29.01.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 5: Bad Religion - The Gray Race




BAD RELIGION - THE GRAY RACE


Ich kenne all das Gerede. Der mit dem Vorgänger "Stranger Than Fiction" begonnene Majorlabel-Ausverkauf geht mit "The Gray Race" in die zweite Runde, noch mehr Kommerz, noch mehr Bigotterie, und von wem jetzt eigentlich GENAU weiß ja kein Mensch, noch mehr Pop. Dazu: alles zu langsam, alles zu gewöhnlich, alles zu melodisch. UND ALLES NUR WEGEN DEM SCHEISS GELD! DAS GELD, DAS GELD, DAS GELD! DIESE SCHWEINE! 

Bevor nun der kleine Schlaganfall an die Tür klopft, ich kann den Schwachsinn einfach nicht mehr hören, wechseln wir schnell das Thema: "The Gray Race" war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre so manches Mal ein Lebensretter. Es ist vielleicht das melancholischste Werk Bad Religions - und ich war melancholisch im Winter/Frühjahr 1996. Keine Dramaqueen, ich trug das nicht unbedingt ins Außen - aber die innere Ziellosigkeit, das Gefühl alleine zu sein und nirgends so richtig dazuzugehören, dieses graue Grundrauschen, die Angst vor schulischem Versagen und die sich daraus entwickelnde Enttäuschung trafen zeitgleich auf Musik und Texte, die sich selbst ein paar Jahre nach Grunge und Alternative Rock-Hype und im Weichzeichner der neunziger Jahre noch immer nach dem Aufbruch in eine neue Ära anfühlten. Es gab tatsächlich Euphorie in all dem Gefühlschaos eines viel zu spät pubertierenden Idioten aus Frankfurt. Und Bad Religion waren Identifikationsfiguren; ihre Musik half mir bei der Selbstfindung und der Orientierung, ihre Texte weckten den intellektuellen Geist, das Interesse am Politischen, die Lust am Philosophischen, die Begeisterung, Zusammenhänge zu erkennen und einzuordnen. Sie halfen mir dabei, mich selbst und die Welt um mich herum zu verstehen. 

Natürlich lässt es sich nicht leugnen, dass die Musik auf "The Gray Race" im Gesamtbild nochmal ein paar Ecken und Kanten verloren hat. Das liegt in erster Linie an einer sensationell ausgewogenen Produktion, die es darüber hinaus aber gleichfalls schafft, die Songs in gräulich schimmernder Melancholie einzukapseln. Greg Graffins leicht abgedunkelt wirkende und angeraute Stimme klang noch nie so gut wie hier, und seine Texte wie in "Parallel" (auch musikalisch eines der herausragenden Stücke ihrer Diskografie, fight me!), die einerseits vom bevorstehenden Untergang, andererseits von Gemeinschaft und Verbindung erzählten, prägen mich bis heute. Wie sollten sie auch nicht - die Themen sind heute aktueller denn je. 

Was ich aber eigentlich sagen wollte: wenn es eine Band schafft, derart makellose, zu gleichen Teilen mitreißende wie nachdenkliche Songs zu schreiben, können sie es meinethalben bis zur totalen Durchsichtigkeit polieren. Diese Songs sind unkaputtbar.


   



Erschienen auf Sony Music, 1996.

22.01.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 6: Bad Religion - Against The Grain




BAD RELIGION - AGAINST THE GRAIN


Es schmerzt, eine Platte wie "Against The Grain" auf Platz sechs zu verheizen. Wie "Suffer", "No Control" und "Generator" gehört sie zu jener Riege der frühen Bad Religion-Platten, die mein Denken und mein Leben maßgeblich beeinflussten und veränderten - und sowas sortiert man ja normalerweise eher aufs Treppchen. Und, klar: Ich schreibe das ab jetzt für jedes der (noch) folgenden Alben, keine Bange. Das wird die Hookline. Bis zum Erbrechen wiederholt. Top Of The Pops.

"Against The Grain" war, wie bereits in der Einleitung zu dem ganzen Quatsch ausgeführt, meine allererste Begegnung mit Bad Religion, und noch bevor ich auch nur einen Ton ihrer Musik hörte, war ich fasziniert von diesem Albumcover. Kein Bandname, kein Titel, ich raffte null - aber es hatte dadurch einen mysteriösen Indie/Underground-Vibe, der mich anzog. Und als dann später die Songs es sich in meiner DNA gemütlich machten, war das Paket komplett: Hits, Hits, Hits. Ich kann mich daran erinnern, "Operation Rescue" so oft gehört zu haben, bis es mir eines Tages tatsächlich zum Hals heraus hing - nur um wenige Wochen später den CD-Player erneut auf "Repeat: Song" einzustellen.

Herausragend natürlich der überfallartige Opener "Modern Man", das geniale "Anasthesia" und das vielleicht populärste Stück ihrer ganzen Karriere "21st Century Digital Boy" - aber es gibt wie auf beinahe jeder Platte von Bad Religion auch heimliche Favoriten, die es nie zu ganz großem Ruhm brachten. Auf "Against The Grain" gehört für mich der ungewöhnlich arrangierte Titelsong dazu, der zunächst mit fast militärischem Stakkatoriffing und eingängiger Gitarrenmelodie im Dickicht lauert, bevor die Band in der letzten halben Minute das Riff lockert und damit diesen unnachahmlichen Drive entwickelt. 

Textlich ist "Against The Grain" möglicherweise das ganzheitlichste Bad Religion-Album, das die Ambivalenz zwischen eigener Verantwortung, Lethargie, und dem Zustand der Welt am deutlichsten herausarbeitet und sie letzten Endes mit dem Wesen des Kapitalismus erklärt. Eine Gesellschaft, die Veränderungen fürchtet, obwohl das kollektive Bewusstsein längst die Notwendigkeit eines Wechsels anerkennt, gefangen im Netz aus Indoktrination, ritualisierten Zwangsneurosen, freiwilliger Aufgabe der Selbstbestimmung, Religion und Kapital. Ahnungslos, ignorant und gepeinigt von grandioser  Selbstüberschätzung. Das geht vermutlich uns allen so, für ein Volk jedoch, das sich selbst unentwegt zu einem Teil des "greatest country on earth" hochjazzt, ganz besonders.    

Ich weiß nicht, ob Graffin und Gurewitz auch dreißig Jahre später noch ein ähnlich düsteres Bild vom kommenden Untergang der menschlichen Rasse zeichnen würden. Es hat sich freilich viel verändert, und gar nicht so wenig durchaus zum Positiven. Aber die Wurzel unseres Seins scheint mir immer noch der alte, stinkende, herummodernde Misthaufen zu sein, der unter der Oberfläche fröhlich vor sich hin dampft.       


 


Erschienen auf Epitaph, 1990.

16.01.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 7: Bad Religion - Suffer



BAD RELIGION - SUFFER

Ab hier wird's kriminell. Die folgenden sieben Platten könnte ich im Prinzip auswürfeln und wäre trotzdem mit jeder Reihenfolge d'accord. Jedes Album könnte an manchen (lies: allen) Tagen auf Platz 1 stehen und keines hätte Platz sieben verdient.

Aber sowas kommt eben von sowas: in einer insomniaverseuchten Nacht eine fixe Idee haben, weil plötzlich selbst die ehemals eher als semigeil abgespeicherten Bad Religion-Alben eine ungemeine Attraktivität ausstrahlten und also ungefragt rehabilitiert werden müssen oder so ein Vollquatsch, anschließend vollmundig an seine per Hand ab- und durchgezählten acht Leser und das ganze verdammte Internet verkünden, man werde sich nun in den kommenden Wochen (lol, dass ich immer noch diesen völlig unbegründeten Optimismus mit mir herumtrage, ist DER KNALLER IN TÜTEN! *bumm*) gemeinsam durch die Diskografie Bad Religions kämpfen wollen (lies: müssen), und spätestens bei den ersten/letzten/besten sieben Alben merken, welch totale Scheißidee das war. 

Jetzt sitze ich hier seit Tagen und versuche, eine Reihenfolge für strenggenommen sieben 10/10-Klassiker zu stricken. Total bescheuert. I mean - how the fuck am I supposed to do that? 

Und nicht nur das, es "kommt" ja noch "dicker": wer will denn ernsthaft noch die bazillionste Lobeshymne über "Suffer" oder "Against the Grain" lesen? Ich hatte über die letzten 14 Jahre stets versucht, die ganz offensichtlichen "Everybody's Darlings" von diesem Blog fernzuhalten und jetzt muss ich mich hier echt mit diesem Mumpitz auseinandersetzen? Ich könnt's ja auf die Pandemie schieben oder auf den Dreiklang "Selbsthass, Depression und Langeweile" (Schmidt), das passt immer. Aber dann sitze ich immer noch hier. Und ihr auch. 

Also, sei's drum - "Suffer" hat's nun also getroffen und darf den "undankbaren" (Waldi Hartmann) siebten Platz einheimsen. Ich weiß selbst nicht warum, ich liebe die Platte. Ich habe über volle zwei Jahre niemals das Haus verlassen und und mich auf den Weg zur Schule gemacht, ohne "Suffer" im Walkman gehabt zu haben. Jeden Morgen begrüßte mich Greg Graffin mit "You Are The Government", während ich zur Bushaltestelle lief und mich auf einen weiteren Tag mit mobbenden Vollidioten vorbereitete - und darüber hinaus die Auseinandersetzung mit der eigenen Doofheit verarbeiten musste (Benson & Hedges, Baileys auf Eis, Grave Digger). "Suffer" sagte mir täglich "Du bist zwar doof, aber es gibt Hoffnung!". Das motiviert zwar nicht, aber es spendet Trost. 

Ich machte das Beste daraus, und Bad Religion gaben mir ihr Bestes:

Hey, I don't know if the billions will survive
But I'll believe in God when one and one are five
My moniker is man and I'm rotten to the core
I'll tear down the building just to pass through the door

Schalten Sie auch das nächste Mal wieder ein, wenn es heißt: Oppa erzählt vom Kriech. Bis dahin: viel Glück und gute Besserung.

 



Erschienen auf Epitaph, 1988.

07.01.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 8: Bad Religion - The Empire Strikes First




BAD RELIGION - THE EMPIRE STRIKES FIRST

Mit "The Empire Strikes First" erreichen wir nun den endgültigen Wendepunkt der Diskografie und machen es uns auf der Sonnenseite des Leben als Fan von Bad Religion gemütlich - und ich hätte im Jahr 2004, zumal nach den Bruchlandungen mit "No Substance" und "The New America" im Leben nicht mehr daran geglaubt, ein neues Bad Religion Album mit derartiger Begeisterung zu umarmen.

Manchmal traute ich sogar meinem eigenen Urteil nicht mehr. Warum ausgerechnet diese Platte? In den letzten 25 Jahren hat mich keines ihrer anderen Werke derart gepackt, nicht mal annährend. Liegt's an meinen damaligen Lebensumständen, daran, wie ich sie mir mit einem klitzekleinen Sozialhilfe-Budget erarbeiten und ersparen musste? Liegt es an meinem zu jener Zeit auf dem Höhepunkt angekommenen Zorn gegenüber der imperialistischen US-Amerikanischen Politik unter der Führung des Kriegsverbrechers Dabbelju, der auf "The Empire Strikes First" praktisch mit jedem Songtext vermöbelt wird - und fühlte ich mich deswegen so gut verstanden? Waren die Texte von "Let Them Eat War" oder dem Titeltrack meine Stimme im vermeintlich gerechten Kampf gegen Krieg, Korruption, Religion und Kapitalismus? Und ich frage Sie: warum landet einer, der seit 1998 jeden halbsteif aufgenommenen Superschnarcher dieser Band mit manchmal weit über das Ziel hinausschießender Verve gegen die nächstbeste Wand klatschen möchte, plötzlich mit all den Superschnarchern - und dazu auch noch oft scheißlangen Superschnarchern - auf "The Empire Strikes First" im Bett, nackt, geil, eingerieben in Hamsterfutter und zu allem bereit? 

Immer wieder versuchte ich, all das zu verstehen. Immer wieder musste ich mich fragen, ob ich nicht vielleicht doch falsch lag. Dann lege ich das Album auf und vierzig Minuten später war jedes Mal aufs Neue klar: ich liege immer noch goldrichtig. "The Empire Strikes First" lebt in erster Linie von einem durchgängig hochklassigen Songwriting, das die typischen, oft melancholischen Melodien Greg Graffins mit ihrem klassischen und bis dato verloren geglaubten Drive amalgamiert. So sind sogar die gebremsten Schunkelhits wie "Beyond Electric Dreams" und besonders "Boot Stamping On A Human Face Forever" von der ersten bis zur letzten Sekunde fesselnd und packend. "God's Love" ist sowohl textlich auch musikalisch mit Leichtigkeit einer meiner absoluten Bad Religion-Lieblingssongs aus den letzten 25 Jahren. Der Sound, wenngleich vor allem im Vergleich mit ihrem Frühwerk bereits unangenehm komprimiert, ist noch nicht derart angedickt wie auf eigentlich allen Nachfolgern und hat immerhin noch einen Lufthauch von Transparenz. 

Für mich ist "The Empire Strikes First" das beste Bad Religion-Album seit dem Erscheinen von "The Gray Race". Angesichts ihrer aktuellen Form täterääät's mich nicht wundern, wenn das wenigstens mittelfristig auch so bleibt.


   


Erschienen auf Epitaph, 2004.

02.01.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 9: Bad Religion - True North



BAD RELIGION - TRUE NORTH

Bad Religion hatten mich bis zum Jahr 2013 schon derart zermürbt, dass ich ein neues Album nur noch mit einem angedeuteten Schulterzucken quittierte. Wahrscheinlich hörte ich mir den vorab ausgekoppelten Titeltrack nur mit einem Ohr an, verdrehte die Augen und hielt darüber hinaus vor allem eines: Abstand. Aber the pandemic made me do it: ICH HÖR MIR JETZT SELBST DIE SCHEISSPLATTEN AN, IHR FICKER! 

Und dann wurden aus den vermeintlichen Scheißplatten welche, die ich überraschenderweise immer wieder hören wollte. "True North" wurde im ersten Halbjahr 2021 zum Soundtrack der täglichen Spielrunde mit Hund Fabbi, und ganz offenbar fanden wir beide Gefallen an dem Album - und ich muss nur ein ganz kleines bisschen die Einschränkung offenbaren, dass Fabbi mit seinen 17 Jahren im Grunde mittlerweile stocktaub ist. 



Ich kann nicht sagen, dass die Band auf "True North" durchgängig ein glückliches Händchen hatte, vor allem melodisch operiert die Truppe ein wenig zu oft unter ihren früheren Qualitätsstandards. Aber das zumindest in Teilen wiederentdeckte Gespür für ihren alten Drive, der zu gleichen Teilen mühelos wie unerbittlich wirken kann, und der einfach zu dieser Band gehört wie eine zünftige Vergiftung mit süßem Senf zu einem Oktoberfestzelt, macht "True North" in der Rückschau zu einem sehr kurzweiligen und sehr vergnüglichen Bad Religion Album. 

Immerhin das erste seit "The Empire Strikes First" aus dem Jahr 2004, auf dem ich praktisch keinen Totalausfall, dafür aber eine Handvoll wirklich toller Songs finden kann: der Titeltrack gehört zum Besten, was die Band seit ihrer Glanzzeit bis zur Mitte der 1990er Jahre geschrieben hat, "Fuck You" ist mittlerweile ein Klassiker und immer wiederkehrender Bestandteil des Livesets, "Nothing To Dismay" und die Selbstzitatesammlung "The Island" sind herausragendes Bad Religion-Material. Selbst das reichlich albern wirkende "Dharma And The Bomb" ist cool. 

Hätte ich im Prinzip auch schon vor acht Jahren herausfinden können. Manchmal bin ich einfach doof.

   

Erschienen auf Epitaph, 2013.

26.12.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 10: Bad Religion - The Process Of Belief




BAD RELIGION - THE PROCESS OF BELIEF


"The Process Of Belief" hatte praktisch ab der ersten Sekunde einen schweren Stand. Zum einen spukten "The New America" und vor allem "No Substance" noch ausgesprochen unangenehm im Frontallappen herum und reiherten auf sämtliche meiner blank liegenden Nervenenden, zum anderen befand sich Herr Dreikommaviernull, und das muss man so deutlich sagen, beim Release des Albums im Januar 2002 eigentlich schon auf dem direkten Weg ins Jenseits. Seit einem halben Jahr schluckte ich jeden Tag die Maximaldosis Diclofenac wegen unerklärlicher Rückenschmerzen, schlief kaum noch und wurde zusehends kraftloser und vor allem blasser. Um mich herum wurde das Leben immer trostloser. Es war dunkel im Winter 2002. Zwei Monate später wurde ich mit einem Hämoglobinwert von 3 ins Krankenhaus eingeliefert. Der Krebs war zurück - und die Musik verstummte. Ich ertrug in dieser Zeit praktisch nichts, was auch nur einen kleinen Pieps machte, und die Aussicht, vermeintlich halbsteifen Punkrock aus dem sommerlichen Los Angeles zu hören war aus mehreren Gründen unvorstellbar. 

Jedes Hören von "The Process Of Belief" legt auch zwanzig Jahre später noch den bleischweren Mantel jener Zeit über meine Schultern und zaubert kleine und überaus eklige Erinnerungsblitze aus dem Unterbewusstsein in die Gegenwart. Das Licht im damaligen Haus im Niemandsland zwischen Wiesbaden und Limburg. Der Geruch im Krankenhaus. Selbst dieses halbtote, blutleere Gefühl meines auf dem absolut letzten Rest Notstromenergie dahindämmernden Körpers fährt mir manchmal zurück in die Glieder. Es. Ist. Nicht. Schön. 

Das Album komplett losgelöst von meiner damaligen Existenz zu bewerten, erscheint unmöglich. Ich hielt in den letzten zwanzig Jahren allerdings auch (wenig überraschend) einen gewissen Sicherheitsabstand zu "The Process Of Belief" ein und hatte es in der Diskografie im letzten Drittel einsortiert, wohlwissend, dass viele eingefleischte Fans zum einen die Rückkehr des verlorenen Sohns Mr.Brett, zum anderen die im Vergleich zu "The New America" wiedergefundene Schärfe und Geschwindigkeit feierten. Tatsächlich klingen Bad Religion hier wieder deutlich mehr nach ihrer pre-"No Substance"-Phase: das rasante Einstiegstriple ist sofort ein dickes, mit 300bpm gekritzeltes Entschuldigungsschreiben und auch im weiteren Verlauf war der Fünfer wieder deutlich mehr von der Muße geküsst als zuletzt: "Kyoto Now" hat in Musik und Worten wieder das erfreuliche  Überhangmandat zu dieser unwiderstehlichen Kraft dieser Band, "Epiphany" ist trotz des Abstechers ins bräsige Alternativerock-Abwasser das melodisch stärkste Stück der Platte (und dabei viel besser als das immer noch ziemlich unerträgliche "Broken") und der Rausschmeißer "Bored & Extremely Dangerous" erinnert an typische, leicht gräulich schimmernde und herausragende Abschlusstracks wie "Skyscraper", "Markovian Process" oder "Walk Away". 

Meine Lieblingsplatte wird das alleine aus den eingangs erwähnten Gründen nicht mehr, aber ich kann mich immerhin zu folgenden Urteil hinreißen lassen: das ist eine gute Platte.


   


Erschienen auf Epitaph, 2002.


16.12.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 11: Bad Religion - New Maps Of Hell




BAD RELIGION - NEW MAPS OF HELL


"New Maps Of Hell" ist der etwas ältere und leicht behämmerte Bruder des Vorgängers "The Empire Strikes Back" aus dem Jahr 2004: ein bisschen außer Kontrolle geraten, halbstark, einer, der immerzu zu viel und zu dick aufträgt und dabei flach ist wie eine Regenpfütze kurz hinter Kassel. Distortion: rauf! Gaspedal: Bodenblech. Das Schlagzeug? Scott Columbus hat aus dem Jenseits angerufen und möchte seine Drums Of Doom zurück. Noch mehr? Kannste haben: die megapeinlichen Riotshouts in "Requiem For Dissent" lassen auch 14 Jahre nach Erstkontakt noch sämtliche inneren Organe unter stummen Schmerzensschreien verwelken. Darüber hinaus ist die Produktion viel zu fett und metallisch, der Zeitgeist ist einfach ein Arschloch, und Wundertrommler Brooks "Haudraufundschluss" Wackerman passt zur Band wie ein Maschinenschlosser zum Telekolleg "Kaltnadelradierung". 

Und als ob das alles nicht schon wirklich genug Migräne macht, fragt die Herzallerliebste bei "Honest Goodbye" mit einiger Skepsis in der Stimme, was denn mit denen passiert sei; ob sie das beim Kaffeeklatsch im Seniorenstift komponiert hätten, den Blasenkatheter könne man ja praktisch riechen.

Und dennoch: ich kann nicht verleugnen, dass sich einige sehr gute Momente auf "New Maps Of Hell" versammelt haben, die sich zu meiner Überraschung sogar im oft eher ungeliebten, weil qualitativ nicht selten eher vernachlässigten letzten Drittel tummeln. "Lost Pilgrim" ist von der besten "The Gray Race"-Melancholie-Schule abgegangen, "Scrutiny" hätte sich mit einer offeneren Produktion auch bestens zwischen "Against The Grain" und "Generator" aufs Stühlchen setzen können, "The Grand Delusion" ist gar ein erstaunlich abwechslungsreiches, melodisch herausragendes und in gerade mal gut zwei Minuten gepresstes Juwel, und auch wenn der Abschluss mit "Fields Of Mars" wegen der albernen Pianosequenz zur Mitte deutlich zu lang und weilig gerät, schafft die Band hier einen außerordentlich bildhaften Hochgeschwindigkeitspunker. 

Sowas können nicht viele Bands. Vielleicht sind Bad Religion sogar die Einzigen.


   


Erschienen auf Epitaph, 2007.



07.12.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 12: Bad Religion - How Could Hell Be Any Worse?

 


BAD RELIGION - HOW COULD HELL BE ANY WORSE?


Die Bewertung des Bad Religion-Debuts aus dem Jahr 1982 mündet in einen Generationskonflikt, denn auch wenn sich hier und da ein paar Hinweise darauf finden lassen, in welche Richtung sich die Musik unserer Helden später mal entwickeln sollte, schlagen hier wohl in erster Linie die Herzen jener höher, die "How Could Hell Be Any Worse?" vor dem Erstkontakt mit "Suffer" kennenlernten. 

Ich weiß wenig von der US-amerikanischen Punkszene Anfang der 1980er Jahre, aber ich benötige dennoch nur wenig Fantasie, um den Einfluss dieser Platte halbwegs richtig einzuschätzen: auch wenn vergleichbare und etwa zur gleichen Zeit erschienene Alben wie "Damaged", "Bad Brains" oder "Out Of Step" sich im kollektiven Bewusstsein stärker als unantastbare Klassiker etablieren konnten, steht  "How Could Hell Be Any Worse?" für viele Fans der ersten Stunde bis heute ebenfalls in dieser Reihe. 

Im Vergleich mit dem, was ab "Suffer" die Soundsignatur des Quintetts bilden sollte, ist das Debut ein bemerkenswert apokalyptisches und düsteres Werk, dem einerseits (und logischerweise) eine gewisse Unbekümmertheit im Spiel mit Atmosphäre und Worten anzuhören ist, dem gleichzeitig bereits jene Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit spiegelt, für die die Band später so geliebt wie berüchtigt werden sollte. 

Ich kann all das problemlos anerkennen, den Einfluss, die Relevanz, den Überraschungsmoment im Jahr 1982 - aber das sind noch nicht "meine" Bad Religion, die mich Anfang der 1990er Jahre an die Hand nahmen und mir zunächst die Welt auf links krempelten, bevor sie sie mir erklärten. Wäre ich zehn Jahre früher geboren worden und hätte dennoch eine vergleichbare Sozialisation erlebt, sähe ich das vermutlich sehr anders und "How Could Hell Be Any Worse?" wäre das Magnum Opus dieser Band. Der Urknall, der alles veränderte. Immerhin weiß ich, wie sich sowas anfühlen kann.

   

Erschienen auf Epitaph, 1982.

27.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 13: Bad Religion - The Dissent Of Man


BAD RELIGION - THE DISSENT OF MAN


Es gibt im Großen und Ganzen selten wirkliche Überraschungen, wenn es um Platzierungen im Sinne einer Reihenfolge für Alben von Bad Religion geht. "The Dissent Of Man" findet sich beispielsweise bei den allermeisten Fans stets im unteren Drittel der Diskografie wieder, und ich sehe nicht, was ich mit meiner Auswahl daran ändern könnte - dafür lassen alleine die Klassiker aus den 1980er und 1990er Jahren so oder so nur wenig Spielraum. Aber auch ohne den ausschweifenden Blick über das verdorrte Tal der Nostalgie hat das Album einen schweren Stand.  

Im Veröffentlichungsjahr 2010 war "The Dissent Of Man" nicht gut genug für mich. Möglicherweise hat mich die Platte damals in einer Phase erwischt, in der ich soweit von Punkrock entfernt war wie LalaLaschet von einem zweistelligen IQ, vielleicht erschien mir das alles aufs erste Hör' als zu schalala und tralala, vielleicht habe ich "Wrong Way Kids" gehört und mich wegen der unsagbar peinlichen Chöre vollgekotzt, ich weiß es nicht mehr. In den vergangenen zwölf Monaten vertiefte sich die Auseinandersetzung mit dieser Platte indes, und meine Aversion ist seither auf ein unerwartet niedriges Niveau geschrumpft. Möglicherweise bin ich andererseits mittlerweile auch einfach so angeschimmelt und weichgespült, dass mir nicht mal eine Deppenrock-Frechheit wie "Cyanide" oder bräsiger Mittneunziger-Collegerock wie "I Won't Say Anything" die Laune verhageln können. 

Was "The Dissent Of Man" im Jahr 2021 vermutlich in erster Linie für mich rettet, ist eine gefühlte Qualitätsglättung: die Tiefen sind nicht ganz so tief wie es beispielsweise bei "Age Of Unreason" der Fall ist, die Höhen schnuppern dafür ein bisschen dringlicher am eigenen Klassikerkanon - "Avalon" und "Only Rain" reihen sich wie selbstverständlich in die lange Liste herausragender Songs dieser Band ein - und "die Midde" (Birne) ist eben genau da: in der Mitte, über weite Strecken vereint mit dem Großteil ihres Oevres nach 2001. 

Geht schlechter. Besser aber leider auch.


   


Erschienen auf Epitaph, 2010.   

12.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 14: Bad Religion - Age Of Unreason


BAD RELIGION - AGE OF UNREASON


Meine früheren Bewertungen für jene Bad Religion-Alben, die nach "No Substance" erschienen, waren erstens nicht immer schmeichelhaft und zweitens - das weiß ich jetzt - vielleicht auch nicht immer akkurat. Oder fair. Ich bin Emotionshörer, ein recht volatiler noch dazu, und manchmal grätscht mir irgendwas Herbeihalluziniertes die "Gude Laune!" (Väth) weg, ich rede/denke mich in Rage, alles ist verdammt, wir warten apathisch auf den Untergang, Fleischsalat aus der Dose, Mutti ist in Rente, schlimm, schlimm, schlimm. Mal bleiben solch vernichtenden Urteile Jahre und gar Jahrzehnte unangetastet und wie der zusammengerollte Hunni im Kokshäufchen stehen, manchmal sieht man mich aber auch hektisch zurückrudern. In Sack und Asche, weil ich ein Kanisterkopp bin, pardon, sorry, kommt nicht wieder vor. 

Es gibt einige Platten, über die hier noch zu schreiben sein wird, bei denen ich heute weiß, dass ich zu streng und/oder zu doof war. Muss ich anerkennen. An dieser Stelle darf die große Einlaufwelle nun endlich den Badestrand erreichen: "Age Of Unreason" ist keine solche Platte, und solange das Wachkoma mich nicht schnappt, wird sich daran auch mit sehr großer Sicherheit nichts mehr ändern. Aus mir völlig unerklärlichen Gründen finden selbst langjährige Fans, "Age Of Unreason" sei endlich der "langersehnte Befreiungsschlag", eine Rückkehr zu "alter Größe" - und das alleine macht die Platte fast noch ein bisschen ärgerlicher. Nicht, dass es hierfür noch zusätzliche Unterstützung bräuchte, denn die Sammlung von wirklich kaum zu ertragenden Schunkelrocksongs mit einem manchmal erschütternd tattrigen Greg Graffin und einer höchst diskussionswürdigen, weil mumpfigen Produktion ohne jeden Biss sind schon schlimm genug. 

Aber dass diese windelweiche und karobehemdete Gaslightanthemisierung des Punk Rock mittlerweile die Köpfe derart verklebt zu haben scheint, durch und durch entsetzliche Offenbarungseide wie "Candidate" oder "Downfall", zu denen sich Dieter Thomas Heck die obligatorischen sechs Aquavit noch vor seiner Moderation der ZDF-Hitparade über die eigene Dauerwelle gekotzt hätte, fröhlich nickend durchzuwinken, macht mich auch an den Tagen zwischen den Tagen einigermaßen fassungslos. 

Immerhin, und das soll nicht verschwiegen werden: vier Songs ("Chaos From Within", "The Approach", "Old Regime" und der Titelsong) werden sich künftig auf der Florian'schen "Best Of Bad Religion"-Playlist wiederfinden. Ich bin möglicherweise manchmal ein Blödmann, aber ja auch kein Unmensch.

 


Erschienen auf Epitaph, 2019.



05.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 15: Bad Religion - The New America



BAD RELIGION - THE NEW AMERICA


Nach der katastrophalen Bruchlandung mit "No Substance" zeigte sich die Band mit dem Nachfolger "The New America" wieder etwas besser in Form, trotzdem reicht es für das im Jahr 2000 erschienene Album nicht für eine bessere Platzierung. Zum dritten Mal fand man sich ohne Gründungsmitglied und Fels in der Songwriting-Brandung Brett Gurewitz im Studio wieder und kam mittlerweile strenggenommen im Arsch des Corporate Punkrocks an. Ich kann aus eigener Erfahrung anerkennen, dass die Platte im entsprechenden Setting, beispielsweise als 23-jähriger frisch verliebter Blödmann im Hochsommer des Jahres 2000 zwischen Alkohol, Weed, Sex und Endorphin-Feuerwerk im knallorangenen Opel Corsa mit heruntergelassenen Hosen Fenstern und Sonnenbrille auf der Nase, an der ein oder anderen Stelle selbst die niedersten und hier leider recht zahlreich anzutreffenden 4/4-Takt-Schunkler vergessen machen kann, und erinnere mich mit verklärtem Blick und leicht dümmlichen Grinsen an wochenendliche Autobahnfahrten zur Herzallerliebsten nach Nürnberg (160, linke Spur, alle Fenster unten, CD-Lautstärke auf Atomkrieg), und an wildes Lenkradgetrommel, Windschutzscheibenangesinge und Fahrersitzgepoge. 

Aber spätestens Anfang Oktober wollte ich diesen bräsigen Hängemattenpunk eigentlich nie wieder hören müssen.


   


Erschienen auf Sony Music Entertainment, 2000. 


02.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 16: Bad Religion - Into The Unknown


BAD RELIGION - INTO THE UNKNOWN


Das echte schwarze Schaf der Diskografie, denn "No Substance" ist zwar scheiße, aber "Into The Unknown" ist nicht Bad Religion. Nach dem noch sehr schroffen Debutalbum "How Could Hell Be Any Worse?" schlug die Band kurze Zeit später eine komplett andere musikalische Richtung ein und versuchte sich an einer Art Progressive Rock mit Akustikgitarren und Keyboards; "if Hüsker Dü and Genesis made a baby" ist ein sehr treffender Kommentar, und wenn man noch die Titelmelodie von "Na Sowas?!" aus den Untiefen der deutschen Fernsehunterhaltung der 1980er Jahre als zusätzlichen Vergleich in Spiel bringt, weiß man ziemlich gut, wie "Into The Unknown" klingt. 

Der Mumpitz ging natürlich kolossal nach hinten los: Nach dem überraschenden Erfolg des Debuts, das sich über 10000 Mal innerhalb eines Jahres verkaufte, stand die Band beim ersten Konzert nach dem Release von "Into The Unknown" gerade mal einem Dutzend Zuschauern gegenüber, bekam die ausgelieferten Platten gleich kistenweise wieder retourniert, verlor ihren Bassisten Jay Bentley und Schlagzeuger Pete Flintstone im Streit über den Richtungswechsel - und löste sich nach der Tour zunächst für 2 Jahre auf. Natürlich ist es fast 40 Jahre später ziemlich edgy, selbst diesem doch sehr zähen Geklimper etwas Positives abgewinnen zu können, und ich bin nicht selten gerade jenen Platten einer Band-Diskografie zugetan, die im kollektiven Bewusstsein der Fangemeinde besser im achtfach gesicherten Giftschrank verrotten sollten, aber ich kann damit in diesem Fall nicht dienen: das ist unabhängig vom Schock des Stilwechsels einfach keine gute Platte. "Into The Unknown" ist orientierungslos, unausgereift und einfach auch wirklich stinkend langweilig. 

Zwei Jahre nach diesem Blackout hatten Gurewitz und Graffin jedenfalls wieder alle Latten am Zaun, Flintstone und Bentley kamen zurück, Greg Hetson stieß als zweiter Gitarrist dazu. Es folgt ein Köpper ins mit toten Seelen gefüllte Phrasenschwein des Musikjournalismus: "Der Rest ist Geschichte."


    


Erschienen auf Epitaph, 1983. 


20.10.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 17: Bad Religion - No Substance


BAD RELIGION - NO SUBSTANCE


Im Sommer 1998 ließ ich mich auf das Untergangskommando ein, mit meinem Opel Corsa (ich schwöre: gleiche Farbe!) von Frankfurt nach Riccione an der italienischen Adriaküste zu fahren. Im musikalischen Gepäck: die neue Bad Religion. Die Lieblingsband hatte ein neues Album, und ich war überzeugt: es wird so großartig sein, wie alle vorangegangenen Bad Religion Platten auch, geht ja auch gar nicht anders. Spätestens im St.Gotthard-Tunnel war indes klar: es geht doch anders! Sehr anders sogar; die restlichen sechs Stunden der Autofahrt standen unter keinem guten Stern. 

"No Substance" ist die für mich bis heute kälteste Enttäuschung und dunkelste Stunde aus 35 Jahren Liebe zur Musik. Alles an dieser Platte wirkte damals schon falsch, und daran hat sich bis heute nichts geändert: die Songs, der Sound, das Cover, die Hooklines, die Texte, Graffins Stimme, motherfucking Campino - einfach alles: falsch, falsch, falsch. Wenn ich ehrlich bin, hat sich für mich die Band bis heute nicht von diesem Aufprall erholt; ich halte selbst im Jahr 2021 keine drei Songs dieser Platte am Stück aus. 

Vielleicht ist "No Substance" die tiefste, einschneidendste Zäsur in der Wahrnehmung einer Band, die ich je mit eigenen Sinnen erlebte. Ich könnte bis Silvester 2024 so weiterschreiben. Falls es bislang noch nicht so ganz eindeutig rüberkam: Desaströs ist noch ein sehr, sehr, sehr schmeichelhaftes Urteil.

Aber ich gehe hier nicht alleine unter. 

UND JETZT ALLE: FA FA FAFAAAA, FA FA FAFAAAJA LECKEN SIE MICH DOCH AM ARSCH! 

   


Erschienen auf Sony Music Entertainment, 1998.