05.09.2021

All On The Black




LEYA - WATCH YOU DON'T TAKE OFF

Liebe LeserInnen,

Während ich im Fiebertraum an etwas arbeite, das irgendwann mal die intellektuelle Verdunkelung dieses Blogs mit dem großen "Bad Religion Album-Ranking" fortführen wird, ich muss ja die zweite Jahreshälfte irgendwie rumbringen, beziehungsweise ihr entgegendämmern, gibt es nach dem geborgenen Interview mit The Sea And Cake noch eine weitere Resteverwertung aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben. 

Als Schreibknecht beim Hamburger Tinnitus-Mag zur Mitte der nuller Jahre war ich angehalten, jeder Plattenbesprechung eine Punktzahl anzuhängen und also jede Platte auf einer Skala von 1 (Atommüll-Endlager) bis 10 (Bundespressekonferenz auf Acid) zu bewerten. Aus der etwas diesigen Erinnerung heraus lag mein Notendurchnitt sicherlich deutlich unter sechs Punkten - ich bekam wirklich erschütternd viel Schrott und noch mehr Middle-Of-The-Road-Gerocke zugeschickt; letzteres empfand ich oft als mindestens genauso ärgerlich wie den klar erkennbaren Bodensatz, weil es sich in jenen Fällen irgendwie verbat, emotional einigermaßen aufgewühlt und mit sprachlicher Finesse das eigene Ego zu befriedigen, sich also vermeintlich lustige Analogien und Metaphern einfallen zu lassen. Egale Musik war eben schon immer egal, und ein triviales Schulterzucken macht selbst der beste Comedian der Welt nicht zur guten Unterhaltung. Einen Verriss zu schreiben kann dagegen ein großer Spaß sein, und weil Spaß wirklich die überbewerteste Kernscheiße der Welt ist - guckt euch domma um, in welchem Autounfall wir hier leben, Ihr Assos! - und ich sowieso seit Anbeginn dieses Blogs stets darauf hinwies, gibt's auf Dreikommaviernull auch keine ebenjenen zu lesen. Weder Spaß noch Verriss. If you wanna see juggling, go watch clowns.

Mit Noten von 8/10 oder gar höher, tat ich mir gleichfalls immer schwer. Platten, die damals acht Punkte von mir bekamen, hätten von einem anderen, möglicherweise sagen wir mal: etwas unkritischeren Geist sicher eine 14/10 eingefahren, und um diesen Schwachsinn von Schwachsinnigen etwas auszubalancieren, war ich in der Redaktion als notorischer Tiefwerter bekannt. Ich glaube, ich vergab in den zwei Jahren meiner Mitarbeit an maximal zwei Platten eine 9. 10 Punkte waren eigentlich komplett undenkbar. 

Bis zu dem Tag, an dem ich tief durchatmete und eine 10 vergab. 

Wenn sich heutzutage wirklich noch irgendjemand außer mir dafür interessieren würde und mich also fragte, wie es denn 15 Jahre später damit aussieht und ob ich die zehn Punkte für "Watch You Don't Take Off" auch heute noch verteilen würde, dann müsste ich die Frage verneinen. I have moved on - und eigentlich war ich bereits im Sommer 2006 weitergezogen. Und trotz meiner natürlichen, und ich kann es nicht diplomatischer formulieren, "Skepsis" gegenüber dieser Spielart des im Pathos geradewegs abgesoffenen Indierocks, dem man zu allem Überfluss sowohl seine geografische Heimat als auch die Epoche anhört, in der er entstand, verstehe ich den Typen aus dem Jahr 2006 auch heute noch ganz gut und weiß, warum die Vergabe von zehn Punkte damals unausweichlich erschien. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft gerade der Abschlusstrack "All On The Black" und ich bekomme immer noch eine kilometerdicke Gänsehaut. Ich kann mich gegen sowas einfach nicht wehren, das drückt einfach alle, alle, alle Knöpfe. Auch im Jahr 2021: Der blanke Wahnsinn. Wo hat diese Band das bloß hergeholt?

Bleibt mir zum Abschluss noch festzuhalten: entgegen aller völlig logischen Erwartungen, halfen die zehn Punkte von einem kleinen idiotischen Kartoffeldeutschen der Band nicht dabei, den winzigen und wahrscheinlich von einer abgewichsten Promoagentur herbeihalluzinierten "Hype" zu bestätigen. "Watch You Don't Take Off" sollte das einzige Lebenszeichen von Leya bleiben, die Band löste sich wenig später sehr sang- und klanglos auf. Leider erschien das Album nie auf Vinyl und die Chancen stehen denkbar schlecht, dass sich das nochmal ändert, denn viel tiefer untergehen kann eine Platte nicht. Wirklich nicht. Der daraus resultierende Vorteil ist indes, dass die längst gestrichene CD mittlerweile für unverschämt kleines Geld im Internet zu beziehen ist. 

Ich habe für diesen Beitrag meinen Rezensionstext von damals ausgegraben. Vielleicht versüßt die Platte jemandem die wahrlich abgefuckteste aller Zeiten.

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Leya - Watch You Don't Take Off


Wasserwirbel. Herzensbrecher. Windgeflüster. Ein Album wie aus einer anderen Welt.

Leya sind eine langsam, aber stetig gewachsene Band. Von kleinen, privaten und lokalen Gigs zum Anfang ihrer Karriere im Jahr 2001, über gewonnene Bandwettbewerbe, Support-Slots für Damien Rice und Interpol bis hin zu einem weltweiten Management-Deal und einem Plattenvertrag in 2006 hat sich ihre Karriere stets nach vorne bewegt. In ihrem Heimatland Nordirland gelten Leya als DIE Hoffnung des Jahres und "Watch You Don't Take Off" ist das Album, das Herzen brechen wird. Das Tränen fließen lassen wird. Das den Boden unter den Füßen wegzieht. 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich dieser Platte zunächst nicht die volle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Der Veröffentlichungstermin stand erst in ein paar Wochen auf dem Plan, ich sollte also noch genug Zeit haben mich mit "Watch You Don't Take Off" zu beschäftigen. Dennoch legte ich sie fast instinktiv immer wieder auf, allerdings ohne größere Auswirkungen. Ich sprang weder im Dreieck, noch aus dem Fenster; es schien, als sei das eine "ganz nette Platte" einer "ganz netten Band" mit einer "ganz netten Mischung" aus britischem Gitarrenrock und epischem, ausuferndem  Bombast. Bis zu jenem Moment, als ich während eines weiteren Durchlaufs plötzlich hellhörig wurde. Ach, was schreib' ich da...die Sicherungen sind mir durchgeknallt! Plötzlich fand ich mich mit Textblatt in der Hand vor der enthemmt aufgedrehten Anlage wieder und bekam den Mund nicht mehr zu. "Was machen die denn da? Hallo...? Verdammt, was machen die denn da???"

Das sanfte Piano, das eben noch an der Ecke lehnte und traurig in die Nacht hinein spielte, bäumt sich plötzlich auf. Aus dem Innern schwingen sich immer lauter und immer größer werdende Gitarren empor. Die Violinen breiten ihre überdimensionalen Flügel aus. Das Grollen des Himmels verschlingt das weite Land. Alles ist Eins. Schicht um Schicht legen die vier Musiker immer neue Farben und Gebilde übereinander. Wie ein Maler, der vor seiner großen Leinwand steht und jeden Pinselstrich genießt, der mit jeder Handbewegung, mit jedem Geistesblitz sich selbst und seine Kunst neu erfindet. Ein abgeschlossenes System, das dennoch so offen und frei ist, dass jede minimale Veränderung Auswirkungen nach sich zieht. 

Der Kern aber bleibt. Felsenfest. 

Das Lied, auf das sich diese Beschreibung bezieht heißt "Again" und ist eines von zwei totalen Unglaublichkeiten in einem Meer voller Unglaublichkeiten. "Who are we, where do we come from?" fragt Sänger Ciaran Gribbin und wir können ihn nur ungläubig anstarren und versuchen die warmen Schauer, die er uns damit über den Rücken jagt irgendwie zu kontrollieren. Ha, wir Narren! Hier gibt es nichts zu kontrollieren. Wer etwas anderes versucht, als sich treiben zu lassen geht im Wahnsinn unter.

Sie nahmen mich gefangen. Spielend leicht. Ihre Songs sind wie Raketen, die sich in den Himmel hineinschrauben, ohne jemals zu verglühen. So leicht und schwerelos wie eine Feder, die in einer sanften Brise herumtänzelt und nie den Boden berührt. Ihr Sänger Ciaran Gribbin, ein Künstler, der es mit Leichtigkeit vermag die perfekten Worte, Silben und Melodien an die perfekten Stellen zu platzieren. Der mit einer der grandiosesten und ausdrucksstärksten Stimmen gesegnet ist, die in den letzten zwanzig Jahren Musik veredeln durfte. Seine Hinterleute mit untrüglichem Gespür für den richtigen Anschlag, die richtige Geste. Das Laut/Leise Prinzip in Vollendung. Diese Songs strahlen so viel Herzenswärme, so viel Gefühl und so viel Leidenschaft aus, man weiß gar nicht mehr wohin damit. Dabei hochmelodisch, aber bitte nicht kitschig. Diese Lieder stehen weit über dem Kitsch.

"All On The Black", der letzte der elf Songs auf "Watch You Don't Take Off" und gleichzeitig die zweite totale Unglaublichkeit in einem Meer voller Unglaublichkeiten (siehe oben), setzt den Schlusspunkt und beschließt damit ein geradezu beängstigend rundes, stimmiges und - man traut es sich ja fast kaum zu sagen: perfektes Album. "Some days are right, some days are anything but right. Some days we'll fight, some days are anything". Gribbin holt zum letzten Mal Luft. Legt zum letzten Mal all seine Emotionen in diese Wörter. Und lässt uns zurück. In einer anderen Welt.

10/10


 


Erschienen auf Rubyworks, 2006.

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