17.02.2013

2012 ° Platz 4 ° Orcas - Orcas



ORCAS - ORCAS

Erinnert sich noch jemand an meinen Text über Bonobos "Black Sands" Album? Bien sur, das ist eine rhetorische Frage und deshalb will es nicht schwerer machen, als es ist, und einen zentralen Satz daraus zitieren:

"Du hörst es und Du weißt augenblicklich - 'Okay, das hier ist wichtig, hör genau zu, Mann!".

Exakt diesen Effekt erlebte ich beim ersten Anhören von "Orcas", dem Debut des Projekts der beiden Soundtüftler Benoit Pioulard und Rafael Anton Irisarri, und ich wurde schon zur Mitte des ersten Titels leicht hektisch: diese Jahresbestenliste muss neu geschrieben werden - und sie wurde neu geschrieben. "Orcas" rutschte praktisch nach jedem Hördurchgang einen Platz nach oben, weil diese Musik so romantisch, schwül, flirrend ist, weil sie so lush und deep in dich hineinflutscht wie kaum etwas anderes. Die erfrischend aufgeräumte Hippieästhetik und der zähe, ausgewalzte Folkansatz des Duos bekommt durch das Ambientknistern und -flackern eine unüberschaubare Weite, verliert sich dabei aber nie in experimentellen Kunststrukturen. "Orcas" bleibt bei Dir, egal wie weit der Spagat von hymnenhafter Leichtigkeit zu den monumentalen Klanggebirgen reichen mag.

Die Herzallerliebste und ich waren erst kürzlich einer Meinung, als "Orcas" uns den Brunch am Frühstückstisch versüßte: es ist eine der schönsten, bildhaftesten und kontemplativsten Platten der vergangenen Jahre. Ein besonnener und guter Freund, der Licht schenkt, wenn es draußen mal wieder stockfinster ist.

Erschienen auf Morr Music, 2012.


16.02.2013

2012 ° Platz 5 ° Qluster - Antworten



QLUSTER - ANTWORTEN

Es passiert ausgesprochen selten, dass mir im Dezember eines Jahres eine Platte unterkommt, die mit derart wehenden Fahnen in meine Jahrescharts stürmt, wie der dritte Teil der Qluster-Trilogie "Antworten". DER_LEHRER empfahl mir während eines gemeinsamen Plattenladenbesuchs am Nikolaustag 2012 ein oder sogar zwei Ohren zu riskieren, und ich sende seitdem Luft und Liebe in Richtung Klassenzimmer: bereits nach dem ersten Kopfhörertest war klar, dass "Antworten" in die Top 5 gehört.

Hans-Joachim Roedelius und Onnen Bock setzten sich der Legende nach im Januar 2007 um Mitternacht in die Berliner Philharmonie und an die zwei dort bereitgestellten Steinway Flügel. Ihre nokturnen Improvisationen sind geprägt von großem Verständnis und Einfühlvermögen, manchmal scheint es, als könnte man ihre Gedanken wenn nicht hören, dann wenigstens spüren. Sie beobachten sich einander ganz genau, lassen sich den Freiraum, wenn die musikalische Weite Universen verschlingt und ziehen sich zusammen, wenn die winzigen Miniaturen in Melodie vor Energie und Intensität beinahe zerbersten. Roedelius und Bock erschaffen auf "Antworten" ein intimes, mehrdimensionales Standbild der Nacht, ein Gegengewicht zum sich im stetem Fluss abspielenden, hektischen Alltag der Großstadt. Den Blickwinkel verändern, den Kopf aus der alles mitreißenden Flut strecken, tief Luft holen, um danach noch tiefer abtauchen zu können: wenn "Antworten" uns genau diese "Antwort" auf die immer brennenderen Lebensfragen von misstrauischen und ziellosen Generationen liefert, dann wird es Zeit, das Leben neu auszurichten und es endlich in die Hand zu nehmen. Wir werden den Irrsinn auf andere Weise nicht überleben können.

Und wenn Keith Jarrett diese Platte hört, setzt er sich nie wieder an einen Flügel.
Erschienen auf Bureau B, 2012.

11.02.2013

2012 ° Platz 6 ° De La Soul's Plug 1 & Plug 2 Present First Serve



DE LA SOULS'S PLUG 1 & PLUG 2 PRESENT
FIRST SERVE

»It’s funky, it’s hip hop, it’s disco and it’s classic.«

An dieser Stelle könnte eigentlich schon alles gesagt sein. "First Serve" war mein Sommeralbum 2012 und selbst jetzt, beim Probehören im arschkalten Februar, trage ich mein mit rot-weißen Palmen geschmücktes Hawaiihemd, pinke Hotpants mit auf dem Arsch gedruckten Rosenblüten, dazu die guten Flip-Flops mit Wohlfühl-Fußbett, reiße das Fenster auf und schüttele mir einen Caipirinha mit Limettensaft aus der Flasche zusammen. Letzteres kann ich übrigens mittags um eins nicht empfehlen, aber bei der Kälte spart man sich wenigstens das Eis. Und das leere Glas kann auch noch ganz hervorragend auf die Karnevalstrottel aus dem Neanderthal geschmissen werden, die just 100 Meter von meiner Höhle entfernt ihren verkackten Umzugsschrott feiern. Aber das habe ich nicht geschrieben. So ähnlich, bis auf die Kälte und die lustigen Helau-Masturbanten, lief es vor zehn Monaten ab, als ich eher zufällig die erste Single "Must B The Music" aus diesem funkensprühenden Album hörte. Ich weiß noch genau, dass ich derart euphorisch war, dass ich etwas tat, was ich für gewöhnlich nie mache: ich schloss den Laptop an meine Anlage an!*donnergrollen* Damit ich diesen Song L.A.U.T. und über die großen Lautsprecher hören konnte. Außerdem stammelte ich die ganze Zeit "I...ist das g...geil. H...hörst Du d...das? Ohgott. Wie g....geil!" in Richtung der ob der Lautstärke leicht unentspannten Herzallerliebsten, die aber nach dem vierten Durchlauf ebenfalls ein für ihre Verhältnisse rares "Das ist aber echt geil!" fallen ließ.

Als ich wenige Wochen später die vollständige Platte in den Händen hielt, war von der sonst so üblichen Enttäuschung (i.S.v. großartige Single, abfallendes Album) weit und breit nichts zu sehen, zu hören noch weniger. "First Serve", ausgedacht vom französischen Produzenten-Team Chokolate & Khalid und den beiden De La Soul MCs Dave und Pos, ist ein funky-freshes und positives Hip Hop Album der alten Schule, gespickt mit kerzengeraden, dicken Discobeats und viel, viel Funk und Soul und noch mehr Humor. Die Story des Albums dreht sich um zwei talentierte Rapper, die große Stars werden wollen, sich anfangs mit den Berufswünschen der Eltern, später mit Verträgen und dem Split herumschlagen müssen (Spoiler Alert: sie finden aber wieder zusammen).

Vor einer Woche wünschte ich mir angesichts des Oddisee-Albums das Entstehen von neuen Klassikern herbei und "First Serve" reiht sich nahtlos in diesen Wunsch ein. 12 Songs, 12 unsterbliche Hits, 12 Mal großer Spaß, 12 Mal Limbo tanzen. Do it!

Erschienen auf Pias, 2012.

10.02.2013

2012 ° Platz 7 ° The Sea And Cake - Runner


THE SEA AND CAKE - RUNNER

Es gibt wohl keine andere Band, die ich auf diesem Blog ausgiebiger mit Lob und Liebe überschüttete als The Sea And Cake und, um die Pointe gleich vorwegzunehmen: das wird sich auch mit diesem Beitrag nicht ändern.

Als ich 2005 zum ersten Mal "All The Photos" vom fantastischen "Oui"-Album hörte, war es um mich geschehen. Seitdem versuche ich mir selbst zu erklären, was mich an der Musik des Quartetts aus Chicago so sehr fasziniert, und ich kann nicht sagen, dass ich in den letzten acht Jahren bedeutend weiter gekommen bin. Natürlich ist der reflexartige Kniefall bei bloßer Namenserwähnung dank der Leichtfüßigkeit, der Souveränität, der feingliedrigen Arrangements und der schüchtern-naiven Aura ihrer Kompositionen jederzeit problemlos darstellbar, aber da brodelt noch irgendetwas tiefer in mir als die genannten und offensichtlichen Merkmale. Ihre Musik zieht mich, oft nur für wenige Sekunden, in meine Jugend zurück und ich assoziiere nicht selten komplette, erlebte Bilder mit einzelnen Songs; manchmal ist es gar nur eine Betonung, ein Gitarrenanschlag oder eine gehauchte Wortsilbe, die mich aus dem Hier und Jetzt in das Damals und Gestern katapultiert. "All The Photos" ist beispielsweise ab dem Break bei Minute 1:25 seit jeher mit einem Sommertag im Juli 1995 verknüpft, an dem ich am Schreibtisch meines Zimmers in der elterlichen Wohnung  saß, Guinness aus Dosen trank und für die theoretische Führerscheinprüfung lernte. Bei "Window Sills" vom 2008er "Car Alarm"-Meisterwerk sitze ich ab der ersten Note ebenfalls im spätpubertären Kinderzimmer, habe eine Tasse Kaffee neben mir stehen, schaue melancholisch aus dem Fenster und den Schneeflocken beim Sterben zu. "Runner" fügt diesen Beispielen mit "A Mere" gleichfalls winterliche Nachmittage mit der tonlosen Bill Cosby Fernsehserie hinzu. Und manchmal ist es nicht mehr als ein Gefühl, vielleicht ein Geruch oder ein Geschmack in der Luft, den ich auf dem Fußweg vom Abitur-Gymnasium in die Wunderbar in Frankfurt-Höchst wahrgenommen habe, um eine selbstentschuldigte Freistunde bei einem Kaffee und unter Freunden zu verbringen. Vielleicht komme ich nochmal dahinter, warum das alles so ist, wie es ist. Vielleicht kann ich The Sea And Cake aber auch weiterhin einfach als eine der schönsten, ergreifendsten Bands aller Zeiten betrachten, an der ich mich nicht satthören kann.

"Runner" ist im Vergleich mit der "The Moonlight Butterfly" EP aus dem Jahr 2011 etwas vielschichtiger in der stilistischen Ausprägung und gleichzeitig kompakter in Stimmung und Ton, wofür vor allem die B-Seite verantwortlich ist, die vom reinen Akustiksong "Harbor Bridges" über das sehnsüchtig flackernde "New Patterns" (schon wieder: ein Gitarrensolo!), dem ungewohnt rockigen "Neighbors And Township", dem Hit "Pacific" bis zum an ihre 90er Alben wie "The Biz" und "Nassau" erinnernden Titeltrack neue Maßstäbe im Band-Kosmos setzt. Abgesehen vom unangenehm übersteuert und verzerrt klingenden "Skyscraper", einem Song, der in allen Formaten, sei es Vinyl, CD oder MP3, klingt, als sei ein Lautsprecherkabel kaputt, ist "Runner", und jetzt kann ich es wieder sagen: schon wieder das nächste beste The Sea And Cake Album der Welt.

Ein Spektakel in Nonchalance.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

03.02.2013

2012 ° Platz 8 ° Oddisee - People Hear What They See



ODDISEE - PEOPLE HEAR WHAT THEY SEE

Ist die Zeit für Klassiker einfach vorbei? Vor zwanzig Jahren wären sämtliche Singleauskopplungen aus "People Hear What They See" in die Top Ten der US-amerikanischen Billboardcharts eingestiegen, das Album hätte dreifach Platin eingesammelt und Oddisee wäre für die nächsten fünf Jahre der Mann der Hip Hop-Stunde gewesen. Im Jahr 2012 reicht es immerhin für viel, viel Kritikerlob und einen brodelnden Untergrund, der vom Mainstream Hip Hop mit seinen Bitchez, Niggarz und Dollarz die Nase mindestens so voll hat wie unsereins. Alleine das Cover von Oddisees quasi-Debut verspricht eine Hochdosis Conscious Rap, einerseits introspektiv und reflektiert, ohne die sonst genretypische Exaltiertheit, und trotzdem ist die Leidenschaft in jedem Rap, in jedem Beat und jedem Sample zu spüren. "This album is about influence, inspiration, perception & reality." sagt der Multiinstrumentalist, Produzent und MC aus Washington, womit er auch dank seiner Motown-, Soul- und Funksamples mit "People Hear What They See" einem Poeten wie Gil-Scott Heron viel näher steht als praktisch alles, was in den letzten zehn, fünfzehn Jahren an der Hip Hop Geschichte mitgebastelt hat. Langjährige Leser von 3,40qm erinnern sich vielleicht noch an Replifes "The Unclosed Mind" Album aus dem Jahr 2008, das ich als "wohltuend klischeefreien HipHop" adelte, und mir fiele für Oddisee ziemlich genau dasselbe ein, auch wenn seine Musik eine Spur spritziger und sonniger ist.

Ich würde grundsätzlich viel mehr Hip Hop hören, wenn er öfter so erfrischend, kreativ und positiv aufgeladen ist, wie "People Hear What They See". Und es wäre mal wieder an der Zeit, dass wir Klassiker entstehen lassen. Ich hätte kein Problem, hier und heute damit zu beginnen.

Erschienen auf Mello Music Group, 2012.

29.01.2013

2012 ° Platz 9 ° Voices From The Lake



VOICES FROM THE LAKE

Das beste Techno-Album des Jahres 2012 kommt aus Italien und es war ein ganz schöner Ritt, alleine nur die CD zu ergattern. Das DJ-Duo Donato Scaramuzzi und Giuseppe Tilliecin, der eine nach Jahren in der Clubszene Berlins bestens vernetzt, der andere als Toningeneur im Rom auf "All Systems Go!" geschaltet, hatte sich im Sommer des abgelaufenen Jahres schon ziemlich genau überlegt, wer  ihre Musik zum Verkauf (und Kauf) angeboten bekommt. Mittlerweile gibt es "Voices From The Lake" sogar in der 3-LP-Version auf Vinyl. Ob man die noch braucht, wenn man die CD, den Download und Spotify hat? Auf jeden Fall!

"Voices From The Lake" gelingt, was traditionell nur einer überschaubaren Anzahl von Technoalben vorbehalten bleibt: einen Rahmen zu schaffen, der die szenetypische 12"-Kultur überflüssig macht.

Wer es fertig bringt, auf den eigentlich viel zu langen 72 Minuten durchgängig so spannend zu sein, dass man am liebsten niemals mehr auf die Idee kommen möchte, sich eine Techno-Maxi, in welchem Format auch immer, zu kaufen, geschweige denn jemals die Repeatfunktion des CD-Players zu deaktivieren, der wirft auch Sauerkraut auf die Schwarzwälder Kirsch. Der ist zu allem fähig. Und tatsächlich groovt das Duo mit tiefen, hypnotischen, rotglühenden Dub-Beats durch unterirdische schamanische Höhlen, pendelt mit zaghaften Melodieandeutungen Wasseradern im Tropischen Regenwald aus und lässt einen unaufhaltsamen Fluss von Erzählungen, Bildern, Visionen, Fieberträumen, Hitzewallungen, Sonargeräten und Mojitos (wahlweise auch Moskitos) auf uns niederprasseln. Es zischelt und rauscht bedrohlich, es drückt und pumpt bis zur Schmerzgrenze; Freedom, Baby!

Wenn das Autorentechnoalbum als Kunstform tatsächlich exisitiert, haben Voices From The Lake vielleicht eine neue Bibel geschrieben.

Erschienen auf Prologue Music, 2012.

28.01.2013

2012 ° Platz 10 ° Godspeed You! Black Emperor - 'alleluja! Don't Bend! Ascend!



GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR - 'ALLELUJA! DON'T BEND! ASCEND!

Wir starten mit einer Platte in die Top Ten, die mir einige schlaflose Nächte bereitet hat. Die kanadische Legende, bis heute der einzig legitime Vertreter des orchestralen Postrock, hat im abgelaufenen Jahr tatsächlich ihr Schallplattencomeback angekündigt und nur für den Fall, dass ihr es noch nicht alle wisst, weil ich es ja auch erst seit 15 Jahren mantraartig vor mich hinmurmle, und das hier strenggenommen ja auch kein Reunion-, sondern eben das Comebackalbum ist, aber trotzdem: Reunions gehen in 49 von 50 Fällen nach hinten los, in die Hose, sind für den Popo und sollten schnellstmöglich auch wieder in Letztgenannten zurückgeschickt werden.

Die Verantwortlichen hinter Godspeed legten die Band 2005 auf Eis und irgendwie war das auch richtig so. Ich war zwar durchaus enttäuscht, aber wenn sie das Gefühl hatten, es sei für den Moment alles gesagt - bon! Das war mir auf alle Fälle lieber als alle zwei Jahre ein müdes, abgeschmacktes Werk vorgesetzt zu bekommen. Was mir die Band bedeutet, ist an dieser Stelle nachzulesen, weshalb für mich klar war, dass ich diese Platte so dringend brauchte wie ein veganes Holzfällersteak mit Sojajoghurt. Trotz dieses ganzen Comebackgedussels.

"'Alleluja! Don't Bend! Ascend" war ein Sensationserfolg. Das Label meldete schon drei Wochen vor dem Release, dass die Flut an Vorbestellungen sie förmlich überspüle und das Presswerk nicht mehr mit den Aufträgen nachkommt. Aus kommerzieller Sicht hätten die Vorzeichen also wirklich schlechter stehen können und aus künstlerischer Sicht war nach den ersten Minuten, spätestens aber nach dem Opener "Mladic" alles klar: Godspeed You! Black Emperor. Mein Gott. Mir hat wirklich etwas gefehlt.

Die Band hat es immer noch im Blut, auch ohne Worte alles zu sagen. Also, es final zu sagen. "Mladic" erhebt sich nach etwa sieben, acht quälend spannungsgeladenen Minuten furchterregend in die Lüfte und lässt die weiterhin unbändige Kraft des Kollektivs im Verlauf des zwanzigminüten Werks geradewegs explodieren. Wenn der Lautstärkeregler in einer angemessenen Position einpendelt, flattern nicht nur die Hosenbeine, sondern auch die Herzkammern. "We Drift Like Worried Fire" ist dagegen ruhiger und etwas weniger gewaltig, dafür aber melodisch vielschichtiger und tiefer. Die beiden Anhängsel "Their Helicopters Sing" und "Strung Like Lights At Thee Printemps Erable" sind Drones aus Noise und Feedback, gleichfalls monumental und in Verbindung mit den beiden erwähnten Hauptdarstellern die perfekte Ergänzung für eine Platte, die gemacht werden musste. Weil es wichtig ist, dass wir Bands wie Godspeed You! Black Emperor haben. Weil es wichtig ist, dass da jemand an unserer Seite steht, der auf diesen Irrsinn um uns herum mit derselben Mischung aus Ohnmacht und Zorn blickt. Es ist gut, einen Partner zu haben.

Erschienen auf Constellation Records, 2012.

22.01.2013

2012 ° Platz 11 ° Georgia Anne Muldrow - Seeds



GEORGIA ANNE MULDROW - SEEDS


Es war eine wirklich schwere Entscheidung, "Seeds" auf einen Platz außerhalb der diesjährigen Top Ten zu schieben. Ich erinnere mich daran, wie ich im Sommer 2012 wenigstens den Titeltrack in meiner gewohnt eloquenten Art in die Top 3 des Jahres und das vollständige Album in die "Scheißrein: Top 5, mindestens!" schrieb. Nun ist "Seeds" (sowohl, als auch) in den letzten vier, fünf Monaten ja sicherlich nicht schlechter geworden. Es gab nur eine Handvoll Konkurrenten, die einen Tick besser geworden sind. Trotzdem ist's irgendwie tragisch.

Um zu verstehen, wie das in den Sommermonaten gelaufen ist, muss man wissen, wie ich in jenen Zeiten meine Wochenenden verbringe. Besonders die Samstage sind heilig; vor 12 Uhr sieht man mich nur selten zum Bäcker für frische Brötchen wackeln und vor 14 Uhr erhebe ich mich mit der Herzallerliebsten erst gar nicht vom Frühstückstisch. Danach umwehen mich im leicht mit Jalousien abgedunkelten Wohnzimmer die Frische von Acqua di Parmas "Colonia"-Klassiker und die sanfte Brise, die sich durch das gekippte Fenster zu mir entlangwürmelt. In diesem Setting werden dann also die neuesten Platten aufgelegt, dazu reicht die Redaktion "schwarzen, heißen Kaffee, Junge. Richtig dunkelschwarzen, leckeren, kochend heißen Kaffee. Alde." (Picard). Das geht in aller Regel bis zum Abend so, und wenn es besonders entspannt am Bein entlangläuft, wechsle ich in der schwülen Hitze der Nacht zum eiskalten Cuba Libre. Am Ende des Tages steht ein perfekt verbrachter Tag auf der Rechnung und bevor mir jemand Stubenhockerei vorwirft: ich gehe doch nicht raus und treffe Menschen, "jetzt bleibense mal ernst." (Helmut "Pizza Mampf" Markwort).

"Seeds" ist die bestmögliche Platte für einen solchen Tag. Dafür sorgt zum einen das unnachahmliche Beatgestrüpp der Hip Hop-Tausendsassa Otis Jackson, Jr., besser bekannt unter einem seiner unzähligen Pseudonyme Madlib, ein durchgedrehter Vollfreak, der nicht nur gefühlt 187 Instrumente beherrscht und im Jahr mal eben bis zu zehn Platten veröffentlicht, darunter auch Jazz- und Fusionwerke, zu denen er sich fiktive Namen von gleichfalls fiktiven Mitmusikern ausdenkt. Nur, damit wir uns ansatzweise verstehen, was das für ein Typ ist. Für "Seeds" hat er einen oldschooliges Soul & Funk Gebräu zusammengerührt, das Muldrow, besonders in Verbindung mit ihren spirituellen, gesellschaftsbeobachtenden und -aufrüttelnden Texten, zu einer legitimen Nachfolgerin einer Nina Simone macht. In einer Beschreibung zu "Seeds" gab es mal die Bezeichnung "Underground R'n'B" zu lesen und tatsächlich: dieses deepe, aufrichtige Album könnte von den austauschbaren, auf Hochglanz polierten, aufgepumpten und "here today, gone tomorrow"-Produktionen aus den US-amerikanischen Majorstudios nicht weiter entfernt sein. Hier liegen keine Welten dazwischen, es sind Universen.

Dabei ist Muldrow ähnlich wie Madlib eine Verrückte: die Anzahl ihrer Produktionen, sei es in Funktion als Produzentin, Sängerin, Beatbastlerin oder Texterin ist trotz ihres Alters von gerade mal 29 Jahren bereits Legion und es ist beinahe unmöglich, alles von ihr zu kennen. Trotzdem ist "Seeds" das stimmigste, ernsthafteste und schlicht coolste Album, das ich von ihr kenne. Ich werde die Sommermonate 2012, die ich mit dieser Platte verbrachte, nicht vergessen.

Und der Titeltrack ist schon heute ein Klassiker.

Erschienen auf Someothaship, 2012.

21.01.2013

2012 ° Platz 12 ° Portraits - Portraits



PORTRAITS - PORTRAITS

Die spirituellste und meditativste Platte des Jahres kommt von einem US-amerikanischen Musikerkollektiv, einer All-Star Band der Rauschmusik: das neunköpfige Ensemble, unter anderem besetzt mit den beiden Barn Owl Musikern Caminiti und Porras, beinahe dem kompletten Lineup der Postrocklegende Tarentel, dem Root Strata Management, Higuma und Date Palms, entwickelt in großer Intimität eine erhabene, stimmungsvolle Musik aus einem Ziehen und Dehnen von Ton und Zeit. Versunken in die Aufgabe, jeden Geisteswinkel mit musikalischer Lava zu verkleiden, walzt sich ein Strom aus Tambourinen, Gitarren, Violinen, Klarinetten, Klangschalen, sakralen Mantras und Gongs in das kollektive Gedächtnis früherer Leben.

"Portraits", mit dem Nukleus aus Instrospektion und innerer Einkehr, erdet in zerrissenen Zeiten, klärt die getrübten Sinne und erinnert daran, dass im Draußen nichts zu holen ist, wenn das Innere Ich im Auge des tosenden Sturms nichts fühlen kann. "Portraits" lässt das Selbst das Leben spüren.

Erschienen auf Important Records, 2012.

19.01.2013

2012 ° Platz 13 ° Flying Lotus - Until The Quiet Comes



FLYING LOTUS - UNTIL THE QUIET COMES

In meiner ersten Review des aktuellen FlyLo-Fiebertraums vermutete ich, dass ich "Until The Quiet Comes" noch lange nicht verstanden habe, zusammen mit der Befürchtung, dass es unklar sei, ob mir es jemals gelänge. Außerdem habe ich ob ihrer grausamen Besprechung der Platte noch die Spex gedisst, und das völlig zurecht, wie ich nochmal betonen möchte. Ich kann allerdings auch zwei Monate später nicht sagen, dass ich einen Durchbruch hatte, nicht mal einen Blinddarm- oder Magendurchbruch, aber ich kam ein gutes Stück weiter voran. Vor wenigen Wochen dachte ich sogar mal für dreieinhalb Minuten, ich hätte das Rätsel geknackt. Bis halt der nächste Beat um die Ecke kam, und dann war's auch schon wieder "perdu" (G.Polt). Wenigstens halfen die dreieinhalb Minuten dabei, "Until The Quiet Comes" in die Top 20 des Jahres zu hieven.

Flying Lotus mag mittlerweile dunkler und intimer vorgehen, er mag seine Sounds auf die massivste Großbildleinwand des Universums ausrollen, er mag die Larger-Than-Life-Schablone hinter jeder ausgebrüteten Idee zusammenschnippeln, aber ich kenne keine andere Platte aus den letzten Jahren, die einen solchen Overkill an Winkeln, Ebenen, Dimensionen,  Reichtum und sprühenden Funken präsentiert wie dieses Mammutwerk. Es ist ein Mikrokosmos im Mikrokosmos im Mikrokosmos im Mikrokosmos: jede Andeutung eines Beats ist mit dem Elektronenmiskroskop ausgewählt und strategisch platziert, jedes Zischelsample bekam den Schulterklopfer, das wichtigste Zischelsample der Welt zu sein, jeder Handklatschloop ist die Schallmauer auf dem Weg zum nächsten Level, jedes Thundercat-Bassschnarren öffnet ganze Galaxien zum nächsten Mikrokosmos. Es sind komplett lebensfähige, hochkomplexe Welten, die nur wenige Augenblicke, manchmal keine volle Sekunde, am Leben sind. Sie funkeln im Zyklus des Albums kurz auf und verglühen wieder. Du wirst keine Zufälle in der Musik von Flying Lotus finden. Selbst die Stille ist Schicksal.

Erschienen auf Warp Records, 2012.

17.01.2013

2012 ° Platz 14 ° Plankton Wat - Spirits



PLANKTON WAT - SPIRITS


Dewey Mahoods Meditationsmusik über den Pazifischen Nordwesten der USA bleibt auch am Jahresende eine der beeindruckendsten Platten 2012. Der Gitarrist (u.a. Jackie-O Motherfucker) zwirbelt schamanische Trommelrhythmen wie Seetang um Treibholz, peitscht die mal folkige, mal noisige Gitarre wie Gischt ins unrasierte Gesicht und bläst auf der Friedenspfeife den tiefsten, grummeligen Bass der Welt in das Glutnest des Lagerfeuers.

Es mag sich wirklich balla-balla anhören, aber ich sitze über die gesamte Spielzeit an der steinigen Küste Oregons und habe den nach Salz und Herbst schmeckenden Wind im Haar. Neben mir sitzt der Geist Alice Coltranes, vier Meter über dem Erdboden schwebend. Der nächste Mensch ist meilenweit entfernt. Keine Zivilisation. Alles was ich habe sind meine Gedanken, die Reflektion des Ichs und die schaurig-schöne Illusion, dass ich wieder ein Stückchen mehr zu mir selbst gefunden habe.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2012.

12.01.2013

2012 ° Platz 15 ° Evan Caminiti - Night Dust



EVAN CAMINITI - NIGHT DUST

Ginge es hier um die Bewertung von Artworks, "Night Dust" fände sich locker in den Top 3 des Jahres wieder. Das aufklappbare Cover aus dickem Karton ist an Schönheit kaum zu übertreffen, und die Musik von der einen Hälfte des Barn Owl Duos steht dem in nichts nach. Als ich 2012 in Gedanken Revue passieren ließ, fiel mir auf, dass ich (i) viel unterschiedliche Musik viel mehr den unterschiedlichen Lebensphasen anpasste als früher und (ii) vor allem in den Zeiten, in denen ich fast nichts anderes hören konnte als ätherisches Rauschen und Dröhnen, von der Bildhaftigkeit so macher Platte und der Fokussierung derselben auf die Natur sehr beeindruckt war. 

"Night Dust" ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, denn was Caminiti hier erbaut, ist so räumlich und greifbar, als könnten die Finger den Klang ertasten. "Night Dust" ist ein Kaleidoskop granularer Natur, perfekt in der Detailtiefe, perfekt in blanker Schönheit, inklusive Überlebenswille und Demut. Geometrische Figuren der Freiheit, des tosenden Winds, des um sich schlagendes Meeres, der aufbegehrenden Flügelschläge eines Kondors vor der rauhen Küste Schottlands. Es gibt keine Kondore vor der Küste Schottlands, aber wenn Du "Night Dust" gehört hast, gründest Du eine Organisation, die sich für den Erhalt von Kondoren vor der Küste Schottlands einsetzt.

Erschienen auf Immune, 2012.


Anmerkung des Autors: schlimmen der beinhaltete einen Satzbau ursprüngliche ganz Text. Ich bitten aufrichtigst um Entschuldigungs, wenn wir Lesevergnügen dadurch Schädeln nehmte. 

09.01.2013

2012 ° Platz 16 ° Minus The Bear - Infinity Overhead



MINUS THE BEAR - INFINITY OVERHEAD

Beim Betrachten der reinen Platzierung könnte man durchaus der Meinung sein, das Quartett aus Seattle habe mit "Infinity Overhead" einen bösen Absturz hinnehmen müssen. Vor zwei Jahren landete der Vorgänger "Omni" noch auf Platz 4 meiner Jahrescharts, und das sogar vor dem Hintergrund einer schwierigen Ausgangssituation - von "Omni" wollte ich nämlich zunächst mal gar nichts wissen, ich war mit "Menos El Oso" und "Highly Refined Pirates" bestens bedient und ausgelastet. Vielleicht machte auch die böse Erwartungshaltung einen Strich durch die 2012er Rechnung, denn nach dem immer noch fantastischen "Omni" hatte ich wieder brodelnde Leidenschaft für die Band in der Unterhose und hoffte, dass mich "Infinity Overhead" mindestens ebenso wuschig machen konnte. Um das Trauerspiel mit viel zu langen Einleitungen abzukürzen: "Infinity Overhead" macht mich tatsächlich ziemlich wuschig, aber der Schlüpper hat sich mittlerweile eine Klimaanlage geleistet und reguliert meine eben noch glühende Euphorie auf das grundsolide Niveau der Checker-Abgeklärtheit herunter. Ach, und dann ist's auch wieder Quatsch: "Infinity Overhead" ist eine großartige Platte mit großartigen Songs und fast noch großartigeren Hooklines geworden. Die Band spielt nachwievor in ihrer ganz eigenen Liga, und ich habe angesichts von Übersongs wie "Diamond Lightning", "Cold Company", "Toska" oder "Heaven Is A Ghost Town" den Herbst weitgehend knieend vor den Lautsprechern verbracht. Was mich einzig noch irritiert: auch wenn Minus The Bear das auf "Omni" begonnene Ausmisten von überflüssigen Spielereien noch weiter getrieben haben, die Strukturen sind noch klarer, die Arrangements noch straffer, wurden weder Eingängigkeit noch Hit-Appeal hinzugewonnen. Das denkt zumindest der Kopf. Der Fuß wippt und das "Herz weitet sich zu einem saftigen Steak"(H.Schneider). Fuß und Herz gewinnen.

Erschienen auf Dangerbird Records, 2012.