16.01.2009

Platz 13




Flying Lotus - Los Angeles

Möglicherweise wird die Obskurität von Musik ein gutes Stück neutralisiert, wenn sie eine Saison als der heiße Scheiß gilt, und wenn die Entdeckung desselben nicht mehr nur hinsichtlich des Obskuritätengrades mindestens ebenbürtigen Giganerds vorbehalten bleibt. Steve Ellisons Flying Lotus fliegt nicht nur auf WARP, er flatterte im Jahr 2008 geradewegs in die offenen Arme einer gierigen Szene (Vorschläge um welche Szene es sich tatsächlich handelte bitte an die bekannte Adresse), die vermutlich immer noch nicht mal den blassen Hauch eines Schimmers hätte, was hier wirklich passiert, wenn das nicht alles im großen Jubelgeschrei glattpoliert worden wäre.

Wer genau hinhört, wird nach kurzer Zeit tatsächlich nicht mehr so genau wissen, wo ihm der Kopf steht. Zwar gelingt es hier und da einzelne Inspirationen heraus zu ziehen. Aber selbst das ist höllisch schwer: "Los Angeles" ist eine gigantische Brutstätte von Sounds, Layern, Beeps, Rauschen, Melodien und Stimmungen. Wer die dechiffrieren will, kommt an Schubladen wie Soul, Hip Hop, Jazz, Pop, elektronischem Gefummel und gar Punk nicht vorbei, aber wie das wilde Gschwerrl zusammengesetzt wurde, bleibt das Geheimnis dieser rätselhaften Platte. Ein schleifender Schleier legt sich über jede Sekunde von "Los Angeles", es wird schwül und lazy. Rauchig. Sexy. Die Beats verschwinden hinter einer diesigen Wolke. Schon wahrnehmbar, aber sie funktionieren auf einer völlig anderen Ebene als bei anderer Clubmusik. Sie drücken, ziehen und bremsen gleichzeitig, sie sind wichtig und im selben Moment völlig irrelevant.

Die Faszination, die von diesem zu gleichen Teilen futuristischen wie hippieartigen '68er Psychosound ausgeht ist nachwievor ungebrochen. So landet "Los Angeles" immer wieder und in regelmäßigen Abständen auf dem Plattenteller. Immer auf der Suche nach einem weiteren Haken, einem weiteren Trip, einer weiteren Idee, eines neuen Sounds...nach einem neuen Blick.

14.01.2009

Platz 14




By Any Means - Live At Crescendo

Bass William Parker. Schlagzeug Rashied Ali. Saxofon Charles Gayle. "We are By Any Means."

Was im Juni 2006 mit einer Aufnahme in New York begann und nicht vollendet wurde, kommt mit "Live At Crescendo" und einem umjubelten Auftritt in Schweden nun doch zu einem vorläufigen Abschluss. Charles Gayle bat nach dem Durchhören der New Yorker Aufnahme darum, sie nicht zu veröffentlichen: er spürte, dass seine Soloparts nicht die gewünschte Struktur aufwiesen. Sein Anspruch war damit nicht erfüllt. Ein gutes Jahr später stiegen die drei Musiker erneut gemeinsam auf die Bühne, diesmal im schwedischen Crescendo-Club. Das Ergebnis ist die möglicherweise undurchdringlichste Platte des Jahres. Und Charles Gayle scheint zufrieden.

Ich werde vielleicht erst in ein paar Jahren wirklich erfassen können, was mich in diesen gut einhundert Minuten Jazz förmlich überrollt. Gerät der Einstieg mit "Zero Blues" und "Hearts Joy" noch etwas hölzern, haben sich Parker, Gayle und Ali spätestens im fantastischen "We Three" gefunden. Das Brodeln beginnt. Schwere Geschütze. Blues. Roots. Schmerz, Euphorie, Leid. Jeder spannt die Fäden zum nächsten, lässt sie unterwegs ins Leere laufen und vom anderen wieder aufnehmen. Diese Verstrickungen machen wahnsinnig: was spielt Rashied Ali da eigentlich GENAU? Lenkt man die eigene Aufmerksamkeit ausschließlich auf ihn, stellt man zwei Dinge fest. Erstens: er kann unmöglich alleine erfasst werden; Parker und er scheinen das Hase und Igel-Spiel zu spielen. Zweitens: sein Drum-Dickicht ist die schleierhafteste Nebelsuppe seit Langem. Er dröhnt, reißt Töne der anderen Musiker auseinander und platziert sich selbst in einer scheinbar willkürlichen Zeit, an einem scheinbar willkürlichen Ort. Ali strickt sich ein ganzes Universum an Hauptquartieren, unterirdischen Kommunikationsleitungen, überirdischen Stromkabeln (Strom!) und Zentren außerkörperlicher Erfahrung.

Darüber improvisieren Parker und Gayle, letztgenannter mit zerfetztem Ton und erstaunlicher Wendigkeit. Er klingt chaotisch, wild, suchend, manchmal gar verzweifelt. Parker hingegen lebt die Offenheit in seinem Spiel. Er errichtet in seinen weitläufigen Soli die Infrastruktur zu Rashied Alis Nervenzentren.

"Live At Crescendo" ist damit zweifellos ein schwerer Brocken. Die Glücksgefühle, die bei der Arbeit mit Hammer und Meißel zu erfahren sind, entschädigen für die Mühe. Es lohnt sich.

12.01.2009

Platz 15




Nik Bärtsch's Ronin - Holon

"Ekstatischer Groove und asketisches Form- und Klangbewusstsein schließen sich nicht aus, sondern können Kombinationen eingehen, die unsere Wahrnehmung überraschen."(Nik Bärtsch)

Die Module entfalten sich nur langsam. In sich ruhend, mit einer minimalen Spannung, einer kaum wahrnehmbaren Vibration, steuern sie einem unbekannten Klimax entgegen. Niemand weiß, wie ihr Ziel aussieht, oder wann sie es erreichen werden. Die Musiker selbst vermutlich am Allerwenigsten, sie sind zu jeder Sekunde in der Jetztzeit. Im steten Fluss türmen sie Impuls auf Impuls, zaghaft zunächst, aber selbst dann ungeheuer zielstrebig. Die Entladung in den Groove gerät immer derart perfekt, als sei die Band mit verborgenen Nervenbahnen miteinander verbunden. Ein in sich verschmolzenes Kollektiv, das mit einer Stimme spricht.

"Holon" ist ein Groovelabyrinth. Eine dunkle Klang- und Bewegungslandschaft, in der Anlage unglaublich diszipliniert, im offenen Raum pulsierend und lebendig. Was für ein Gegensatz! Dennoch: wo das letzte Studioalbum "Stoa" ob seiner Einzigartigkeit und Intensität noch einer kleinen Sensation glich, hat es der Nachfolger ungleich schwerer: der Überraschungseffekt ist passé, "Holon" verlangt nach einer tieferen Auseinandersetzung. Die Weiterentwicklung der Band zu einem etwas lebhafteren Auftreten, das angesichts einiger Passagen Vergleiche mit progressivem Mathrock oder gar King Crimson zulässt, mag sich in den ersten Durchgängen noch nicht offenbaren. Gibt man "Holon" indes die Chance, seine Mystik und seine Kraft auf den direkten Moment zu spiegeln, dann erwacht dieser Postjazz aus seinen selbst erbauten Zweifeln, er wird Teil eines Ganzen und die Ganzheit aus Teilen.

09.01.2009

Platz 16




Sawako - Bitter Sweet

Die beinahe schon obligatorische 12k-Ambient-Platte des Jahres kommt von Sawako, einer in New York lebenden japanischen Soundkünstlerin. "Bitter Sweet" rutschte praktisch auf den letzten Drücker auf diese Seiten, nachdem mir der bekannte, butterweiche 12k-Labelsound zunächst etwas zu arg in den Vordergrund gestellt erschien. Das ist eben die Kehrseite der Medaille: einerseits ist nahezu alles auf Taylor Deuprees Label mindestens gutklassig, ein Überraschungseffekt bleibt andererseits mittlerweile weitgehend aus.

Wie bewertet man also ein Album, von dem man eigentlich schon im Vorfeld weiß, wie es klingen wird? Verträumt, melancholisch, ätherisch, schwebend, wie feines Licht? Wie bestellt! Wie Licht, das die Blätter eines großen Baumes fein umspielt? An einem sanft dahinwabernden Sommertag? Alles da! Bevorzugte Farbe: hellgelb, zart bräunlich, durchzogen von sattem grün? Einwandfrei! Man hätte es ahnen können. Aber Oberflächlichkeit bringt am Ende ja auch niemanden weiter...

Gehen wir also in die Tiefe. Denn auch, wenn alle obigen Beschreibungen völlig zutreffen: "Bitter Sweet" ist viel mehr. Sawakos viertes Album ist, wie sag' ich's, an art of living. Wer sich darauf einlässt, wird mit den großen Geschichten seines eigenen Lebens belohnt, erfährt über die Bedeutung von Glück und Schönheit. Fuckin' dramatic? Absolut, aber denk' da mal drüber nach, während "Looped Labyrinth, Decayed Voice" in der 24-Stunden-Endlosschleife nicht aufhören will, dir aus tiefstem Herzen zu vermitteln, dass alles DEIN ist.

08.01.2009

Platz 17




Claro Intelecto - Metanarrative

Beobachtertechno. Darjeelingtechno. Herbsttechno. Und dabei so wunderbar kurzweilig. In vierzig Minuten sagt Mark Stewart aka Claro Intelecto alles, was es zum Thema Clubmusik und Melancholie im Jahre 2008 zu sagen gibt. "Metanarrative" ist Musik für Eisblumen am Fenster, für gebrochene Äste an nackten Bäumen, für Nebel über weiten Landstrichen, für die ersten Sonnenstrahlen an einem kalten Morgen, während eine dicke Wolldecke mit uns kuschelt. Zieht euch warm an, es ist kalt da draußen. Oder lasst es uns einfach nur anschauen, from a distance.


Suche einen Fokus. Blinzle nicht. Steig aus.

Bevor die wärmenden Synthieflächen, die sich mit tiefem Grollen paaren und bei aller Geradlinigkeit in der Wirkung sehr reich und komplex wirken, zuviel Nähe versprechen, ändert "Gone To The Dogs" für die zweite Albumhälfte die Richtung in etwas unterkühltere Gefilde, ohne jedoch die bittersüße Stimmung zu verlieren. Was anfangs unerklärlich scheint, wird durch Hypnose, Bass und Deepness aufgelöst. Es muss der Sound sein, dieses mit massig Hall verzierte, treibende Soundgestrüpp, das sich so eisklar und rein präsentiert und trotzdem so versöhnlich und umarmend ist. Es fühlt sich gut an.

07.01.2009

Platz 18



Philip Jeck - Sand



Wer erinnert sich noch an die stundenlangen Dauerwerbesendungen, die Anfang der neunziger Jahre im deutschen Privatfernsehen zu allerlei Amüsemang beitrugen? Die ursprünglich amerikanischen Verkaufs- und Anpreisshows, die dann von (vermutlich) Verhaltensgestörten im Elektroschockrausch synchronisiert wurden, sodass künftig auch die deutsche Hausfrau ein praktisches Häkelset, irrsinnige Gemüseschnitzelmaschinen und Wischmopps kaufen konnte?! Ein damaliger Verkaufsrenner war ein Putzmittel namens Quick'n'Brite. Zur Demonstration der Fähigkeiten dieser Weißmach-Pampe stellte der Marktschreier ein mit Wasser gefülltes Glasbecken auf einen Tisch und schüttete allerhand Mist hinein: Tinte, Rotwein, Jod, Schweineblut (gelogen), Hirnflüssigkeit (auch gelo...naja, wer weiß...), Schlamm, Kirschsaft und was sonst noch eher unvorteilhafte Flecken auf Textilien hinterließ. Alsdann nahm der Zampano in Hosenträgern eine Handvoll des Reinemachers und verteilte es in der mitunter sehr unappetitlich aussehenden, schwarz-rot-braunen Brühe und - Zack! - innerhalb von handgestoppten dreikommaviernull Sekunden erstrahlte der Schlammblutrotz-Tümpel in dem weißesten Weiß, das jemals von einer Hausfrau gesehen wurde. Ja, einige berichteten gar von Augenschäden ob des hellen Glanzes! Es war ein schieres Wunder, und der Amerikaner verkaufte es für sensationelle 39,95 deutsche Mark!

Die Musik des britischen Avantgardisten Philip Jeck ist der angemessene Soundtrack zu dieser Szene, und das meine ich gar nicht despektierlich. Seine Musik hat gewaltiges, klärendes Potential. Aufgenommen lediglich mit zwei alten Plattenspielern aus den sechziger Jahren, auf denen er seine obskuren Singles auf 33, 45, 75 und 16rpm abspielen kann, einem Keyboard, einem Mixer und, wenn er gerade Lust drauf hat, einem Gitarreneffektgerät, lässt er seine Kompositionen Stück für Stück, beinahe beiläufig, wachsen, mal grollend, mal schleichend und verhüllend. Kleine Tupfer von Melodien flitschen am Ohr vorbei wie ein Fisch unter der Eisdecke eines zugefrorenen Sees. Nicht selten folgt ein Ausbruch, ein Aufbäumen. Der Vorhang fällt im Augenblick des ungeahnten Moments: eine große, dramatische Melodie kehrt alles um. Wie zum Geier sind wir nun an diesen Ort gekommen?
Auf bereits bestehender Kunst entsteht Neues, ein stimmungsvolles Spiel mit knisternden Loops und flackernden Melodien, die nicht selten wie die musikalische Untermalung eines schwarzweißen Stummfilms klingen: vertraut knisternd, staubig und grobkörnig, dafür aber wunderbar tragisch. Auf einen Schlag ist das klar und pur, was eben noch surreal und verloren herumirrte. Dabei präsentiert sich Philip Jecks Musik durchgängig in stiller und bewusster Erhabenheit.


03.01.2009

Platz 19



Charles Lloyd Quartet - Rabe De Nube

Wenn das deutsche Feuilleton ein ECM-Album in den höchsten Tönen lobt und preist, dann habe ich üblicherweise keine besondere Lust mehr, ein Öhrchen zu riskieren. Die letzten Monate des Jahres zeigten jedoch, dass meine ECM-Ablehnung strenggenommen differenziert werden könnte, wo nicht müsste: "Rabo De Nube" des Charles Lloyd Quartetts ist ein über weite Strecken hochklassiges, zeitgenössisches Jazzalbum. Keine Spur von dem austauschbaren und gefälligen Piano-/Kammerjazz, der ansonsten aus der Münchner Labelecke dringt; stattdessen ist es dem erneut neu zusammengewürfelten Quartett um den mittlerweile siebzigährigen Saxofonisten Lloyd gelungen, eine mitreißende, aufgeladene Performance ein zu fangen.

Es ist dabei faszinierend zu beobachten, wie das Kollektiv die Fähigkeit besitzt, seinen musikalischen Weg zu formen, ihn dabei immer wieder neu zu erfinden, ihn vielleicht sogar hier und da zu verlieren und am Ende mit einem Anschlag des Pianos, des Bass' oder des Schlagzeugs wieder knietief in der Tradition, sozusagen an der Wurzel, ankommt. Maßgeblichen Anteil daran hat aus meiner Sicht der junge Pianist Jason Moran, der spätestens beim fantastischen "Bookers Garden" im Set angekommen ist und sich die Seele aus dem Leib swingt. Experten sehen in seinem Spiel eine Art spirituelle Verbindung zu Monk einerseits, was seine perkussiven Anschläge betrifft, sowie zu einem seiner Lehrer Andrew Hill andererseits. Von ihm habe Morgan erfahren, was es heißt, seinen Instinkten zu vertrauen, sich dabei aber immer wieder auf neue Umgebungen ein zu lassen. Welche Spielfreude! Welche Euphorie!

Aber auch die weiteren Mitstreiter Lloyds, die Rythmusfraktion bestehend aus Eric Harland am Schlagzeug und Reuben Rogers am Bass, tragen dazu bei, dass dieser Abend im April 2007 zu etwas Besonderem wurde, wie der Meister selbst erklärt. Nicht nur das Baseler Publikum, sondern auch seine Begleiter seien dazu bereit gewesen, die Reise ins Unbekannte mit ihm an zu treten. Der Spaß, den alle Beteiligten an dieser Mission hatten, ist deutlich zu hören.

30.12.2008

Platz 20



Replife - The Unclosed Mind

"The Unclosed Mind" zeichnete sich im Jahr 2008 dafür verantwortlich, dass ich damit begann, an meiner Angst vor HipHop zu arbeiten. Das alleine reicht im Grunde aus, in dieser Liste als eine der erinnerungswürdigsten Platten des Jahres auf zu tauchen.

Replife steht für intelligenten, erwachsenen HipHop. Das kann ich sogar dann sagen, wenn das Genre als Ganzes trotz des zwanzigjährigen, exzessiven Schubladenbrowsens noch ein weißer Fleck auf meiner Landkarte ist. Keine Spur beispielsweise von der unerträglichen Macho-Attitüde, die so vielen Alben und Musiker-/Marketingköpfen innewohnt. Düstere Klischeeatmosphäre, wie sie besonders dem neuen HipHop gerne verliehen wird, um ihn als innovativ zu feiern, wird man ebensowenig finden. Replife bedient sich einerseits - auch in Sachen Coverästehtik - beim Jazz und bei den Anfängen des HipHop und andererseits auch ein Stückweit bei den avantgardistischen Soundcollagen von Jay-Dee oder Daedelus, vermischt seine geraden, manchmal leicht hypnotischen Beats mit spirituellen Lyrics und einer großen Portion Deepness und hat es zu keiner Sekunde des Albums nötig, die Muskeln spielen zu lassen.

Selbst wenn "The Unclosed Mind" keine hypernervöse Gezuppel-Schaltzentrale ist, sondern es im Gegenteil mehrheitlich smooth und zielstrebig vor sich hin souljazzrappt, hat es dennoch genug Ecken und Kanten, um nicht in dem großen Topf mit jener Musik zu landen, die selbst Familie Fliewatüt wie ayurvedisches Heilöl durch die Ohren flutscht. Tracks wie das etwas hektische "Emerald City" oder der quasi-Opener "Spirit (Dilla Shines Through)", das seinen Titel sicher nicht aus Jux erhalten hat, sind spannende Beispiele für musikalischen und vor allem wohltuend klischeefreien HipHop.

23.12.2008

Zweitausendacht in Musik

Long time no read, irgendwie. Lasst uns das mal schnell ändern...

Es wird Zeit, das vergangene Musikjahr Revue passieren zu lassen und wie schon  Zweitausendsieben werde ich es mir auch dieses Mal nicht nehmen lassen, die Kings der Kings gebührend zu feiern. Ja, zu feiern. Ausdrücklich.

Ich las kürzlich ein Interview mit dem Publizisten Roger Willemsen, der auf die Frage, warum er seine Arbeit nicht mehr als journalistisch empfände, und weshalb er seit einiger Zeit darüber hinaus sämtliche Zeitungsartikel absage antwortete, "weil Leidenschaftslosigkeit heute als Inbegriff der Professionalität gewertet wird." In so fern bin ich schrecklich unprofessionell.

Es war wohl der Alltag, der mich im beinahe abgelaufenen Jahr daran hinderte, mehr Leidenschaft als ebenjene zu entwickeln, die mir so oder so innewohnt, und ich frage mich immer wieder: ist das ausreichend? Muss da nicht mehr gehen? So wie, man traut sich ja fast nicht es aus zu sprechen, f...früher?

Wenn ich mir die zwanzig Alben so anschaue, die hier in den nächsten Wochen vorgestellt werden, sehe ich indes keinen Grund, die Stirn in Falten zu legen. Ganz im Gegenteil: Zweitausendacht war das beste Jahr seit Zweitausendsieben und es wäre ein Leichtes, hier gar dreißig oder mehr Werke auf zu listen. Sie alle hätten es verdient gehabt, erwähnt zu werden. Bei meiner gegenwärtigen Schreibfrequenz stehen wir damit dann 
aber noch im Mai Zweitausendzehn gerade mal bei Rang Sieben.

Kurz gesagt: solange es noch der Fall ist, dass die fortwährende Suche nach neuer Musik so spannend und erhellend bleibt, ist alles mehr als nur gut. 

Ich wünsche jetzt schon viel Spaß beim Lesen und Entdecken und außerdem selbstverständlich: schöne Weihnachten und erholsame Tage!

23.11.2008

Zeitenwende



Dass das fünfte Album Donald Byrds als Bandleader bis heute als eine seiner besten Arbeiten gilt, verdankt "Free Form" drei fundamentalen Aspekten. Erstens: hier arbeitete das ehemalige Mitglied von Art Blakeys The Jazz Messengers mit dem damals noch jungen Herbie Hancock zusammen, und war damit einer der ersten etablierten Musiker, der den Pianisten in sein Line-Up integrierte. Zweitens: aus dem "Free Form"-Zusammentreffen des in früheren Jahren ebenfalls den Jazz Messengers zugehörigen Saxofonisten Wayne Shorter mit ebenjenem Hancock, entwickelte sich später nicht nur eine dicke Freundschaft zwischen den beiden Musikern, sondern Mitte/Ende der sechziger Jahre die gemeinsame Mitgliedschaft in der allenthalben als beste Inkarnation der Miles Davis Band bezeichneten Truppe um den Startrompeter. Und drittens: der Titeltrack.

Dabei ist "Free Form" aus meiner Sicht musikalisch und als Album gesehen im Grunde lediglich Blue Note Standardprogramm. Byrd begann sich ganz leicht in Richtung des zu jener Zeit langsam in Schwung kommenden modalen Jazz zu entwickeln, war aber über weite Strecken noch tief im Hard Bop verwurzelt. Nach dem gospel-beeinflussten Opener "Pentecostal Feelin'", das insbesondere durch das swingende Drumming von Billy Higgins seinen Charme erhält, und wie eine Coverversion eines Lee Morgan-Hits erscheint, der guten Hancock-Ballade "Night Flower" und dem nicht besonders beeindruckenden "Nai Nai", setzt "Free Form" mit "French Spice" ein erstes ernsthaftes Ausrufezeichen. Das Stück, von Byrd ursprünglich für eine Gruppe Revuetänzerinnen aus Chigaco geschrieben, nimmt nach dem einleitenden Thema speziell durch Shorters lyrisches Solospiel an Fahrt auf und bleibt über die gesamte Länge von acht Minuten fesselnd und sehr variantenreich. "French Spice" ist somit der Anheizer für den Höhepunkt der Platte: "Free Form" ist untrügliches Zeichen für Byrds Experimentierwillen, für seinen ständig fließenenden "Train Of Thoughts"-Gedanken. Hancock wird folgendermaßen zitiert:"His (Byrds) mind is too quick and his curiosity too active for him to get caught in any single groove.". Schon der Einstieg mit einem Basslauf von Butch Warren, den eine Alternativeband wie Tool 35 Jahre später auf einem ihrer Alben hätte verwenden können, lässt die Synapsen seilspringen. "Free Form" ist indes kein Free Jazz; es klingt verschoben, aus den Angeln gehoben, windschief. Die Erklärung dafür liefert der Trompeter selbst:"The tune has no relation to the tempo. I mean that nobody played in the tempo Billy maintains, and we didn't even use it to bring in the melody. Billys (Higgins) work is just there as a percussive factor, but it's not present as a mark of the time. There is no time in the usual sense, so far as the soloists are concerned." Was eine echte Herausforderung für die Musiker darstellt, schenkt dem Hörer zehn Minuten an großartiger, intensiver und freier Jazzimprovisation.

"Free Form" von Donald Byrd ist im Jahre 1961 auf Blue Note Records erschienen.




15.11.2008

Die Mitte Bin Ich




Wenn sich das Wohnzimmerlicht von alleine dimmt, die gehäkelte Tischdecke von Mutti die Duftkerze anschwitzt, und der Hund im Steppdeckenbademantel gigolohaft am Cuba Libre nagt, dann spricht der Musiklaberer von gestern morgen vom Begriff des "Autorentechno". Nicht ganz so lieb gemeint darf man es auch "Wohnzimmertralalala" nennen, oder Couchfunk (sprich: Kautschfank). Auf einem fernen Planeten Erde läuft dann Trentemöllers Schnarchsack "The Last Resort" auf Junge Union-Arschmassagenparties im Hintergrund, und "Nina, 22" überlegt angestrengt, wie man mit "22"(Spiegel) schon derart infernalisch "vernagelt" (G.Polt) sein kann.

James Holdens Soundtrack zur Party der Vollochsen setzt sich in die Beobachterposition clever in die hinterste Reihe, denn da hat er praktisch Narrenfreiheit und muss seine Hände auch nicht auf die Bettdecke legen. Da kann er mit Melodien spielen, mit Noise, mit Ambient, mit einem gefühlten Spritzer Kautschfunk, und er bleibt gleichzeitig Freak.

Wenn hier weder der Club, noch die heimische Toilette gefragt wird, sich der Flaschenhals gleich mehrfach windet, und ich nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann, ob ich den hier frisierten Technopops insgesamt eher so geil oder vielleicht doch eher so CDU finde, dann rotiert's im Gebälk. Ehrlich, das hat schon alles die Ästhetik von nutellaverschmierten Effektreglern, von Earl Grey-Zahnbelag und Pipi im Bademantel. Allein letzteres wäre Grund genug, die Platte in Frischkäse zu tauchen und herzhaft zu zu beißen; der hüpfende Strich ist indes: Holden will mit dem Kram niemandem gefallen, dem Nutella im Bademantel gefällt. Der macht das nicht, um den Adam Green-Spacken den Ohrensessel zu lackieren. Und das Schöne ist: man hört's auch noch! Ich kann es zugegebenermaßen nicht zu oft hören, weil die Idiotenrallye genauso herausfordernd/anstrengend wie einlullend/nussplibratzig ist, und das ewige Hin- und Hergereiße macht mich total wuschig.

Insgesamt Musik zum Headbangen und Biertrinken!


"The Idiots Are Winning" ist im Jahre 2006 auf Border Community Records erschienen.


...und hat außerdem ein total schönes Coverartwork von Gregory Dourde.


09.11.2008

Haunted By Time, My Enemy



ENCHANT - BREAK


Ich habe neulich übrigens alle meine Dream Theater-Platten verkauft. Okay, alle bis auf die ersten drei Scheiben. Nicht, dass ich auf die Idee käme, sie mir künftig nochmal an zu hören, aber irgendwie halten mich die Erinnerungen an diese Musik und an die Zeit, in der sie entstanden ist doch fester im Griff, als ich es mir selbst eingestehen möchte.

Seltsam, dass mich meine seit locker 8 Jahren eigentlich ad acta gelegte Progressive Rock-Phase jeden Herbst auf's Neue einholt, und ich mich durch diese Mittneunziger-Neo-Prog-Soße aus dem Hause Inside Out hören muss. Dieses Jahr hat es mich mich mit den US-Amerikanern von Enchant gepackt; ihr viertes Album "Break" ließ mich schon bei dessen Erstveröffentlichung 1998 durchaus geplättet zurück. In den folgenden Jahren verlor ich die Band aber völlig aus den Augen, und ich konnte mich nur noch an diesen überirdischen Song "My Enemy" erinnern, der vor zehn Jahren fester Bestandteil eines jeden Mixtapes für das Auto war.

Durch einen Zufall hörte ich vor wenigen Wochen wieder einige Songs aus der Platte und ich war umgehend wieder angefixt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Tatsächlich: nach neuerlicher intensiver Beschäftigung mit "Break" bleibt mir nichts anderes übrig, als das große "Weltklasse!"-Schild heraus zu holen. Zumindest, wenn wir über die erste Albumhälfte sprechen, auch wenn die zweite Hälfte nur Nuancen schwächer ist. Ich weiß allerdings auch heute noch nicht genau, was es ist, was ausgerechnet diese Platte so besonders macht. Ist es die gemütliche Wärme, die wohlige Melancholie, der Spalt zwischen sehr harmonischen Momenten einerseits und härteren, manchmal gar alternative-rockigen Gitarrenriffs andererseits, die stimmungsvolle und ruhige Produktion, der strahlende und überaus angenehme Gesang von Ted Leonard, der erfreulicherweise ohne das sonst typische Prog-Quieken auskommt, oder sind es die großartigen, melodisch vielschichtigen Kompositionen, die mit großer Leichtigkeit auf den Boden gebracht wurden?

Alles und nichts von alledem. Enchant kommen schlicht ohne schmockige Mucker-Eiterpickel aus und konzentrieren sich stattdessen auf weitgehend kitsch- und klischeefreie, dafür überraschend tiefsinnige Rockmusik, die weder eine aufgeblasene Muskelschau, noch einen übertriebenen Anspruch benötigt. Eine ganz, ganz feine Platte mit überragenden Songs.





Erschienen auf Inside Out Records, 1998.


18.10.2008

Holidays In Eden

Ich sperre den Laden für die nächsten zwei Wochen mal schön zu und verabschiede mich in den wohlverdienten Urlaub. 

Damit es euch nicht ganz so fad wird, guckt ihr euch bitte in den kommenden Tagen dieses wunderbare Video an und feiert den dazugehörigen Song ebenso enthusiastisch ab wie meine Wenigkeit.  Danke im Voraus und bis bald!