"Das Leben ohne Liebe ist nicht so einfach, wie Du glaubst." (Sven Regener)
Im vergangenen Juni starb unser Hund Fabbi. Er war unser erster Hund und war seit August 2009 in unserer Mitte, gerettet aus einem spanischen Tötungslager und mit einem Mercedes-Transporter in einem über 20 Stunden dauernden Ritt auf eine Waldlichtung bei Würzburg gebracht. Fabbi wurde 19 Jahre alt.
Die acht Monate vor seinem Tod waren... - ich habe jetzt ein paar Minuten über das passende Wort nachgedacht, aber ich finde keines. Fabbi wurde im Oktober 2022 krank, und was zunächst nach einer nicht unbedingt ungewöhnlichen, wenn auch unschönen Magen/Darm-Episode aussah, entwickelte sich über einige Wochen zu einem Dauerzustand. Er hörte nichts mehr, er fraß nur noch unregelmäßig, die Demenz verschlimmerte sich zusehends, sein rechtes Hinterbein knickte nach innen weg, weil der Rücken, so oder so geschwächt von einem Bandscheibenvorfall aus dem Jahr 2019, offenbar nicht mehr genug Kraft hatte, ihn hinten gerade zu halten. Alina und ich taten in dieser Zeit alles, um sein Leben so leicht und unbeschwert wie nur irgend möglich zu machen - die Frage, ob es für ihn das leichte und unbeschwerte Leben denn unter diesen Umständen überhaupt noch geben kann, war sowohl ständiger Begleiter wie auch eine ständige Erinnerung an das Ende. Und an die Entscheidung über Leben und Tod, die wir irgendwann treffen mussten. Er würde es uns nicht ersparen können, das war klar. Die Wahrheit aber ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen.
Wir schliefen über diese acht Monate keine einzige Nacht durch. Wir beruhigten ihn, wenn er nachts wie ein Getriebener durch das Schlafzimmer irrte, wir schliefen mit ihm auf dem Boden, vor seinem Bettchen, streichelten ihn, nahmen ihn in unsere Arme, beschützten ihn, küssten seinen Kopf. Traten um 3 Uhr nachts mit ihm auf die leeren Straßen Sossenheims, damit er nochmal pissen oder kacken konnte. Ich lief manchmal eine ganze Abendrunde um den Block zu ihm heruntergebeugt, damit er hinten nicht wegknicken und damit besser laufen konnte. Verbrachte Stunden mit ihm vor seinem gefüllten Fressnapf, um ihn irgendwie zum Fressen zu bewegen. War zu Tode betrübt, wenn es mal wieder nicht klappte und dann wieder fast schmerzhaft unangemessen euphorisch, wenn er aus dem Nichts plötzlich damit anfing, sein Futter geradewegs zu inhalieren. Ich war am Boden zerstört, wenn er seinen sonst so geliebten Plüschknochen nur mit leerem Blick hinterherschaute und weinte vor Freude, wenn er ihm mal drei Meter hinterhersprang und dann versuchte, ihn mir zurückzubringen. Dann war es für wenige Minuten so wie früher. Dann erkannte ich unseren Fabbi wieder. Vielleicht erkannte er sich in jenen Momenten auch selbst wieder, erinnerte sich an das Herumtollen, die Belohnungen, sein geliebtes Nasch-Nasch, die Streicheleinheiten. Aber die Momente wurden seltener. Und dann noch seltener. Und am Ende, da gab es sie schlicht nicht mehr.
Ich weiß auch nicht, wie das gehen soll
Ich bin schon viel zu lang' allein
Mein Mut ist klein, mein Herz ist kalt
Doch mit dir zu sein ist wundervoll
Emotional und körperlich war ich im absoluten Ausnahmezustand. Und ich muss das so deutlich sagen: ich war ein ferngesteuertes, auseinanderfallendes Wrack. Und für Fabbi hielt ich das Wrack auf Kurs, um jeden fucking Preis. Denn die Wahrheit ist: ich konnte ihn nicht gehen lassen.
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Ab dem 22.Juni 2023 waren Alina und ich alleine in unserem Haus. Zum ersten Mal seit 1999 waren wir nur noch zu zweit. Unsere Katzen Kleini und Schnuffel mussten uns schon früher verlassen, Fabbi war der letzte vierbeinige Mitbewohner. Und wie sehr uns sein Sterben wirklich mitgenommen hatte, wie erloschen wir waren, das erkannten wir eigentlich erst so richtig in den kommenden Wochen und Monaten, als wir uns langsam wieder aufrappeln mussten und feststellten, dass das Loch, in dem wir saßen, sogar noch tiefer war als zunächst befürchtet.
Ende August musste ich als Businesskasper zu einem Termin in Hamburg reisen. Wir entschieden, dass wir die Gelegenheit nutzen und zwei Tage auf eigene Faust anhängen, um mal rauszukommen, um etwas anderes zu sehen, Luft reinzulassen, vielleicht zur Abwechslung auch mal wieder ein bisschen Licht. An einem leicht bewölkten, trüb-sonnigen Sonntagmittag setzten wir uns ins Auto und fuhren von Hamburg nach Timmendorfer Strand an die Ostsee. Fabbi liebte den Strand. Unvergessen sind die vielen Momente dieses komplett durchdrehenden Fellballs, wenn er am Meer war. Als Soundtrack für unsere Reise wählten wir "Morgens Um Vier" von Element Of Crime...
...und ich habe die gut 60 Minuten dauernde Fahrt praktisch durchgeheult.
Hier sei gesagt: Ich bin nicht unbedingt glühender Fan von Element Of Crime. Ich bin der Band grundlegend sehr zugeneigt, einige ihrer Songs hinterließen ihre Spuren in meinem Leben, andere laufen schnurstracks an mir vorbei, ohne eine Berührung zu verursachen. Wenn jedoch "Morgens Um Vier" seine Kreise zieht, steht mein Gefühlszentrum im Vollbrand. Es mag am berüchtigten Set und Setting des Erstkontakts gelegen haben, dass ich so entflammbar war, so empfänglich für diese in purer Schönheit, subtilem Humor, alternativlosem Optimismus und hedonistischer Kapitulation gebatikte Melancholie. Und es mag der wenigstens in dieser Causa noch halbwegs funktionierenden Erinnerung an diese Autofahrt zu verdanken sein, dass es mich auch an einem frühlingshaften Tag im März des Folgejahres noch immer beinahe zerreißt.
Die Magnolie wird blühn
Und der Rasen wird grün
Und der Flieder die Bienen verzaubern
Und die Vögel singen im Vogelbeerbaum ihre Lieder
Und dann kommst du wieder
Und gehst nie wieder fort
Von hier
In die unnachahmliche Mischung aus Indierock, Chansons, Pop und Jazz, meisterhaft inszeniert sowohl für eine kammermusikalische Aufführung wie für die Grandezza der Elbphilharmonie, mit einem nahezu perfekten Gespür für die eleganten und schwärmerischen Arrangements, setzt Sänger und Texter Sven Regener mit seiner typischen, leicht ruppigen Art seine Worte über die Liebe, das Altern, das Zweifeln, die Furcht, die Sehnsucht, das Erkalten...die Entzündungen des Lebens.
Im zaudernden, beinahe torkelnden "Wieder Sonntags" singt Regener:
Wer braucht alte Sofas, wenn du nicht draufsitzt
Wer braucht schöne Lieder, wenn du sie nicht singst
Ein Lächeln von dir war schon immer Gottes größtes Wunder
Und den Himmel versprach schon immer die Liebe, die du bringst
"As you get older, the questions come down to about two or three. How long? And what do I do with the time I've got left?" (David Bowie)
Es gibt Platten, die in derart glühender Schönheit strahlen, dass sie beinahe Schmerzen verursachen - und sei es aus Sehnsucht. Und es gibt Platten, die mein aus dem selbt gewählten Trommelfeuer aus Reizüberflutung, schwer zu stillender Neugier und einem Schuss Flucht und Prokrastination herangezüchtetes ADS wenigstens für kurze, flüchtige Momente narkotisieren können. Das Eintauchen in "Point Of Entry", dem sechsten Soloalbum des in Amsterdam lebenden Musikers Jonny Nash, verbindet diese beiden Zustände, und in seinen besten Momenten passieren sie simultan. In Einigkeit. Und sie sorgen damit für jene so großen wie seltenen Momente der Klarheit, die manches Mal zu echten Lebensrettern werden. Die zurückwerfen, neu justieren, reinigen.
Nash bezeichnet seine Musik als "Personal Folk Music". Sein Lieblingsinstrument ist die Gitarre, die er mal mit zärtlich-sprödem Picking durch eine abgelegene Dünenlandschaft navigiert, mal in übereinanderliegenden Schichten arrangiert und so mehrdimensionale Räume erschafft, die eine erstaunliche Tiefe entwickeln können. In einem der Höhepunkte des Albums "All I Ever Needed" verschrauben sich die Gitarrenfiguren miteinander und gegeneinander, levitieren und kreiseln so lange, bis das aus der Ferne herbeigerufene Feedback beschwichtigt und glättet. Dabei behält Nash die Einfachheit jederzeit im Zentrum seiner Musik, und das berühmte Zitat von Mark Hollis "Learn how to play one note." kommt mir nicht von ungefähr in den Sinn: Stimmung und Duktus von "Point Of Entry" lassen Erinnerungen sowohl an das Spätwerk Talk Talks als auch das legendär reduzierte Soloalbum Hollis' aus dem Jahr 1998 wach werden. Es ist die Weite, die Stille, das Aufziehen der Brennweite, die zu gleichen Teilen die tiefen Schichten vergrößert, wie sie das Verständnis für das umliegende Grenzgewebe in feiner Körnung vermittelt. Das teilt "Point Of Entry" mit jenen Werken, die den Mut zur totalen Reduktion aufbrachten und damit die Zeit gerinnen ließen.
Nashs genuschelter, gehauchter, manchmal wie gelallt wirkender Gesang in "Silver Sand" und "Eternal Life" erinnert darüber hinaus an einen, der in seinen Mitteln ähnlich radikal vorging, wenngleich die Ausgangslagen sicherlich unterschiedlicher nicht sein könnten: Lewis Baloue, der zunächst vergessene und später durch das Label Light In The Attic wiederentdeckte Troubadour, verewigte auf seinen beiden Alben "Lewis" und "Romantic Times" ähnlich brüchige Momente des Disengagements, die keine Loslösung, sondern im Gegenteil Zuwendung und Umarmung bewirken sollten. Das ist nicht immer elegant, aber die sich in der Konsequenz zeigende Verbindung zur Schwingung dieser Musik, zu ihren Bildern und ihrer vernebelten Elegie, braucht keine Kultiviertheit. Sie braucht das Leben, den Sand in den Augen, den Wind in den Haaren, das Angeknackste, das Verwitterte.
"Musik kann – vor allem, wenn sie ein bisschen spirituell ist – eine gute Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und dem, was noch kommt, sein. Weil sie ein starker Erinnerungsträger ist." (Dirk von Lowtzow)
"Landmark" ist das symbolreichste Ambientalbum des Jahres, eine Unterrichtsstunde in Storytelling, das Leben in der Breitwand, der Puls an der Goldader. Einerseits bis ans Ende der Welt mit spielerischer Kreativität aufgeladen, andererseits so streng auf Kurs, dass keine Millisekunde zufällig erscheint; jeder Kratzer, jedes Schnarren, jeder hingetupfte Herzschlag hat Bedeutung - selbst die, die aus Zeit und Raum fallen. Unbemerkt. Das ist vielleicht die Hürde, die es zu nehmen gilt: den Versuchungen zu widerstehen, hier nicht mit ungeteilter Aufmerksamkeit bei der Sache zu sein. "Landmark" fordert sie nämlich ein, die Vergegenwärtigung - und es kann recht ungnädig werden, wenn nebenher im, sagen wir: Nagelstudio das "Schwarzbuch Kapitalismus" studiert wird.
Das zweite Album des Kölner Produzenten für A Strangely Isolated Place ist, wie schon "Format" aus dem Jahr 2019, nicht mit einem Handstreich gehört und erfasst. "Format" empfand ich zunächst als experimentell-ruppig und zerrissen, es fiel mir schwer, eine Verbindung, einen Anker zu finden. Erst die weitere Auseinandersetzung glättete den verstrubbelten ersten Eindruck und öffnete schlussendlich die ehemals noch verschlossenen Türen. Max Würden macht keine Musik für Jederfrau und Jedermann, und ich weiß, dass mit solchen Sätzen vorsichtig umgegangen werden muss - als schwierig zu gelten, ist schwierig und im aktuellen Klima des watteweichen Schönklangs wird's damit nicht leichter. Wer sich indes auf seine Musik einlässt, wird reich belohnt.
Dabei macht "Landmark" es in meiner Wahrnehmung einfacher, schneller die richtigen Schlüssel für die richtigen Schlösser zu finden - und das gelingt in erster Linie über die sich durch den Klang ausbreitende Aura des Albums. Es leuchtet. In Gold. Und es taucht den Raum, den es bewohnt, in das Licht der Ewigkeit und der Unendlichkeit. Der erste Verbindungsaufbau geschieht damit ganz unmittelbar, weil sich die Frequenzen gegenseitig sofort für- und aufeinander ausrichten. "Landmark" entwickelt ab diesem Punkt eine außergewöhnliche Eleganz in der Beobachtung und Darstellung, weil es sich so geschmeidig zwischen den Perspektiven bewegt und es plötzlich keine Rolle mehr spielt, an welchem Punkt wir in seine Realität eintauchen.
Wir sehen, wir hören, wir fühlen. In Echtzeit. Das ist die Meisterklasse.
"You've got to kick at the darkness until it bleeds daylight" (Bruce Cockburn)
Zur besseren Einordnung reisen wir fix ins Jahr 2002 zurück, fucking hell: zweiundzwanzig Jahre! Florian öffnet die Metalrübe, holt tief Luft und taucht ins indierockige Kanada ein. "You Forgot It In People" des Kollektivs Broken Social Scene aus Toronto überrollt mich emotional und entzündet ein Freudenfeuer in meiner linken Herzkammer; ich bin hin und weg. Drei Jahre später erscheint der selbstbetitelte Nachfolger und löst den finalen Flächenbrand aus. Hier gehört Sänger und Gitarrist Jason Collett erstmals zum 17-köpfigen Ensemble. Das Konzert im Frankfurter Mousonturm ist ein verdrogter, psychedelischer Triumphzug, nach dessen Erleben ich mit ins Haar gedrehten Gänseblümchen auf die Straßen meiner Stadt stolpere. Einige Monate später, ich schreibe mittlerweile für das Hamburger Webzine Tinnitus erstmals öffentlich über Musik, kommt Post von Chefredakteur Haiko. Mit dabei im Promostapel: "Idols Of Exile" von Jason Collett. In meiner Rezension schreibe ich:
"Zwischen sprödem Folk und Americana, erfreulich beschwingtem Singer/Songwriter Einfluss und kanadischem Pop pendeln seine Lieder, die Autofahrten auf kerzengeraden Straßen durch die weite, unberührte Natur vertonen. Sonnenuntergang, glühend-roter Horizont. Ein versunkenes Lächeln auf dem Gesicht. Fast schwerelos gleiten "We All Lose One Another" oder "I'll Bring The Sun" durch unsere Körper. Was gäbe man dafür, diese Sternstunden mal im nationalen Dudelfunk zu hören? Zwischen all dem Plastik, all dem Müll, der uns immer noch als der heiße Scheiß "aus den Achtzigern, den Neunzigern und dem größten Rotz von Heute" verkauft wird. Passen würde das ja, so oder so. Warum nicht mal ausnahmsweise einen guten Sommerhit für das Jahr 2006?"
Haiko hat daraufhin Lunte gerochen und schummelt mir einen Interviewtermin mit Jason in den Terminkalender. Es läuft trotz meiner totalen Unerfahrenheit und der deshalb vollen Hose gut. Nach einer Stunde verabschiedet sich Jason mit den Worten "When we're on tour in Germany, come say Hi! I want to meet you!". Im Mai 2006 steht er dann tatsächlich auf der Bühne der Frankfurt Brotfabrik, die Herzallerliebste und ich stehen im Publikum. Ein wunderbares Konzert - und ich habe anschließend Bammel davor, Jason zu nerven und sage natürlich nicht "Hi!". Tragische Doofheit, in einen 1,89m großen Körper gegossen, es ist zum Heulen.
Jedenfalls: in den nächsten Jahren kaufe ich alle seine Platten, und zwar umgehend. Und ich liebe sie alle. Auf diesem Blog zeugt davon immerhin ein Beitrag über "Here's To Being Here" aus dem Jahr 2008. Sein letztes Soloalbum "Song And Dance Man" erschien 2016 und seitdem herrschte komplette Funkstille. Mir glaubt das vermutlich niemand, aber es ist ausnahmsweise mal keine Übertreibung, weil's für die Dramatik so schön passt: ich habe vermutlich bei keinem anderen Musiker so oft versucht herauszufinden, was er/sie treibt, wie bei Jason Collett. Hat er die Musik an den Nagel gehängt? Lebt er mit seiner Familie zurückgezogen auf dem Land? Oder ganz urban, in der Großstadt? A...arbeitet der denn jetzt 9 to 5? In einem Büro? Hoffentlich ist er gesund und es geht ihm gut. Es ist beinahe ausschließlich meinen exzellenten Stalking-Fähigkeiten zu verdanken, dass ich im vergangenen Frühjahr endlich ein paar Antworten erhalte - denn "Head Full Of Wonder" ist aus heiterem Himmel gelandet! Indes: die Platte ist in Deutschland und Europa nicht zu bekommen. Keine Chance, zero. Und dann tat ich das, was ich für gewöhnlich nur bei meinen absoluten Kings mache (und selbst da schmerzt das Bäuchlein), ich bestellte das Album direkt bei Arts & Crafts in Kanada. Versandkosten und Zollgebühren my ass! Da pfeif' ich drauf.
Nach dieser endlos langen Einlaufkurve erlaube ich mir noch ein paar Worte zu "Head Full Of Wonder", denn ich liebe diese Platte. Stilistisch halten sich Jason und seine Mitstreiter Marcus Paquin (Produzent), Schlagzeuger Liam O'Neill (SUUNS), Gitarrist Joe Grass und Bassist Mike O'Brien (Zeus) im weitgehend bekannten Rahmen auf: (Alternative) Folk, Singer/Songwriter und Indiepop, melodisch zu gleichen Teilen in den 1970er Jahren wie im neuen Jahrtausend verwurzelt, dicke Weichzeichner und Schalala-Vibes, Handclaps, Sonne, Wärme, Saxofon, durftendes frisch gemähtes Heu, Kaffee auf der Veranda. Totale fucking Seelenbestrahlung. So ehrlich und aufrichtig wie es albern und naiv ist, lyrisch befreit von jedem Zynismus. Er hätte doch noch das Geschirr abspülen müssen - aber die Sonne hat gescheint und darum hat er lieber diesen Song geschrieben:
Milk and Honey, Honey, Milk And Honey, Honey, Milk And Honey, Honeeeyyyyyy...
"In absorbing the tumult of the times, there's a lot of shit to write through, and the challenge is to get to the other side with something positive to contribute. I let go of some swagger and embraced intimacy and joy and wonder. I hear this in the record and it makes me very happy to have made it.” (Jason Collett)
"If you think there's a solution, you're part of the problem." (George Carlin)
Eine etwas obskurere Platte, die es erst über Umwege zunächst in meine linke Herzkammer, dann in die 2023er Bestenliste schaffte. Auf Vinyl ist "Inside Voices" lediglich mit beinahe generischem Cover erhältlich (einzig ein kleiner Aufkleber des Labels wurde oben links auf dem ansonsten weißen Karton angebracht); hier ist im Äußeren also nichts besonders fancy: schwarzes Doppelvinyl, keine Linernotes, keine Credits, nicht mal ein fucking Barcode. Eine ausgedehnte Recherche über Bandcamp tupfte das Album auf mein Radar, und ich lernte, dass der geografische Ursprung von "Inside Voices" in Australien liegt, genauer gesagt in Melbourne - und noch genauer gesagt: in einem Schlafzimmer in den nordöstlichen Vororten der Stadt, im traditionellen Land der Wurundjeri (Woiwurrung) der Kulin People. Und es hilft ja nichts, mich drum herum zu lavieren: ich bin für solche undurchsichtigen Verhältnisse mit der Aura des Unbekannten und Verborgenen sehr empfänglich, meint: es braucht dann nicht mehr so irrsinnig viele Überredungskünste, um mir die Platte als neuen Mitbewohner zu organisieren.
Nach einigen Wochen der Eingewöhnungszeit, die offen gesagt nicht komplett frei von Zweifeln war, weil die überlangen Tracks zu Beginn nur wenig Struktur hergaben, merkte ich indes, wie oft ich immer wieder zu "Inside Voices" zurückkehrte, wenn sich Geist und Seele in einem ganz bestimmten Zustand befanden; einer Art Zwischenwelt, in der sowohl ätherischer Ambient wie auch energetisch wirksamere elektronische Musik keine Optionen waren. In diese Lücke sprang "Inside Voices", denn es platziert sich rational-stilistisch als auch emotional genau ins jene Zwielicht: schwelgerisch, melancholisch, sehr atmosphärisch, dabei sympathisch entrückt und mit allerlei Soundideen unterfüttert, die das Bild mit subtilen Maserungen vervollständigen. "City Whistle" reift beispielsweise vom Ursprung mit einsamen, milchig-transparenten Pads und einem Break verhuschter Natursounds zu einem IDM/Downtempo-Schwoofer heran, der sich in dieser Entwicklung alle Zeit der Welt lässt. "Mansion On The Hill" fuchtelt mit Ambient und Drum'n'Bass Effekten im Stile Illuvias herum und zeichnet kühle Landschaften mit wärmenden Oasen aus Lichtblitzen und nachhallenden, tiefen Basslines, während sich der Titeltrack in ein Unterwasserbett aus hypnotisch pumpenden Ambienttechno mit jazzy und funky Obertönen einwürmelt.
Je mehr Zeit ich mit "Inside Voices" verbringe, desto mehr wächst mir diese Musik als Rückzugsort für intellektuelle und emotionale Reinigung ans Herz. Viel Seele, viel Phantasie, viel Tiefe - und damit viel Futter für Reflektion und Einkehr.
„Jemand, der es über vierzig Jahre mit Helmut Kohl aushält, der kann nicht harmlos sein.“
(Elke Heidenreich)
Der Auswahlprozess für die auf meinem Lieblingslabel A Strangely Isolated Place erschienenen Alben für die jährliche Bestenliste ist, um einem Blick in innere Zerwürfnisse die Ehre zu geben, dank meiner liebevoll gehegten charakterlichen Unzulänglichkeiten im beinahe sekündlichen Entscheidungskampf des Lebens: ein völliger Clusterfuck. Vor einigen Jahren hatte ich mich bewusst dazu entschlossen, mich einfach kopfüber in den Fluss zu werfen und also alles zu kaufen, was Ryan auf dem seit 2008 operierenden Label veröffentlicht. Der Name, das Design, die Ästhetik und nicht zuletzt das kuratierte Repertoire von Künstler*Innen und deren Musik entwickelte eine mächtige Anziehungskraft; hier fühle ich mich seitdem gut aufgehoben und spüre bei den allermeisten Veröffentlichungen eine tiefe Verbindung. Es gibt Ausnahmen, aber selbst in diesen seltenen Fällen gibt es immer noch einige Resonanzräumchen, die das Leben bereichern. Kurz gesagt: This is my house! Andererseits: ich möchte auch nicht ausnahmslos jede ASIP-Platte des Jahres in die Top 20 aufnehmen, auch wenn mir das den Ablauf des alljährlichen Aussiebens wenigstens etwas erleichtern würde. Aber so billig komme ich hier nicht raus.
Im Falle von "Fantasy Zone" der in Deutschland lebenden Produzentin Mary Yalex war die Entscheidung indes einfach. Der Berührungspunkt mit dieser introspektiven, sich langsam ins Innere vorantastenden Musik entstand bereits unmittelbar beim Opener "Air", einem sanften Nachtflug mit Nostalgiepanorama, der sofort Gefühle von Vertrautheit und Geborgenheit aussendet. Viel mehr offene Türen kann ich mir also gar nicht mehr einrennen lassen. Zentral scheinen mir zwei Aspekte ihrer Musik zu sein. Zunächst sind es die Melodien, die mal knapp unter dem Wahrnehmungsradar liegen und sich dort in die Weite verästeln, wo sie langsam ausrollen und sich verflüchtigen, oder mit einigem Selbstbewusstsein die Färbung einer Stimmung manipulieren. Nicht, dass sich beides notwendigerweise ausschließen müsste, aber diese kleinen Blitze von in Sepia getauchter Melancholie oder auch kindlich funkelnder Lebensgeister prägen die Reise durch die "Fantasy Zone". Mary sagt in einem Interview mit dem Label, dass jede neue Musik mit einer guten Melodie als Kern des Stücks beginnt und ich finde, das hört man.
Des Weiteren finde ich den Hinweis aus dem selben Interview bemerkenswert, dass die Musikerin seit ihrer Kindheit malt:
"I used to paint in my childhood when I lived in Austria. I only really started producing electronic music more recently. I want to give the whole thing a picture - something that is more than just a photograph."
Mir wird das vermutlich niemand glauben, und ich kann auch nicht ausschließen, das Interview zum Release des Albums im August 2023 bereits mal gelesen zu haben, aber bei der tiefergehenden Beschäftigung mit "Fantasy Zone" fiel mir die Weichheit auf, mit der diese Sounds gestaltet sind, wie nuanciert und mehrschichtig sie miteinander interagieren, sich anziehen und sich verbinden. Das ist in seiner feinfühligen Machart ein herausragendes Merkmal dieser Platte. Als ich auf der Suche nach einem passenden sprachlichen Bild dafür war, kamen mir als erstes die Pinselstriche auf einer Leinwand in den Sinn, um die eleganten und subtilen Schwingungen in der Musik zu beschreiben. Als mich die Recherche schlussendlich zum Interview führte, schloss sich dieser Kreis - und ich staunte nicht schlecht. Nun ist die Argumentation nicht so irre weit hergeholt, im Gegenteil ist es ja sogar recht naheliegend. Aber dafür, dass selbst meine Wenigkeit mit eher teilmöbliertem Dachboden in der Lage ist, ein Gespür für diese Verbindung aus Malerei und elektronischer Musikproduktion zu entdecken, klopfe ich mir mal verblüfft selbst auf die Schulter.
"Fantasy Zone" ist ein Refugium. Ein Schutzschirm gegen Schwachsinn, Lautheit, Krawall. Es zählte in den vergangenen Monaten zu meinen meistgehörten Platten.
Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2023.
P.S.: An jene Vinylfreunde, die den ganzen Krempel nicht nur kaufen und anschließend verschweißt ins Regal stellen, sondern die Platten tatsächlich auflegen - sowas soll's ja tatsächlich noch geben: ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass einige Exemplare offenbar Probleme mit einkanaligem (ist das überhaupt ein Wort?!) Knistern haben, vor allem auf der A-Seite. Also: Augen und Ohren offenhalten.
"Slapping hands is the lowest form of male primate ritual." (Jerry Seinfeld)
Wollte ich's ganz dicke auftragen, könnte ich schreiben, dass "Animist" ein Fenster zur Zukunft öffnet. Das geht überraschend leicht von der Hand, weil Vril hier gleichfalls dicke aufträgt: die Breite des Sounddesign, die Dimensionen der Arrangements, die multiversen Vibes, die brodelnden Emotionen - alle Regler sind nach oben geschoben. Und doch ist das alles so subtil miteinander verbunden, dass ich es erst entdeckt habe, als ich mich in dieses Netz fallen ließ und im Grunde eins mit ihm wurde. Into the abyss.
Eigentlich ist die Sache zwischen Technoalben und mir oft nicht ganz unheikel. Ich habe in den letzten zehn Jahren mehr als nur eine Platte wieder veräußert, weil sie zu anschmiegsam erschienen, weil ich keine Risse, keine Kanten, keine Reibung fand. Weil der Drive in irgendeiner kritischen Abrundung plötzlich nur noch ein sanftes, zärtliches Wippen war. Der schwerwiegendste Kollateralschaden ist in solchen Fällen der Verlust von Ebenen und Flächen, auf denen sich Bilder entwickeln, sich eine Innerlichkeit ausbreitet. Ich kann der Musik dann oftmals instinktiv nicht nachspüren und versande stattdessen im reinen Schönklang. Nicht, dass ich Erlösung einzig dadurch erfahre, stets nackt und kopfüber in die Kreissäge springen zu müssen, zumal es ja nur wenig Schöneres gibt, als sich stundenlang in weichfusseligen Ambientteppichen zu wälzen. Wenn das Leben allerdings nach etwas Vitalerem verlangt, dann verheddere ich mich nur ungern in rosa Zuckerwatte.
Die Tektonik von "Animist" ist komplex. Seine Bewegungen sind subkutan und expandieren ins Äußere der Wahrnehmung, lagern sich ein in tiefere Schichten und bauen dort Stück für Stück eine Brücke zurück in die Realität, organisch und selbstbestimmt. Und sie bauen diese Verbindung mit beinahe beänstigender Unerbittlichkeit. Es gibt praktisch keine Auflösung, weder als artikulierter Klimax, noch als entlastende Deeskalation. Es ist jene aus dieser Spannung heraus um sich greifende Intensität, die das Unterbewusstsein piekst, ins Innere kriecht und die Wahrnehmung demoliert. In den weichen Sternenbild-Pads des Openers und Titeltracks finde ich beispielsweise eine der Zukunft zugewandten Euphorie, eine Neugier und Abenteuerlust mit fiebriger Aufbruchstimmung - als stünde ich persönlich auf der Kommandobrücke der Enterprise im Jahre 2894, auf dem Weg in unerforschtes Terrain, mit Warp 12. In "Mortem Cellula" hingegen hält mich die schwarz-staubige Industrialästhetik im Tunnellabyrinth eines im Sterbeprozess befindlichen Universums gefangen, in Staub und Schmutz gehüllt, isoliert und auf mich alleine zurückgeworfen, die inneren Dämonen bekämpfend, bis aufs Messer.
"Animist", um den Faden zum Einleitungssatz wieder aufzunehmen, fühlt sich an, als hinterließe es seine Spuren ein paar Jahre vor unserer Zeit. Ich kann das nicht genau erklären, und die Zeit ist so oder so ein bad motherfucker, der mir schlaflose Nächte bereitet - and not in a good way. Aber manchmal scheint es mir, als wäre "Animist" aus der Nachwelt gekommen und versucht, uns die bevorstehende Verschmelzung der Utopie mit der Dystopie zu zeigen. Nicht als Gegensatz, sondern als eine Entität.
Das Leben wird hart. Aber es wäre um ein Vielfaches härter, wenn wir uns nicht mehr haben.
„Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie „Ich“ sagen.“ (Theodor W. Adorno)
Als Anthony Fantano, "Internet's busiest music nerd", vor gut zwei Jahren glatte und überaus seltene zehn Punkte an "The Turning Wheel" der kalifornischen Künstlerin SPELLLING vergab, war klar, was zu tun ist: kaufen! Und zwar so, wie ich es am liebsten mache, "commando", also nackig und also ohne vorangegangenes Testhören, wie immer planlos und mit offener Hose. Fantanos Beschreibung der Musik reichte aus, um schnell angefixt zu sein. Und wenn ich für die Bestenliste 2021 nicht in den Dornröschenschlaf gefallen wäre, hätten meine werten Leserinnen und Leser bereits damals lesen können, wie ich mit der Bewertung (i.S.v. "Kategorisierung") des dritten Albums von Tia Cabral zwar meine liebe Mühe hatte, aber gleichzeitig fasziniert war von diesem Kaleidoskop unterschiedlicher Einflüsse, dem außerweltlichen Gesang und den mit reichlich Mystik inszenierten Songs. Das Album ist nicht nur in meinem persönlichen musikalischen Kosmos eine Ausnahmeerscheinung, und ich finde vieles davon bis heute unerklärlich und rätselhaft.
Das im August 2023 erschienene "SPELLLING & The Mystery School" ist eine Zusammenstellung von Neuinterpretationen ihrer früheren Songs, die nun hier zum Teil erstmals in einem Bandkontext vorgestellt werden und deren neue Versionen sich aus den mit voller Band gespielten Konzerten der "The Turning Wheel"-Tournee entwickelten. Vor allem für jene Titel, die den ersten beiden Alben "Pantheon Of Me" (2017 in Eigenregie veröffentlicht) und "Mazy Fly" entnommen wurden, sind die Überarbeitungen ein künstlerischer Gewinn: SPELLLINGs Musik war in den ersten Karrierejahren sehr reduziert, kühl, sehr synthielastig und stilistisch mit Elementen des Darkwave und sogar einer gewissen Goth-Ästhetik spielend. Das hatte durchaus einen geisterhaften, geheimnisvollen Charme. Der Sprung von "Mazy Fly" zu "The Turning Wheel" war dann allerdings ein gewaltiger, wie auch Fantano in seiner Rezension hervorhob: der vormals auf das Wesentliche beschränkte und eher dürr zu bezeichnende Ansatz ihrer Musik erfuhr plötzlich die voluminöse, detaillierte, sich stetig ausbreitende Produktion eines Art Pop-Projekts, ein bisschen transzendental und metaphysisch, wie es bei Alben von beispielsweise Kate Bush oder auch Björk erfahrbar ist. An dieser Stelle setzt "SPELLLING & The Mystery School" an.
Ich gehe so weit zu sagen, dass die Songs von "Patheon Of Me" und "Mazy Fly" hier die "The Turning Wheel"-Behandlung bekamen - und in diesen Fällen kristallisieren sich einige echte Höhepunkte des Albums heraus. Der Opener "Walking Up Your House" wächst aus der Synth/Stimme-Miniatur des Debuts zum großzügig aufgezogenen Überflieger, "Under The Sun" durchläuft dank Piano, Schlagzeug und des Streicher-Arrangements des Del Sol String Quartetts gleich mehrere Metamorphosen, vom 70er-Abba-Vibe zu Beginn zum abruptem Wechsel in das Zaubergartenlabyrinth mit Fliegenpilzeintopf und dem Schlussakkord, der die folkige Stimmung mit selbstbewusster Kickdrum durchbricht. "Haunted Water" spielt wie "Phantom Farewell" mit dem bereits im Original wahrnehmbaren dunklem Wave-Geflacker und verbindet es mit tanzbaren Beats und einer Ahnung von Pop-Appeal zwischen (späten) Dead Can Dance und (mittleren) Depeche Mode. Die vier Neueinspielungen von "The Turning Wheel" zeigen sich dagegen eher etwas konservativer, weil sie das grundsätzliche Sounddesign des Albums beibehalten und lediglich in den Arrangements die Entwicklungsstufen der Band dokumentieren, nachzuhören im Hit "Boys At School" mit seiner neuen Streicherinstrumentierung und einer verfeinerten Dynamik im Zusammenspiel der Band. Das ist freilich immer noch hervorragend in Szene gesetzt und lohnenswert.
SPELLLINGs Musik ist auch auf dem Stand des Jahres 2023 noch immer herausfordernd, bizarr, außerweltlich und einzigartig. Es kann vielleicht ein Weilchen dauern, bis so halbwegs klar ist, was hier passiert - und manchmal passiert womöglich gar nichts. Was einem dann noch bleibt, ist universell: einfach zuhören.
"Die häufig beobachteten Phantasiezusammenstellungen müssen in Fortfall geraten." (Krawinkel)
Ein Album für die frühen Morgenstunden des Tages. Für die Zwischenwelten, in denen sich die Welt noch nicht entscheiden kann, ob sie das Licht anknipsen soll oder nicht. Für die Einkehr, das Zurückgeworfen-Sein auf die eigene Geschichte. Für die Kontemplation, für das Erspüren der Intuition. Für den Nachhall der Erinnerungen. Für den Versuch das Vergängliche zu umarmen, und sei es nur für den Moment des Augenblicks. Für das Unbegreifbare.
Die Musik von "We All Have Places That We Miss" legt sich wie ein sanfter, heller Schleier über das Leben. Sie glitzert, funkelt, geht bis in die feinstofflichen Ebenen der Wahrnehmung. Sie breitet sich aus, wird weit, füllt auf, ist schwärmerisch, weich, sentimental.
Mir fiel im letzten Drittel des vergangenen Jahres auf, wie oft sich mein Leben immer wieder auf dieses Album einlassen wollte. Immer war es in greifbarer Nähe, als Antidot gegen den Lärm, aber auch als tröstendes Wärmepflaster gegen den Schmerz des Verlusts unseres Hundes Fabbi, den wir im Juni 2023 nach langer Krankheit auf die andere Seite des Regenbogens ziehen lassen mussten. Die Auseinandersetzung mit dem Loslassen fällt mir traditionell sehr schwer und die Anerkennung des Rationalen scheint in solchen Momenten unmöglich. Und egal, wie oft nach einem Ausweg gesucht wird - der Einschlag kommt, und er ist immer unbarmherzig. Es gibt nichts Radikaleres als die Wahrheit.
"We All Have Places That We Miss" ist auch aus dieser Perspektive betrachtet zwischenweltlich, weil es nichts ausspart und nichts bagatellisiert. Das monumental Tragische, die Furcht und die Trauer stehen in direktem Einklang mit der tief empfundenen Dankbarkeit und Liebe für das Leben. Es gibt jene flüchtigen Momente, in denen mir das klar ist.
"Glückliche Menschen langweilen mich." (Wolf Wondratschek)
Wir haben miteinander gefeiert, sind gemeinsam zusammengebrochen, haben gelacht und geweint, getanzt, geschwitzt, uns angezogen und wieder abgestoßen. Haben die Theatralik bestaunt, das Drama bestanden, sind auf dem Boden des Atlantiks aufgeschlagen und haben die Sonne geküsst. Das Chaos umarmt, die Einsamkeit ausgehalten. Wir waren frei und entfesselt, haben dem Hedonismus ein "How ya doin'?" vor die Füße gerotzt und dem Tabu ein Grab geschaufelt. Haben in den Spiegel geschaut und die Risse in unserem Gesicht gesehen, die sich in die Breite verästelnden Zerwürfnisse nachgezeichnet, die Ketten mit Spucke poliert, die Zeit verflucht, den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren den Mittelfinger entgegengestreckt. Erlebten Agonie und haltlose Hysterie, waren ohne Orientierung und voller Pläne. Überwältigt von der Kälte, überfordert mit der Hitze. In Embryohaltung dem Staub beim Zerfallen zugeschaut und uns so schnell gedreht, dass wir uns selbst überholten. Blitze geschleudert, das Meer geteilt, den Sturm gesät und Zerstörung geerntet. Das Licht zum Explodieren gebracht, die Dunkelheit ausgelöscht. Die Liebe, das Leben, eine einzige Orgie.
ChatGPT is fast-tracking the commodification of the human spirit by mechanising the imagination
(Nick Cave)
Ich werde alt. Zugegeben, das ist bedeutend schöner, als nicht alt zu werden. Aber die Veränderungen, die ich im Zuge des Zerfalls, körperlich wie geistig, 's macht eh keinen Unterschied mehr, an mir beobachte, sind nicht immer Anlass für ausgelassene Freude. Im Falle von "Faded Photographs" ist's eine zweischneidige Medaille, quatsch: sind's zwei Seiten desselben Schwerts: vor zehn Jahren hätte ich diesem wachsweichen Kitsch keine zwei Durchläufe gegeben, bevor ich die Schublade mit den unterschätzten Gemüsesorten (Pastinaken!) geöffnet hätte. Reste jenes also eher ungnädigen Florians scheinen indes auch im Jahr 2023 noch immer auf der Spaßbadrutsche im Kleinhirn entlang zu schlittern, denn ich erinnere mich daran, im März des just abgelaufenen Jahres nicht gerade in euphorischer Umnachtung nackig auf ein Nagelbrett gesprungen zu sein, als sich das Album die ersten Male auf dem Plattenteller drehte. "Faded Photographs" wirkte unnatürlich harmonisch, dabei erschütternd undynamisch und folgerichtig: oberflächlich. Schlimmstenfalls, irgendwie...egal?!
Und man denkt sich: "Hurra! Ich habe noch Spuren von Integrität in mir, dieser Pop-Dreck kann sich ins Gehackte legen. Mit mir nicht, Freunde der Sonne! Das hier ist der letzte Wassergraben vor der ersten Reihe beim Helene Fischer-Konzert! Und ich habe nicht mal zum Sprung angesetzt! Wer sagt's denn?! Dum spiro, spero!"
(Weil es schließlich keine Zwischentöne mehr gibt - es gibt nur noch dafür oder dagegen. Entweder mit Helene ins Bett oder mit GG Allin Schore drücken, dazwischen passt kein bedrucktes Klopapier vom verfickten Springer-Verlag, klar.)
"...eine sehr ambivalente Person!" (Gerhard Polt)
Werte Leser*innen: wie Sie sehen können, haben sich die Zeiten geändert. Sie lesen diesen ganzen Kladderadatsch im Jahr 2024, und "Faded Photographs" ist locker in den Top 20 des vorangegangenen Scheißjahres gelandet. Und bevor ich gleich damit beginne, diesem Album die Rosenblüten ins Badewasser zu streuen, eine ganz kurze Einlassung zum Beginn dieses Reviews: ich hätt's ohne die "süße Milde" (Manuel Andrack) des Bluthochdrucks, der Angstzustände und des in spätestens fünf Jahren fälligen künstlichen Kniegelenks im Leben nicht erkannt. Man muss so dankbar sein. Fürs Altern, versteht sich.
Im Prinzip ist "Faded Photographs" der endlich gefundene Nachfolger zu "Details" von Richard Davis, vielleicht abzüglich dessen stärkere Konzentration auf die Kickdrum. Und um Missverständnisse zu vermeiden: that's a fucking good thing! Dieser übermelancholische Vibe, der sich zwischen den in blassrosa getauchten Zuckerwattewolken ausbreitet wie eine nicht letale Überdosis Ketamin im menschlichen Blutkreislauf, und der sich gleichzeitig zwischen stoischer Unterkühlung und substanzieller Überwärmung dehnende Vortrag von Sänger*innen wie Bandreas, Saint Sinner und Benoit Pioulard, haben meine Gegenwehr vollständig gebrochen. "Faded Photographs" klingt wie eine in Superzeitlupe gefilmte Kissenschlacht, von der man nicht weiß, ob die Protagonisten sich danach in brennender Leidenschaft vereinen oder sich traurig und enttäuscht voneinander entzweien werden. In diese Indifferenz platziert Yagya das entrückt klingende Saxofon von Óskar Guðjónsson und die elegischen Streicherarrangements von Pablo Hopenhayn und lässt damit einen Song wie "The Serpent" wie eine außerirdische Coverversion der frühen Dead Can Dance, den Abschlusstrack "My Own Worth" wie eine bizarre Laune der Natur aus den Cardigans und Björk klingen, während im Untergrund der unbeirrbare Dubtechno-Beat bedächtg vor sich hinblubbert.
Dass die Erwartungen der Zielgruppe mit "Faded Photopgraphs" nicht erfüllt wurden und die Gemeinde aus Technohausen ihre liebe Not mit der Platte hat, dabei die Vorbehalte in ähnlich verzweifelt-hilfloser Weise äußert wie die alten Knatterrochen aus dem Rockmusikzirkus - Titel meiner ungeschriebenen Doktorarbeit: "Anspruchsdenken und Erwartungshaltungen an Kulturschaffende. Eine Frage der Intelligenz?", gibt mir Gelegenheit, nochmal tief durchzuatmen: so alt werde ich hoffentlich nie.
"I'm very fortunate to be surrounded by such stupidity." (Elaine Benes)
Im November 2023 bereiteten sich die drei Mitglieder von Blank When Zero auf den ersten Auftritt seit 2019 vor. Nach einer mehr oder minder erfolgreichen Probe saßen wir wie üblich zum Abkühlen in unserem keinen Nebenraum und sprachen über die voraussichtliche Setlist, über neue Platten und die gesellschaftlichen Verwerfungen in Zeiten des Postkapitalismus, als unser Bassist Marek plötzlich das Telefon zückte und in die Runde fragte, ob wir denn schon mal was von interna gehört hätten. "Da sind Leute von Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen und Sie Kamen Australien dabei. Gerade rausgekommen. Ist geil!".
Hatte ich nicht. Ich kenne streng genommen nicht mal die La Palomas, und es ist nicht nur als Musiker in einer Hardcorepunkband fast ein bisschen peinlich, das offen zuzugeben. Mir ist der Bandname freilich geläufig, aber den vergisst wohl auch niemand, sobald er denn mal den Weg ins Bewusstsein gefunden hat. Ihre Musik hatte ich aber noch nie gehört, und meine komplizierte Beziehung zu neuer Rockmusik im Allgemeinen und ganz besonders deutschsprachigem Punk im Speziellen, mag wohl (nicht) als halbsteife Entschuldigung durchgehen. interna hatten im Juni ihre erste Single "In der Terrassenwelt" veröffentlicht und für die B-Seite "Im Schwimmbad mit den Boys" ein Video gemacht. Und das schauten wir uns dann also an. Im Proberaum.
Die Kurzversion über das, was dann folgte: "Uff, der Schlagzeuger sieht ja aus wie ich." -"D...der hat sogar ein Blind Guardian-Shirt an!" -"Fuck, wie geil klingt bitte die Gitarre?!" "Der Bass isso tight!"
Dann schallendes Gelächter bei der Textzeile
"Bluesfossil vom Nachbarraum will mit uns jammen, wohl kaum"
anschließend Beinahe-Hysterie bei
"Soloalbum mit meiner Frau, eine Platte rosa, eine blau."
Zwei Tage später: "nach außen konziliant" ist bestellt. Ich will nicht schon wieder über Gebühr mit meiner des Öfteren so seltsam gespreizt formulierten Abneigung gegen aktuelle Rockmusik kokettieren, aber: das will schon was heißen. Und jetzt steht die Platte auch noch in meinen Top 20.
Hurra! Irre! Boioioioiiiing!
Das Trio aus Kiel spielt...ich habe ehrlich keinen Plan, was das hier ist. Indiepunk? Postpunk? Progpunk? Postindie? Postprog? Was ich weiß: ihr Zusammenspiel ist traumhaft, die Rhythmen manchmal gar ziemlich tricky, sie finden an den genau richtigen Stellen den genau richtigen Drive, da ist viel Luft zwischen den Instrumenten - und eine Reduziertheit, die mich hier und da entfernt an Antelope erinnert (über deren leider einziges Album "Reflector" ich hier schonmal eine Art Heiligenschein anknipste) und aus der ein unwiderstehlicher Groove entsteht - und natürlich die Texte, die zu gleichen Teilen so schlau wie obskur sind, sodass ich oft nur eine diffuse Ahnung davon habe, was sie denn eigentlich bedeuten könnten. Aber eine diffuse Ahnung ist besser als der Spatz in der Hand, right?! Right!
Zigaretten rauchen
In der Sonne frösteln
Das bisschen Heroin
Es macht einfach großen Spaß, diese Platte zu hören.
“Dass wir nicht mehr können, erliegen, dass wir unrettbar sind, in der Kapitulation leben, das sagten wir nicht, wir fühlten es bloß.” (Roger Willemsen)
Eine Kassette also. Ich habe nicht mal mehr ein funktionierendes Tapedeck. Oder präziser: ich will nicht mal ausprobieren, ob es noch funktionierte, aus Angst, es würde sich über das eingeschobene Tape hermachen und im besten Falle einen Bandsalat, im ungünstigeren Fall ein schlimmes Häcksel-Massaker anrichten (*). Trotzdem habe ich mir "Because" von Jogging House (übrigens wie Herr Dreikommaviernull in Frankfurt zu Hause) auf Kassette gegönnt, und das nach einem nur knapp einminütigen Bandcamp-Testlauf. "Because" schien eines jener Alben zu sein, die schon ab der ersten Sekunde den Raum um mich herum verändern können. Die auf einer bestimmten Frequenz Verbindungen herstellen, Nervenbahnen miteinander verbinden. Deren Puls sich ohne Anstrengung und also ganz natürlich an die Geschwindigkeit der eigenen Realität anpasst.
Mein Bauchgefühl täuscht sich mittlerweile sehr selten - und wenn es das ist, was ich aus der so innigen Auseinandersetzung mit Musik über die letzten Jahrzehnte gewonnen und also mitgenommen habe, dann war selbst mit einem mitleidigen Blick auf die viel zu vielen Schallplatten in unserem Wohnzimmer vielleicht nicht alles perdu.
"Because" öffnet unentwegt neue Horizonte, entwickelt Fluchtpunkte aus dem Nichts und zaubert unter den mehrdimensionalen Schichten der nicht mal über Gebühr geglätteten Texturen diesen einen besonderen Moment der Besinnung und des Lichts hervor. Reibung. Erinnerung. Frieden. Ich habe das Album oft in den Abendstunden meiner Arbeitstage gehört, wenn das Getöse des Tages endlich verstummte und ich in die so trübe Tunke aus Exceltabellen und Rechenschieber eintauchen konnte musste.