung auf diesen Seiten gefunden hat, möchte die Aussage geradewegs raketenstramm bestätigen - wäre mein kleines Bloglein eben nicht so, Sie erraten es: klein. Nichtsdestotrotz gehört "Cities" seit seinem Erscheinen zur beliebten Rubrik "Ich lass' Dich niemals wieder los!", und ich verfalle seit Jahren in schmachtende Melancholia, wenn ich nur dieses großartige Coverartwork sehe.

Smith ist seit 1995 in der US-amerikanischen Songwriter/Ambient/Noise-Szene unter einer Armada an Pseudonymen aktiv, außerdem ein Mitglied des Jewelled Antler Kollektivs und seither auf grob geschätzten dreißig Aufnahmen zu finden. Der Mann ist Multiinstrumentalist und weiß also, was er tut - und Halleluja, das hört man. "Cities" ist aus mehreren Gründen eine sehr beeindruckende Platte. Zum einen balanciert sie zwischen den Naturbildern eines Dewey Mahood, zwischen einer rauhen, wilden Zügellosigkeit, und einer ungeheuer intimen, scheuen, fast ambivalent anonymen Verbindung zum Hörer. Ein Husarenritt auf der Rasierklinge, die die Extravaganz von der Introspektion trennt; weniger therapeutisch, sondern tatsächlich als "struktureller Ansatz" (Franz Beckenbauer) einer Musik, die in einem kleinen Häuschen im Moloch von Los Angeles erdacht wurde, und die erkennbar den Kopf aus der ubiquitären Plastiksuppe streckt und die Flügel schwingt. Zum anderen schälen sich aus dem Dickicht aus manchmal schroffem Schubbern von Holz, Stahl und Luft Melodieminiaturen von atemberaubender Schönheit heraus, die im Zeitraffer das wundersame Erwachen bis zur unausweichlichen Vergänglichkeit zeigen. Dass Smith hierbei sehr nuanciert und subtil vorgeht, gleichzeitig aber kräftige emotionale Motive entwirft, die von trüber Urbanität, von der Einsamkeit und gleichzeitig von der Liebe für das Leben erzählen, mildert den Einschlag in die Gefühlswelt etwas ab und lässt uns etwas mehr Luft zum Atmen. In der dunklen Plastiksuppe aus der Stadt der Engel.

Erschienen auf Immune Rcordings, 2009.

12.03.2013

Schöne Neue Welt



JOSÉ JAMES - NO BEGINNING NO END

Die Welt scheint gerade ein bisschen wegen des kleinen Kuschelsängers José James auszuflippen, und so gerne ich dabei mitmachen würde: ich kann es nicht. Wirklich nicht. Ich habe es jetzt sechs Wochen versucht, aber "No Beginning No End" ist eine Enttäuschung, gegen die sogar das letzte, selbst nicht ganz fehlerfreie Album "Blackmagic" dasteht wie in Grammy-Gold gegossen.

"No Beginning No End" fehlt das, was es per Genredefinition eigentlich haben sollte: Seele und Tiefgang. Erstens mag ich Josés Stimme wirklich gerne, sie ist smooth wie ein Mango-Lassi, der optimal temperiert durch dein Schallgesims tröpfelt. Aber eines ist sie nicht: variabel. James flüsternölt sich fast gänzlich ohne Abwechslung durch die quälend langen 65 Minuten seines dritten Albums, und dass einer wie sein Entdecker Gilles Peterson den Vergleich mit Gil Scott-Heron heranzieht, und die New York fucking Times dasselbe dann gleich nochmal vom Sticker, der links oben auf dem Album klebt, abschreibt, ist selbst diplomatisch am besten mit "bizarr" beschrieben. Von den Unterschieden in der textlichen Ausrichtung, hier Kuschelfummelbungabunga, da "The first time I heard them talking about trouble in the middle east, I thought they were talking about Pittsburgh.", mal ganz (GANZ!) abgesehen. Zweitens fehlt ebenjene Abwechslung in den Kompositionen, die "Blackmagic" dank Produzenten wie Flying Lotus oder Moodyman liefern konnte. Was auf "No Beginning No End" regiert ist der saloppe Laissez-Faire Schunkelschmuser für eine Nescafe-Latte to go (ganz weit weg) und das macht er gut und richtig und angenehm und säuselnd und wer schnellstmöglich zum Beischlaf mit irgendwem kommen möchte, der legt am besten diese Platte auf. Aber er regiert mit durchgelegenen Betten, verwelkten Rosensträußen und einem Karamell-Knoblauch-Tee, dieser Schunkelschmuser. Und ja, es ist wirklich genau die Soße, nach der es sich wegen meines Geschreibsels gerade anfühlt. Drittens: José ist jetzt bei Blue Note. Und wer auch immer dieses Album produziert hat, es ist so glatt wie eine Bowlingbahn. Vielleicht müssen Platten auf Blue Note glatt wie eine Bowlingbahn klingen, aber ich bekomme auf Bowlingbahnen immer Fußpilz. Also, nicht direkt. Aber dann später.

Vielleicht wird es ja in den hoffentlich sehr bald anstehenden lauen Sommernächten noch etwas mit mir und "No Beginning No End", ich will's nicht ausschließen, denn ich bin José James eigentlich sehr wohlgesonnen und ich mochte seine Platten. Bis dahin bleibt sein Debut "The Dreamer" aus dem Jahr 2008 nachwievor sein tiefstes und damit auch sein bestes Album.

Erschienen auf Blue Note, 2013.


P.S.: Hallo crazy-abgespacete Blue Note-Mitarbeiter: 2013, Downloadcode, anyone? Das ist nun wirklich keine Raketentechnik; das kann man doch mal in Betracht ziehen, kann man nicht? Oder sind die 20 Cent pro Scheibe, die es bei diesen Auflagenzahlen dann erwartbar kosten wird, wirklich und einfach: zuviel? Weil der Shareholdervalue so drückt? Weil es sonst einen Monat keinen Kaffee im Büro gibt? Weil der Chef sonst seine Frau verkaufen muss? Reißt Euch doch mal zusammen.

04.03.2013

Die Songs des Jahres 2012 (Vol.2)

Von Platz 5 bis Platz 1 - damit ihr ein bisschen Scrollen müsst, um zur TOTAL ÜBERRASCHENDEN Nummer 1 zu kommen.

Hurz!


05 Monophonics - There's A Riot Going On

Die erste Singleauskopplung ihres Debuts "In Your Brain" ist gleichzeitig auch der beste Track dieses kalifornischen Ensembles, das beim NeoSoul/Funk Label Ubiquity untergekommen ist. Anders als ihre Labelgenossen von Orgone sind die Monophonics psychedelischer, bluesiger und traditioneller unterwegs, und was sich auf der (zu langen) Platte etwas zieht, entwickelt sich spätestens auf der Bühne zu einem umwerfend intensiven Trip. "There's A Riot Going On" gibt's nur gegen Rezept und schlappe 6 Euro auf einer schicken 7-Inch.




04 Ayshay - Shaytan

Eine der großen Überraschungen 2012 war Fatima Al Qadiri aka Ayshay mit ihrer "Warn-U" EP auf Tri Angle, und tatsächlich hielt sich "Shaytan" lange Zeit an der Spitze meiner persönlichen Songjahrescharts. "Shaytan" ist beunruhigend, aufdringlich und tiefschwarz. Und so schön, dass ich manchmal keine Worte dafür finde.




03 Georgia Anne Muldrow - Seeds

Ich hatte es mit meinen Worten zum vollständigen Album bereits angedeutet: die Vorabsingle "Seeds" ist mittlerweile ein kleiner Klassiker, das Video sowieso, und ich sehe keinen Grund dafür, diesen supercoolen, deepen, spirituellen und von Madlib mit viel Fingerspitzengefühl produzierten Track nicht auf den dritten Platz rücken zu lassen.




02 Propagandhi - Status Update

Ich darf den Youtube-Mitinsassen GunjerSpinners zitieren:"took them less than a minute to clear my mind..wow." Womit dann eigentlich alles gesagt wäre.




01 De La Soul's Plug 1 & Plug 2 Presents First Serve  - Must B The Music

Wir kommen nicht drum herum, ihr nicht, und ich gleich gar nicht. Alles, was Spaß macht, ist hier in knappen vier Minuten verbratzt, aufgeschlagen, drappiert und als Geschenk verpackt. Ich möchte hierzu selbst bei Minustemperaturen nur mit einem Rüsselschlüpper bekleidet Straßenlaternen und Briefkastenschlitze unsittlich berühren. Ich möchte aus einem öffentlichen Urinal einen kräftigen Schluck mit einem rosafarbenen Ringelstrohhalm nehmen. Ich möchte Parkuhren und Polizisten ablecken. Lebt das Leben. Liebt die Liebe. Liebt das Leben.




Ich muss aber nun doch mal die Frage stellen, warum die Google-Bildersuche Fotos von Christiano Ronaldo ausspuckt, wenn ich nach "Rüsselunterhose" suche?!

03.03.2013

Die Songs des Jahres 2012 (Vol.1)

Listen, immer nur Listen. Ich könnte praktisch ein ganzes Blog-Jahr nur mit Listen füllen, mir würde bedauernswerterweise wohl immer ein absurder Mist einfallen.

Heute ist's allerdings erfrischend unabsurd, eine Liste mit den besten Songs des Jahres ist schließlich völlig legitim, ist es nicht? Wir machen das in zwei Etappen, sonst wird mir langweilig. Außerdem mit einem Novum, weil es dieses Jahr die entsprechenden Youtube-Video mit dazu gibt. Mein Service! Von mir, für Euch. "Ich liebe Dich, Mann!" (Wayne's World). Und die GEMA kann mir immer noch und äußerst ausgiebig mal schön den [zensiert]. Jedenfalls kann sie mich mal. Irgendwas. Verklagen. Ahahaha. Naja.


10 Lauer - Coppers

Man kann darüber diskutieren, ob das Album "Phillips" im Allgemeinen und der Track "Coppers" im Speziellen in den dunklen Wintermonaten Sinn machen, aber ich kann bestätigen, dass sich insbesondere "Coppers" im Sommer 2012 durch so manche Nacht auf der Überholspur Endlosschleife hielt. Für Zeiten, in denen Tumbleweed durch die hohle Rübe weht. Einfach, weil's Spaß macht.




09 Jacques Greene - Ready

Auch wenn Greenes "Another Girl" EP aus dem Jahr 2011 durchaus okay war, hatte ich ihn für einen solchen Kracher nicht auf der Rechnung. "Ready" platziert sich zwischen einer flotteren Burial-Nummer, Tri Angle-Sounds und einem ordentlichen Zug nach vorne mit einem sehr vielschichtigen und warmen Soundansatz. Außerdem sehr erfreulich: man hört Greenes Willen heraus, seinen Stil zu präzisieren. Das ist super.




08 Maserati - Abracadabracab

Maserati sind schwer gebeutelt und irgendwie hört man es "VII" auch an. Ihre neue Platte "VII" wäre um ein Haar in meine Top 20 hereingerutscht; ein wunderbar psychedelisches und kraftvolles Instrumentalrock Album von einer Band, die es tatsächlich geschafft hat, den Postrockrahmen nicht nur zu sprengen, sondern ihn  sogar zu erweitern. Es grüßen Pink Floyd, Kraftwerk und und Neu! "Abracadabracab" ist ein großartiges, über zehn Minuten langes Epos, für Tänzer genauso geeignet wie für Kopfnicker.




07 Holy Other - U Now

Holy Others "With U" EP aus dem Jahr 2011 war eine Sensation, auf dem vollständigen Debut "Held" zeigt sich aber, dass die Herausfroderung, ein abendfüllendes Album zu gestalten, vielleicht noch eine Nummer zu groß war. Die Zahl der anbetungswürdigen Momente ist zwar identisch mit der "With U"-Quote, aber eine EP ist eben auch kürzer. "U Now" ist das beste Beispiel, praktisch die Blaupause für seinen Sound: sofort zu identifizieren, sofort in die DNA eingebaut, sofort zum Leben erweckt.




06 Pinkish Black - Bodies In Tow

Der stärkste Track aus dem guten, selbstbetitelten Album des Weirdo-Duos aus Texas. Ein hymnischer Schlag mit dem Morgenstern, hochmelodisch und -dramatisch inszeniert, mit sehr charmanten und sympatischen Doom Metal Zitaten, die vor allem beim Gesang durchschimmern. Immer noch fantastisch.




25.02.2013

2012 ° Platz 1 ° Propagandhi - Failed States



PROPAGANDHI - FAILED STATES


Überraschungen sehen anders aus: wer sich wenigstens in der zweiten Jahreshälfte 2012 zitternd und erschöpft durch mein Geschreibsel kämpfte, dem dürfte die Nummer Eins des Flo-Universums 2012 irgendwie bekannt vorkommen. Auch wenn, und das muss gesagt werden, der Zweikampf an der Spitze ein verdammt ernster und mit harten Bandagen geführter Fight war, der buchstäblich erst in letzter Minute zugunsten der Kanadier entschieden wurde.

"Failed States" also. Da muss ich mal kurz durchatmen. *schnauf*

Ich muss zugeben: ich bin glücklich mit dieser Entscheidung, auch wenn ich nun mit der Herausforderung im Ring stehe, einstmals völlig richtiges nochmal zu wiederholen, ohne mich, naja,...zu wiederholen. Denn so irrsinnig viel ist mit dieser Platte in den zurückliegenden Monaten nicht passiert; es ist auch heute noch ein geradewegs erhebendes Gefühl, "Failed States" zu hören. Ein kraftstrotzendes, visionäres, zügelloses Monster aus Hardcore, Punk und Thrash Metal, das besonders viel Anziehungskraft auf mich ausübt, wenn das Oberstübchen nach einem Sorgenstaubsauger ruft. Wenn sich der werte Herr Autor also am Freitagabend aus dem ICE und in das Wochenende rollt, wenn das ganze ungeklärte Abwasser aus einer grotesk verkackten Arbeitswoche gefälligst das Weite suchen soll, dann gehört mir mit diesen 37 Minuten die Welt.

Propagandhi haben mit ihrem sechsten Studioalbum das vielleicht goldenste Händchen ihrer Karriere bewiesen: so fokussiert, so kompakt und gleichzeitig variabel war das Quartett noch niemals zuvor. Gleichzeitig ist die Zahl derer, die der Band nicht (mehr) folgen können und wollen offensichtlich nochmal angestiegen. Zu komplex, zu progressiv, zu laut, zu Metal, zu leise, zu Punk, zu Rush, zu ernst, zu anstrengend, all das verbunden mit den abstrusesten Vergleichen, den bizarrsten Begründungen, den fatalsten Schlussfolgerungen. Sie könnten alle nicht falscher liegen: "Failed States" präsentiert eine auf den Punkt durchtrainierte Band, sehnig und drahtig, stahlhart und makellos. Hier ist keine Sekunde verschenkt.

"Failed States" ist eine verdammte Lehrstunde und folgerichtig die kreative Speerspitze dessen, was in einem musikalisch längst redundanten, inhaltsleeren und mit banalen Plattitüden vollgestopften Genre permanent nur noch um sich selbst und die eigenen Befindlichkeiten kreist.

Erschienen auf Epitaph, 2012.

24.02.2013

2012 ° Platz 2 ° The Life And Times - No One Loves You Like I Do



THE LIFE AND TIMES - NO ONE LOVES YOU LIKE I DO

Als ich vor wenigen Tagen feststellte, es gäbe außer The Sea And Cake keine andere Band, die ich auf diesem Blog mit soviel Hingabe und Liebe überschüttet habe, dann war das wenn nicht glatt gelogen, dann zumindest nur die berühmte halbe Wahrheit. The Life And Times gehören seit ihrem Albumdebut "Suburban Hymns" zu meinen Lieblingsbands, was ich an der ein oder anderen Stelle bereits ebenfalls ausgiebig breittrat. Das Power Trio aus Kansas City hat praktisch noch keinen auch nur durchschnittlichen Ton auf eine Platte gepresst und kommt mit seinem psychedelischen, schweren und emotionalen Indienoiserock verdammt nahe an meine Idealvorstellung aktueller Rockmusik heran.

Allen Epley, Meister des verschrobenen Arrangements und außerdem Saitenhexer von kilometermeterdicken Noiselayern, die einen Kevin Shields wie einen blutigen (haha!) Anfänger aussehen lassen, hat aus der Asche seiner früheren Alternative/Grunge Truppe Shiner einen völlig einzigartigen Stil für The Life And Times geboren und mit seinen Kumpels Eric Abert am Bass und Chris Metcalf am Schlagzeug mittlerweile zur Perfektion veredelt: tonnenschwer, verzerrt, noisy, dabei aber zum Sterben romantisch, melancholisch, opulent und tiefrot glimmend. Es gibt keine Band, die auch nur im Ansatz so klingt wie diese drei Typen.

"No One Loves You Like I Do" ist in der Liste vergangener Klassiker keine Ausnahme, tatsächlich muss ich zugeben, dass ich im Grunde bereits vor Veröffentlichung "Na, dann muss ich mir dieses Jahr ja keine Gedanken um meine Nummer 1 machen!" jubelte. Jetzt steht ihr drittes Studioalbum also auf Platz zwei, und es liegt weißgott nicht an seiner Qualität, denn das Trio ist auf Albumlänge kompakter geworden, hat aber gleichzeitig an der Psychedelic-Schraube gedreht und einige ziemlich fiebrige Minuten aufgenommen, die den Kopf ganz schön weichkochen und ohne echte Auseinandersetzung wie Staub zerfallen können. Ich habe keine Ahnung, wie sie das angestellt haben, aber es gibt Momente im Verlauf der 46 Minuten, die das komplette Werk als großen Noise-Meteoriten aus purer, in Chloroform getränkter Watte erscheinen lassen. Und jeder Ton gräbt sich tief in die DNA jeder einzelnen Körperzelle ein.

It doesn't get much more intense than this.


Veröffentlicht auf Hawthorne Street Records, 2012.

23.02.2013

2012 ° Platz 3 ° Variant - Falling Stars



VARIANT - FALLING STARS

Für die Veröffentlichungspolitik der künstlichen Verknappung des Echochord-Labels im Allgemeinen und Steven Hitchell im Speziellen habe ich zumeist nur zwei ausgestreckte Mittelfinger übrig, aber sie hindert mich auch im Falle von diesem zweiundsechzigminütigen Track nicht daran, vor Freude leise in mich hineinzuweinen. Ich bin ja schon manchmal reichlich bescheuert, wenn es um Plattenkaufen in Verbindung mit Geldausgeben geht, aber entre nous: hier haben einige nicht nur ein Rad, sondern eher ein paar Doppelachsen ab. Vorab gab's eine auf 25 Stück limitierte Promo-CDR, später eine weitere CDR, für die aber nur die vollends Kaputten die anvisierten 30 bis 50 Dollar zahlen würden, es folgt eine obskure Compilation, die Variants "The Setting Sun"-Album den fallenden Sternen zur Seite stellt und als Schlagsahne noch eine remasterte Version obendrauf, von der kein Mensch weiß, was hier remastert oder editiert wurde. Sollte ein Labelprofi mitlesen: ich freue mich über Aufklärung. Solange heißt's für mich: MP3 ist doch auch ganz schön. Und schön ist das richtige Stichwort für eine Platte, die klingt...

...als hätte man Lisa Gerrard und Brandon Perry eine Überdosis Tavor und Hustensaft verabreicht und sie alle jemals aufgenommenen Spuren aller jemals aufgenommenen Dead Can Dance Platten übereinander legen lassen. Dann hätte man den Kladderadatsch auf ein 45er Vinyl gepresst und die Platte über den Plattenspieler vom lieben Gott oder Barbara Schöneberger auf WAHNSINNINGER GESCHWINDIGKEIT, quatsch: unfassbar langsamer Geschwindigkeit, dafür aber auf WAHNSINNIGER LAUTSTÄRKE abgespielt.

...als würde man die komplett vollverhohlten Schlachtszenen aus dem Fantasy-Kitschmist "Herr Der Ringe" und die einstürzenden Mauern von, was isses gleich? Knubbelnasenhausen, Gandalfvonuntenstadt oder Sauronhumppa einzeln im Standbild abspielen und jeden umknickenden Grashalm beweinen.

...als würde ein überdimensionaler, gigantischer Verschnitt aus Godzilla, King Kong und dem Stay Puft Marshmallow Man in einem akuten Anfall des Alice-im-Wunderland-Syndroms durch Shangri-La schweben und dabei dunkelrote Rosenblüten streuen.

...als würden flüssiger Stahl, krusselige Klumpen erkalteter Lava, rosafarbener Schlamm und dunkle Materie durch meinen Körper fließen.

Keine Platte für jede Zeit, keine Platte für jeden Ort, keine Platte für Jedermann.


Erschienen auf Echospace[detroit], 2012.

17.02.2013

2012 ° Platz 4 ° Orcas - Orcas



ORCAS - ORCAS

Erinnert sich noch jemand an meinen Text über Bonobos "Black Sands" Album? Bien sur, das ist eine rhetorische Frage und deshalb will es nicht schwerer machen, als es ist, und einen zentralen Satz daraus zitieren:

"Du hörst es und Du weißt augenblicklich - 'Okay, das hier ist wichtig, hör genau zu, Mann!".

Exakt diesen Effekt erlebte ich beim ersten Anhören von "Orcas", dem Debut des Projekts der beiden Soundtüftler Benoit Pioulard und Rafael Anton Irisarri, und ich wurde schon zur Mitte des ersten Titels leicht hektisch: diese Jahresbestenliste muss neu geschrieben werden - und sie wurde neu geschrieben. "Orcas" rutschte praktisch nach jedem Hördurchgang einen Platz nach oben, weil diese Musik so romantisch, schwül, flirrend ist, weil sie so lush und deep in dich hineinflutscht wie kaum etwas anderes. Die erfrischend aufgeräumte Hippieästhetik und der zähe, ausgewalzte Folkansatz des Duos bekommt durch das Ambientknistern und -flackern eine unüberschaubare Weite, verliert sich dabei aber nie in experimentellen Kunststrukturen. "Orcas" bleibt bei Dir, egal wie weit der Spagat von hymnenhafter Leichtigkeit zu den monumentalen Klanggebirgen reichen mag.

Die Herzallerliebste und ich waren erst kürzlich einer Meinung, als "Orcas" uns den Brunch am Frühstückstisch versüßte: es ist eine der schönsten, bildhaftesten und kontemplativsten Platten der vergangenen Jahre. Ein besonnener und guter Freund, der Licht schenkt, wenn es draußen mal wieder stockfinster ist.

Erschienen auf Morr Music, 2012.


16.02.2013

2012 ° Platz 5 ° Qluster - Antworten



QLUSTER - ANTWORTEN

Es passiert ausgesprochen selten, dass mir im Dezember eines Jahres eine Platte unterkommt, die mit derart wehenden Fahnen in meine Jahrescharts stürmt, wie der dritte Teil der Qluster-Trilogie "Antworten". DER_LEHRER empfahl mir während eines gemeinsamen Plattenladenbesuchs am Nikolaustag 2012 ein oder sogar zwei Ohren zu riskieren, und ich sende seitdem Luft und Liebe in Richtung Klassenzimmer: bereits nach dem ersten Kopfhörertest war klar, dass "Antworten" in die Top 5 gehört.

Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock setzten sich der Legende nach im Januar 2007 um Mitternacht in die Berliner Philharmonie und an die zwei dort bereitgestellten Steinway Flügel. Ihre nokturnen Improvisationen sind geprägt von großem Verständnis und Einfühlvermögen, manchmal scheint es, als könnte man ihre Gedanken wenn nicht hören, dann wenigstens spüren. Sie beobachten sich einander ganz genau, lassen sich den Freiraum, wenn die musikalische Weite Universen verschlingt und ziehen sich zusammen, wenn die winzigen Miniaturen in Melodie vor Energie und Intensität beinahe zerbersten. Roedelius und Bock erschaffen auf "Antworten" ein intimes, mehrdimensionales Standbild der Nacht, ein Gegengewicht zum sich im stetem Fluss abspielenden, hektischen Alltag der Großstadt. Den Blickwinkel verändern, den Kopf aus der alles mitreißenden Flut strecken, tief Luft holen, um danach noch tiefer abtauchen zu können: wenn "Antworten" uns genau diese "Antwort" auf die immer brennenderen Lebensfragen von misstrauischen und ziellosen Generationen liefert, dann wird es Zeit, das Leben neu auszurichten und es endlich in die Hand zu nehmen. Wir werden den Irrsinn auf andere Weise nicht überleben können.

Und wenn Keith Jarrett diese Platte hört, setzt er sich nie wieder an einen Flügel.
Erschienen auf Bureau B, 2012.

11.02.2013

2012 ° Platz 6 ° De La Soul's Plug 1 & Plug 2 Present First Serve



DE LA SOULS'S PLUG 1 & PLUG 2 PRESENT
FIRST SERVE

»It’s funky, it’s hip hop, it’s disco and it’s classic.«

An dieser Stelle könnte eigentlich schon alles gesagt sein. "First Serve" war mein Sommeralbum 2012 und selbst jetzt, beim Probehören im arschkalten Februar, trage ich mein mit rot-weißen Palmen geschmücktes Hawaiihemd, pinke Hotpants mit auf dem Arsch gedruckten Rosenblüten, dazu die guten Flip-Flops mit Wohlfühl-Fußbett, reiße das Fenster auf und schüttele mir einen Caipirinha mit Limettensaft aus der Flasche zusammen. Letzteres kann ich übrigens mittags um eins nicht empfehlen, aber bei der Kälte spart man sich wenigstens das Eis. Und das leere Glas kann auch noch ganz hervorragend auf die Karnevalstrottel aus dem Neanderthal geschmissen werden, die just 100 Meter von meiner Höhle entfernt ihren verkackten Umzugsschrott feiern. Aber das habe ich nicht geschrieben. So ähnlich, bis auf die Kälte und die lustigen Helau-Masturbanten, lief es vor zehn Monaten ab, als ich eher zufällig die erste Single "Must B The Music" aus diesem funkensprühenden Album hörte. Ich weiß noch genau, dass ich derart euphorisch war, dass ich etwas tat, was ich für gewöhnlich nie mache: ich schloss den Laptop an meine Anlage an!*donnergrollen* Damit ich diesen Song L.A.U.T. und über die großen Lautsprecher hören konnte. Außerdem stammelte ich die ganze Zeit "I...ist das g...geil. H...hörst Du d...das? Ohgott. Wie g....geil!" in Richtung der ob der Lautstärke leicht unentspannten Herzallerliebsten, die aber nach dem vierten Durchlauf ebenfalls ein für ihre Verhältnisse rares "Das ist aber echt geil!" fallen ließ.

Als ich wenige Wochen später die vollständige Platte in den Händen hielt, war von der sonst so üblichen Enttäuschung (i.S.v. großartige Single, abfallendes Album) weit und breit nichts zu sehen, zu hören noch weniger. "First Serve", ausgedacht vom französischen Produzenten-Team Chokolate & Khalid und den beiden De La Soul MCs Dave und Pos, ist ein funky-freshes und positives Hip Hop Album der alten Schule, gespickt mit kerzengeraden, dicken Discobeats und viel, viel Funk und Soul und noch mehr Humor. Die Story des Albums dreht sich um zwei talentierte Rapper, die große Stars werden wollen, sich anfangs mit den Berufswünschen der Eltern, später mit Verträgen und dem Split herumschlagen müssen (Spoiler Alert: sie finden aber wieder zusammen).

Vor einer Woche wünschte ich mir angesichts des Oddisee-Albums das Entstehen von neuen Klassikern herbei und "First Serve" reiht sich nahtlos in diesen Wunsch ein. 12 Songs, 12 unsterbliche Hits, 12 Mal großer Spaß, 12 Mal Limbo tanzen. Do it!

Erschienen auf Pias, 2012.

10.02.2013

2012 ° Platz 7 ° The Sea And Cake - Runner


THE SEA AND CAKE - RUNNER

Es gibt wohl keine andere Band, die ich auf diesem Blog ausgiebiger mit Lob und Liebe überschüttete als The Sea And Cake und, um die Pointe gleich vorwegzunehmen: das wird sich auch mit diesem Beitrag nicht ändern.

Als ich 2005 zum ersten Mal "All The Photos" vom fantastischen "Oui"-Album hörte, war es um mich geschehen. Seitdem versuche ich mir selbst zu erklären, was mich an der Musik des Quartetts aus Chicago so sehr fasziniert, und ich kann nicht sagen, dass ich in den letzten acht Jahren bedeutend weiter gekommen bin. Natürlich ist der reflexartige Kniefall bei bloßer Namenserwähnung dank der Leichtfüßigkeit, der Souveränität, der feingliedrigen Arrangements und der schüchtern-naiven Aura ihrer Kompositionen jederzeit problemlos darstellbar, aber da brodelt noch irgendetwas tiefer in mir als die genannten und offensichtlichen Merkmale. Ihre Musik zieht mich, oft nur für wenige Sekunden, in meine Jugend zurück und ich assoziiere nicht selten komplette, erlebte Bilder mit einzelnen Songs; manchmal ist es gar nur eine Betonung, ein Gitarrenanschlag oder eine gehauchte Wortsilbe, die mich aus dem Hier und Jetzt in das Damals und Gestern katapultiert. "All The Photos" ist beispielsweise ab dem Break bei Minute 1:25 seit jeher mit einem Sommertag im Juli 1995 verknüpft, an dem ich am Schreibtisch meines Zimmers in der elterlichen Wohnung  saß, Guinness aus Dosen trank und für die theoretische Führerscheinprüfung lernte. Bei "Window Sills" vom 2008er "Car Alarm"-Meisterwerk sitze ich ab der ersten Note ebenfalls im spätpubertären Kinderzimmer, habe eine Tasse Kaffee neben mir stehen, schaue melancholisch aus dem Fenster und den Schneeflocken beim Sterben zu. "Runner" fügt diesen Beispielen mit "A Mere" gleichfalls winterliche Nachmittage mit der tonlosen Bill Cosby Fernsehserie hinzu. Und manchmal ist es nicht mehr als ein Gefühl, vielleicht ein Geruch oder ein Geschmack in der Luft, den ich auf dem Fußweg vom Abitur-Gymnasium in die Wunderbar in Frankfurt-Höchst wahrgenommen habe, um eine selbstentschuldigte Freistunde bei einem Kaffee und unter Freunden zu verbringen. Vielleicht komme ich nochmal dahinter, warum das alles so ist, wie es ist. Vielleicht kann ich The Sea And Cake aber auch weiterhin einfach als eine der schönsten, ergreifendsten Bands aller Zeiten betrachten, an der ich mich nicht satthören kann.

"Runner" ist im Vergleich mit der "The Moonlight Butterfly" EP aus dem Jahr 2011 etwas vielschichtiger in der stilistischen Ausprägung und gleichzeitig kompakter in Stimmung und Ton, wofür vor allem die B-Seite verantwortlich ist, die vom reinen Akustiksong "Harbor Bridges" über das sehnsüchtig flackernde "New Patterns" (schon wieder: ein Gitarrensolo!), dem ungewohnt rockigen "Neighbors And Township", dem Hit "Pacific" bis zum an ihre 90er Alben wie "The Biz" und "Nassau" erinnernden Titeltrack neue Maßstäbe im Band-Kosmos setzt. Abgesehen vom unangenehm übersteuert und verzerrt klingenden "Skyscraper", einem Song, der in allen Formaten, sei es Vinyl, CD oder MP3, klingt, als sei ein Lautsprecherkabel kaputt, ist "Runner", und jetzt kann ich es wieder sagen: schon wieder das nächste beste The Sea And Cake Album der Welt.

Ein Spektakel in Nonchalance.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

03.02.2013

2012 ° Platz 8 ° Oddisee - People Hear What They See



ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE

Ist die Zeit für Klassiker einfach vorbei? Vor zwanzig Jahren wären sämtliche Singleauskopplungen aus "People Hear What They See" in die Top Ten der US-amerikanischen Billboardcharts eingestiegen, das Album hätte dreifach Platin eingesammelt und Oddisee wäre für die nächsten fünf Jahre der Mann der Hip Hop-Stunde gewesen. Im Jahr 2012 reicht es immerhin für viel, viel Kritikerlob und einen brodelnden Untergrund, der vom Mainstream Hip Hop mit seinen Bitchez, Niggarz und Dollarz die Nase mindestens so voll hat wie unsereins. Alleine das Cover von Oddisees quasi-Debut verspricht eine Hochdosis Conscious Rap, einerseits introspektiv und reflektiert, ohne die sonst genretypische Exaltiertheit, und trotzdem ist die Leidenschaft in jedem Rap, in jedem Beat und jedem Sample zu spüren. "This album is about influence, inspiration, perception & reality." sagt der Multiinstrumentalist, Produzent und MC aus Washington, womit er auch dank seiner Motown-, Soul- und Funksamples mit "People Hear What They See" einem Poeten wie Gil-Scott Heron viel näher steht als praktisch alles, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren an der Hip Hop Geschichte mitgebastelt hat. Langjährige Leser von 3,40qm erinnern sich vielleicht noch an Replifes "The Unclosed Mind" Album aus dem Jahr 2008, das ich als "wohltuend klischeefreien HipHop" adelte, und mir fiele für Oddisee ziemlich genau dasselbe ein, auch wenn seine Musik eine Spur spritziger und sonniger ist.

Ich würde grundsätzlich viel mehr Hip Hop hören, wenn er öfter so erfrischend, kreativ und positiv aufgeladen ist, wie "People Hear What They See". Und es wäre mal wieder an der Zeit, dass wir Klassiker entstehen lassen. Ich hätte kein Problem, hier und heute damit zu beginnen.

Erschienen auf Mello Music Group, 2012.