26.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: The Sea And Cake - Any Day




THE SEA AND CAKE - ANY DAY


In den letzten zehn Jahren erschienen gerade mal zwei Alben von The Sea And Cake, und wer sich nicht erst seit gestern auf diesem Blog herumtreibt oder mich gar, Himmel hilf!, persönlich kennt, ahnt, dass frei nach Vicco von Bülow eine Bestenliste ohne The Sea And Cake zwar möglich, aber komplett sinnlos gewesen wäre. Seit 15 Jahre trage ich meine Liebe zu diesem Quartett auf, neben, unter, vor und hinter dem Herzen spazieren und es gibt nur wenige Bands, die mich mit links zu einem furiosen, mit leuchtenden Augen und bebender Stimme vorgetragenen Monolog über Schönheit, Raffinesse, Subtilität, Virtuosität von Musik schubsen können. 

Vielleicht erfuhr meine Wertschätzung mit "Any Day" einen neuen Höhepunkt, denn das ist das Schöne am Älterwerden: man lernt Außergewöhnliches eben doch noch mehr zu schätzen, als wenn Testosteron, Samenstau und generelle juvenile Quadratblödheit im Weg stehen. Fünf Jahre nach dem ebenfalls hervorragenden "Runner" haben sich die dreieinhalb stillen Helden tatsächlich nochmal aufgerafft und ihren unnachahmlichen Sound weiter verfeinern können. Jede noch so diffizile Akzentuierung gelingt mühelos, jedes Break wird sicher und souverän durch alle Stromschnellen hindurch geführt, jede Melodie als Kokon sorgfältig verschnürt und mit großer Selbstverständlichkeit und einem Klaps auf den Hintern in die Freiheit geschickt. Wer ihnen genau auf die Finger und auf die funkelnden Hochenergiesynapsen in den vernetzt arbeitenden Gehirnen und Herzen schaut, wird im Verlauf von "Any Day" kaum ohne spitze Freudenschreie auskommen. 

Nie war dieses Urteil wertvoller und wahrer als heute: Was für ein Erlebnis, diesen absoluten Könnern zuzuhören. Ich lebe für solche Momente. 

The Sea And Cake ist Leben. 




Erschienen auf Thrill Jockey, 2018. 


11.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Justin Timberlake - The 20/20 Experience




JUSTIN TIMBERLAKE - THE 20/20 EXPERIENCE


"Unter strengen Maßstäben" (Schäuble) müsste hier eigentlich nur die Videoverlinkung zu Timberlakes Auftritt in der US-amerikanischen Talkshow "Ellen" zu sehen sein, ohne jeden weiteren Kommentar. Um nicht zu sagen: kommentarlos. Nicht nur, dass er das nicht gerade leicht zu singende "Mirrors" bis auf die letzte Nuance perfekt auf die Bühne bringt und der Song ohnehin einer der Höhepunkte auf dem ersten Teil seines "The 20/20 Experience"-Projekts ist - die Performance mit seiner Begleitband The Tennessee Kids ist so atemberaubend groß und mit positiven Power-Vibes geflutet, dass es mir einen Adrenalinschub nach dem anderen durch die müde Hülle meines irgendwie noch immer eher weltlichen Daseins peitscht. Noch dazu, und auch das muss gesagt werden, löst der smarte Timberlake einen leichten Man-Crush bei mir aus. Wie es ein ehemaliger Arbeitskollege einmal ausdrückte:"Flo, im nächsten Leben bin ich eine Frau und habe Fixgehalt." Count me the fuck in! 

Auch über "Mirrors" hinaus ist Teil 1 der "20/20 Experience" immer noch von herausragender Qualität. Ich bleibe zwar bei meiner früheren und außerdem hier geäußerten Einschätzung, das Album komme mit dem ungewöhnlichen Eröffnungsdoppel "Pusher Love Girl" (alleine die Chuzpe, mit diesem achtminütigen Slomo-Feger zwischen klassischen Streicherarrangements, Ketamin-RnB und Future Beats den Startschuss zu geben) und der ersten Single "Suit & Tie" noch etwas schwer in die Gänge, aber dann Jeschäftsfreunde! Aaaaber dann!

Ab "Don't Hold The Wall" brechen alle Dämme. Timberland und Timbaland schütteln federleichte und gleichzeitig mit ordentlich Gravitas verzierte Sieben- bis Achtminüter aus dem Pophimmel, mit all den pompösen Albernheiten und funky Arschgewackel und auf die Knie zwingendes Pathos und Schmetterlinge im Bauch und Marriannengraben-Tiefe mit dreifach-doppelten Böden und gefühlsechtem Blümchensex und JALECKENSIEMICHDOCHAMARSCH: so geil war's seit "Thriller" oder "Lovesexy" nicht mehr. Alles am Ende gekrönt von der ungewöhnlich subtil arrangierten Megaballade "Blue Ocean Floor", die mit all dem unwürdigen Rest aus der Kotzekiste eines schmierigen Pop-Produzenten und dessen fürs ewig krähende Formatradio gezüchteten Gesangsdarstellern den fucking Boden aufwischt. 

"The 20/20 Experience I" ist das beste, anspruchsvollste und ausgefeilteste Album Timberlakes. Und ich will jetzt kein peinliches Geflenne wegen N'Sync und Teenie und Dauerwelle hören. 

Grow a pair. 




Erschienen auf RCA, 2013. 

06.06.2020

2010 - 2019: Das Beste Des Jahrzehnts: Marillion - FEAR



MARILLION - FEAR

Ich spreche zwar oft davon, aber ich konnte mich bislang noch nicht dazu durchringen, die besten Platten der 90er Jahre auf die virtuelle Schiefertafel zu hämmern (wegen Phlegma, Apathie, Sauerteigbrot, Ficken - Zutreffendes bitte durchstreichen). Wenn ich es allerdings täterätääääte, dann wäre "Afraid Of Sunlight", das 1995er Album dieser britischen Progressive Rock-Institution, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels in der Auswahl enthalten - womit sich der dreikommaviernull Dekaden umspannende Blogkreis schließen würde: Marillion wären damit die einzige Band meines musikalischen Universums, die in jedem Jahrzehnt ihrer Platten veröffentlichenden Existenz ein Dauerparker auf dem Treppchen ist. Für die 1980er Jahre bleibt das Debut "Script For A Jester's Tear" ungeschlagener Weltmeister in der Disziplin "Genesis 2.0", für die nuller Jahre ist "Marbles" aus dem Jahr 2004 Klassenbester und im just beendeten Jahrzehnt ist es, logo: "FEAR (Fuck Everyone And Run)" - ein Album, das sicher aufgrund seiner Message als auch wegen seiner bewegenden 75 Minuten Musik zu einem - und man muss das so sagen - Überraschungserfolg wurde. Wer sich die beinahe verschwundene öffentliche Anerkennung und Wahrnehmung dieser Band über die letzten dreißig Jahre hinweg vor Augen und Ohren hält, mit all der Ablehnung, der Ignoranz und Frustration, der darf sich angesichts von einer plötzlich erzielten Top 5-Chartplatzierungen für "FEAR" und einer in diesem Zuge ausverkauften Royal Albert Hall durchaus verwundert Augen und Kleinhirn reiben. Vielleicht muss man für eine Erklärung dieses Phänomens ganz tief in die Klischeeschublade abtauchen und das alte Palaver von "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" abspulen. An sich glauben. Durchhalten. Das eigene Ding machen. 

Und sich ab und an mal so ganz dolle am Riemen reißen, über sich hinauswachsen, ein extradickes Inspirationsbrett bohren und Texte schreiben, die einen zum hemmungslosen Heulen bringen.           

So gehört es sich eben auch für die beste Band der Welt. 

"Je öfter ich das sage, desto richtiger wird's." (Harald Schmidt). 


Wer noch mehr Lobhudelei benötigt und außerdem einen der längsten Texte seit Bestehen dieses Blogs lesen möchte, der schaut HIER vorbei. 

Da es aufgrund der (digitalen) Aufteilung von "FEAR" schwierig ist, einen der drei Longtracks ohne Unterbrechungen auf Youtube zu finden, habe ich mich für den zwanzigminütigen Abriss von "The Leavers" vom Livealbum "All One Tonight" entschieden - wer dazu nochmal etwas nachlesen mag, geht HIER entlang.




Erschienen auf EarMusic, 2016.