02.01.2022

A Walk in My Atomic Garden - Platz 9: Bad Religion - True North



BAD RELIGION - TRUE NORTH

Bad Religion hatten mich bis zum Jahr 2013 schon derart zermürbt, dass ich ein neues Album nur noch mit einem angedeuteten Schulterzucken quittierte. Wahrscheinlich hörte ich mir den vorab ausgekoppelten Titeltrack nur mit einem Ohr an, verdrehte die Augen und hielt darüber hinaus vor allem eines: Abstand. Aber the pandemic made me do it: ICH HÖR MIR JETZT SELBST DIE SCHEISSPLATTEN AN, IHR FICKER! 

Und dann wurden aus den vermeintlichen Scheißplatten welche, die ich überraschenderweise immer wieder hören wollte. "True North" wurde im ersten Halbjahr 2021 zum Soundtrack der täglichen Spielrunde mit Hund Fabbi, und ganz offenbar fanden wir beide Gefallen an dem Album - und ich muss nur ein ganz kleines bisschen die Einschränkung offenbaren, dass Fabbi mit seinen 17 Jahren im Grunde mittlerweile stocktaub ist. 



Ich kann nicht sagen, dass die Band auf "True North" durchgängig ein glückliches Händchen hatte, vor allem melodisch operiert die Truppe ein wenig zu oft unter ihren früheren Qualitätsstandards. Aber das zumindest in Teilen wiederentdeckte Gespür für ihren alten Drive, der zu gleichen Teilen mühelos wie unerbittlich wirken kann, und der einfach zu dieser Band gehört wie eine zünftige Vergiftung mit süßem Senf zu einem Oktoberfestzelt, macht "True North" in der Rückschau zu einem sehr kurzweiligen und sehr vergnüglichen Bad Religion Album. 

Immerhin das erste seit "The Empire Strikes First" aus dem Jahr 2004, auf dem ich praktisch keinen Totalausfall, dafür aber eine Handvoll wirklich toller Songs finden kann: der Titeltrack gehört zum Besten, was die Band seit ihrer Glanzzeit bis zur Mitte der 1990er Jahre geschrieben hat, "Fuck You" ist mittlerweile ein Klassiker und immer wiederkehrender Bestandteil des Livesets, "Nothing To Dismay" und die Selbstzitatesammlung "The Island" sind herausragendes Bad Religion-Material. Selbst das reichlich albern wirkende "Dharma And The Bomb" ist cool. 

Hätte ich im Prinzip auch schon vor acht Jahren herausfinden können. Manchmal bin ich einfach doof.

   

Erschienen auf Epitaph, 2013.

26.12.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 10: Bad Religion - The Process Of Belief




BAD RELIGION - THE PROCESS OF BELIEF


"The Process Of Belief" hatte praktisch ab der ersten Sekunde einen schweren Stand. Zum einen spukten "The New America" und vor allem "No Substance" noch ausgesprochen unangenehm im Frontallappen herum und reiherten auf sämtliche meiner blank liegenden Nervenenden, zum anderen befand sich Herr Dreikommaviernull, und das muss man so deutlich sagen, beim Release des Albums im Januar 2002 eigentlich schon auf dem direkten Weg ins Jenseits. Seit einem halben Jahr schluckte ich jeden Tag die Maximaldosis Diclofenac wegen unerklärlicher Rückenschmerzen, schlief kaum noch und wurde zusehends kraftloser und vor allem blasser. Um mich herum wurde das Leben immer trostloser. Es war dunkel im Winter 2002. Zwei Monate später wurde ich mit einem Hämoglobinwert von 3 ins Krankenhaus eingeliefert. Der Krebs war zurück - und die Musik verstummte. Ich ertrug in dieser Zeit praktisch nichts, was auch nur einen kleinen Pieps machte, und die Aussicht, vermeintlich halbsteifen Punkrock aus dem sommerlichen Los Angeles zu hören war aus mehreren Gründen unvorstellbar. 

Jedes Hören von "The Process Of Belief" legt auch zwanzig Jahre später noch den bleischweren Mantel jener Zeit über meine Schultern und zaubert kleine und überaus eklige Erinnerungsblitze aus dem Unterbewusstsein in die Gegenwart. Das Licht im damaligen Haus im Niemandsland zwischen Wiesbaden und Limburg. Der Geruch im Krankenhaus. Selbst dieses halbtote, blutleere Gefühl meines auf dem absolut letzten Rest Notstromenergie dahindämmernden Körpers fährt mir manchmal zurück in die Glieder. Es. Ist. Nicht. Schön. 

Das Album komplett losgelöst von meiner damaligen Existenz zu bewerten, erscheint unmöglich. Ich hielt in den letzten zwanzig Jahren allerdings auch (wenig überraschend) einen gewissen Sicherheitsabstand zu "The Process Of Belief" ein und hatte es in der Diskografie im letzten Drittel einsortiert, wohlwissend, dass viele eingefleischte Fans zum einen die Rückkehr des verlorenen Sohns Mr.Brett, zum anderen die im Vergleich zu "The New America" wiedergefundene Schärfe und Geschwindigkeit feierten. Tatsächlich klingen Bad Religion hier wieder deutlich mehr nach ihrer pre-"No Substance"-Phase: das rasante Einstiegstriple ist sofort ein dickes, mit 300bpm gekritzeltes Entschuldigungsschreiben und auch im weiteren Verlauf war der Fünfer wieder deutlich mehr von der Muße geküsst als zuletzt: "Kyoto Now" hat in Musik und Worten wieder das erfreuliche  Überhangmandat zu dieser unwiderstehlichen Kraft dieser Band, "Epiphany" ist trotz des Abstechers ins bräsige Alternativerock-Abwasser das melodisch stärkste Stück der Platte (und dabei viel besser als das immer noch ziemlich unerträgliche "Broken") und der Rausschmeißer "Bored & Extremely Dangerous" erinnert an typische, leicht gräulich schimmernde und herausragende Abschlusstracks wie "Skyscraper", "Markovian Process" oder "Walk Away". 

Meine Lieblingsplatte wird das alleine aus den eingangs erwähnten Gründen nicht mehr, aber ich kann mich immerhin zu folgenden Urteil hinreißen lassen: das ist eine gute Platte.


   


Erschienen auf Epitaph, 2002.


16.12.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 11: Bad Religion - New Maps Of Hell




BAD RELIGION - NEW MAPS OF HELL


"New Maps Of Hell" ist der etwas ältere und leicht behämmerte Bruder des Vorgängers "The Empire Strikes Back" aus dem Jahr 2004: ein bisschen außer Kontrolle geraten, halbstark, einer, der immerzu zu viel und zu dick aufträgt und dabei flach ist wie eine Regenpfütze kurz hinter Kassel. Distortion: rauf! Gaspedal: Bodenblech. Das Schlagzeug? Scott Columbus hat aus dem Jenseits angerufen und möchte seine Drums Of Doom zurück. Noch mehr? Kannste haben: die megapeinlichen Riotshouts in "Requiem For Dissent" lassen auch 14 Jahre nach Erstkontakt noch sämtliche inneren Organe unter stummen Schmerzensschreien verwelken. Darüber hinaus ist die Produktion viel zu fett und metallisch, der Zeitgeist ist einfach ein Arschloch, und Wundertrommler Brooks "Haudraufundschluss" Wackerman passt zur Band wie ein Maschinenschlosser zum Telekolleg "Kaltnadelradierung". 

Und als ob das alles nicht schon wirklich genug Migräne macht, fragt die Herzallerliebste bei "Honest Goodbye" mit einiger Skepsis in der Stimme, was denn mit denen passiert sei; ob sie das beim Kaffeeklatsch im Seniorenstift komponiert hätten, den Blasenkatheter könne man ja praktisch riechen.

Und dennoch: ich kann nicht verleugnen, dass sich einige sehr gute Momente auf "New Maps Of Hell" versammelt haben, die sich zu meiner Überraschung sogar im oft eher ungeliebten, weil qualitativ nicht selten eher vernachlässigten letzten Drittel tummeln. "Lost Pilgrim" ist von der besten "The Gray Race"-Melancholie-Schule abgegangen, "Scrutiny" hätte sich mit einer offeneren Produktion auch bestens zwischen "Against The Grain" und "Generator" aufs Stühlchen setzen können, "The Grand Delusion" ist gar ein erstaunlich abwechslungsreiches, melodisch herausragendes und in gerade mal gut zwei Minuten gepresstes Juwel, und auch wenn der Abschluss mit "Fields Of Mars" wegen der albernen Pianosequenz zur Mitte deutlich zu lang und weilig gerät, schafft die Band hier einen außerordentlich bildhaften Hochgeschwindigkeitspunker. 

Sowas können nicht viele Bands. Vielleicht sind Bad Religion sogar die Einzigen.


   


Erschienen auf Epitaph, 2007.



07.12.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 12: Bad Religion - How Could Hell Be Any Worse?

 


BAD RELIGION - HOW COULD HELL BE ANY WORSE?


Die Bewertung des Bad Religion-Debuts aus dem Jahr 1982 mündet in einen Generationskonflikt, denn auch wenn sich hier und da ein paar Hinweise darauf finden lassen, in welche Richtung sich die Musik unserer Helden später mal entwickeln sollte, schlagen hier wohl in erster Linie die Herzen jener höher, die "How Could Hell Be Any Worse?" vor dem Erstkontakt mit "Suffer" kennenlernten. 

Ich weiß wenig von der US-amerikanischen Punkszene Anfang der 1980er Jahre, aber ich benötige dennoch nur wenig Fantasie, um den Einfluss dieser Platte halbwegs richtig einzuschätzen: auch wenn vergleichbare und etwa zur gleichen Zeit erschienene Alben wie "Damaged", "Bad Brains" oder "Out Of Step" sich im kollektiven Bewusstsein stärker als unantastbare Klassiker etablieren konnten, steht  "How Could Hell Be Any Worse?" für viele Fans der ersten Stunde bis heute ebenfalls in dieser Reihe. 

Im Vergleich mit dem, was ab "Suffer" die Soundsignatur des Quintetts bilden sollte, ist das Debut ein bemerkenswert apokalyptisches und düsteres Werk, dem einerseits (und logischerweise) eine gewisse Unbekümmertheit im Spiel mit Atmosphäre und Worten anzuhören ist, dem gleichzeitig bereits jene Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit spiegelt, für die die Band später so geliebt wie berüchtigt werden sollte. 

Ich kann all das problemlos anerkennen, den Einfluss, die Relevanz, den Überraschungsmoment im Jahr 1982 - aber das sind noch nicht "meine" Bad Religion, die mich Anfang der 1990er Jahre an die Hand nahmen und mir zunächst die Welt auf links krempelten, bevor sie sie mir erklärten. Wäre ich zehn Jahre früher geboren worden und hätte dennoch eine vergleichbare Sozialisation erlebt, sähe ich das vermutlich sehr anders und "How Could Hell Be Any Worse?" wäre das Magnum Opus dieser Band. Der Urknall, der alles veränderte. Immerhin weiß ich, wie sich sowas anfühlen kann.

   

Erschienen auf Epitaph, 1982.

27.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 13: Bad Religion - The Dissent Of Man


BAD RELIGION - THE DISSENT OF MAN


Es gibt im Großen und Ganzen selten wirkliche Überraschungen, wenn es um Platzierungen im Sinne einer Reihenfolge für Alben von Bad Religion geht. "The Dissent Of Man" findet sich beispielsweise bei den allermeisten Fans stets im unteren Drittel der Diskografie wieder, und ich sehe nicht, was ich mit meiner Auswahl daran ändern könnte - dafür lassen alleine die Klassiker aus den 1980er und 1990er Jahren so oder so nur wenig Spielraum. Aber auch ohne den ausschweifenden Blick über das verdorrte Tal der Nostalgie hat das Album einen schweren Stand.  

Im Veröffentlichungsjahr 2010 war "The Dissent Of Man" nicht gut genug für mich. Möglicherweise hat mich die Platte damals in einer Phase erwischt, in der ich soweit von Punkrock entfernt war wie LalaLaschet von einem zweistelligen IQ, vielleicht erschien mir das alles aufs erste Hör' als zu schalala und tralala, vielleicht habe ich "Wrong Way Kids" gehört und mich wegen der unsagbar peinlichen Chöre vollgekotzt, ich weiß es nicht mehr. In den vergangenen zwölf Monaten vertiefte sich die Auseinandersetzung mit dieser Platte indes, und meine Aversion ist seither auf ein unerwartet niedriges Niveau geschrumpft. Möglicherweise bin ich andererseits mittlerweile auch einfach so angeschimmelt und weichgespült, dass mir nicht mal eine Deppenrock-Frechheit wie "Cyanide" oder bräsiger Mittneunziger-Collegerock wie "I Won't Say Anything" die Laune verhageln können. 

Was "The Dissent Of Man" im Jahr 2021 vermutlich in erster Linie für mich rettet, ist eine gefühlte Qualitätsglättung: die Tiefen sind nicht ganz so tief wie es beispielsweise bei "Age Of Unreason" der Fall ist, die Höhen schnuppern dafür ein bisschen dringlicher am eigenen Klassikerkanon - "Avalon" und "Only Rain" reihen sich wie selbstverständlich in die lange Liste herausragender Songs dieser Band ein - und "die Midde" (Birne) ist eben genau da: in der Mitte, über weite Strecken vereint mit dem Großteil ihres Oevres nach 2001. 

Geht schlechter. Besser aber leider auch.


   


Erschienen auf Epitaph, 2010.   

12.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 14: Bad Religion - Age Of Unreason


BAD RELIGION - AGE OF UNREASON


Meine früheren Bewertungen für jene Bad Religion-Alben, die nach "No Substance" erschienen, waren erstens nicht immer schmeichelhaft und zweitens - das weiß ich jetzt - vielleicht auch nicht immer akkurat. Oder fair. Ich bin Emotionshörer, ein recht volatiler noch dazu, und manchmal grätscht mir irgendwas Herbeihalluziniertes die "Gude Laune!" (Väth) weg, ich rede/denke mich in Rage, alles ist verdammt, wir warten apathisch auf den Untergang, Fleischsalat aus der Dose, Mutti ist in Rente, schlimm, schlimm, schlimm. Mal bleiben solch vernichtenden Urteile Jahre und gar Jahrzehnte unangetastet und wie der zusammengerollte Hunni im Kokshäufchen stehen, manchmal sieht man mich aber auch hektisch zurückrudern. In Sack und Asche, weil ich ein Kanisterkopp bin, pardon, sorry, kommt nicht wieder vor. 

Es gibt einige Platten, über die hier noch zu schreiben sein wird, bei denen ich heute weiß, dass ich zu streng und/oder zu doof war. Muss ich anerkennen. An dieser Stelle darf die große Einlaufwelle nun endlich den Badestrand erreichen: "Age Of Unreason" ist keine solche Platte, und solange das Wachkoma mich nicht schnappt, wird sich daran auch mit sehr großer Sicherheit nichts mehr ändern. Aus mir völlig unerklärlichen Gründen finden selbst langjährige Fans, "Age Of Unreason" sei endlich der "langersehnte Befreiungsschlag", eine Rückkehr zu "alter Größe" - und das alleine macht die Platte fast noch ein bisschen ärgerlicher. Nicht, dass es hierfür noch zusätzliche Unterstützung bräuchte, denn die Sammlung von wirklich kaum zu ertragenden Schunkelrocksongs mit einem manchmal erschütternd tattrigen Greg Graffin und einer höchst diskussionswürdigen, weil mumpfigen Produktion ohne jeden Biss sind schon schlimm genug. 

Aber dass diese windelweiche und karobehemdete Gaslightanthemisierung des Punk Rock mittlerweile die Köpfe derart verklebt zu haben scheint, durch und durch entsetzliche Offenbarungseide wie "Candidate" oder "Downfall", zu denen sich Dieter Thomas Heck die obligatorischen sechs Aquavit noch vor seiner Moderation der ZDF-Hitparade über die eigene Dauerwelle gekotzt hätte, fröhlich nickend durchzuwinken, macht mich auch an den Tagen zwischen den Tagen einigermaßen fassungslos. 

Immerhin, und das soll nicht verschwiegen werden: vier Songs ("Chaos From Within", "The Approach", "Old Regime" und der Titelsong) werden sich künftig auf der Florian'schen "Best Of Bad Religion"-Playlist wiederfinden. Ich bin möglicherweise manchmal ein Blödmann, aber ja auch kein Unmensch.

 


Erschienen auf Epitaph, 2019.



05.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 15: Bad Religion - The New America



BAD RELIGION - THE NEW AMERICA


Nach der katastrophalen Bruchlandung mit "No Substance" zeigte sich die Band mit dem Nachfolger "The New America" wieder etwas besser in Form, trotzdem reicht es für das im Jahr 2000 erschienene Album nicht für eine bessere Platzierung. Zum dritten Mal fand man sich ohne Gründungsmitglied und Fels in der Songwriting-Brandung Brett Gurewitz im Studio wieder und kam mittlerweile strenggenommen im Arsch des Corporate Punkrocks an. Ich kann aus eigener Erfahrung anerkennen, dass die Platte im entsprechenden Setting, beispielsweise als 23-jähriger frisch verliebter Blödmann im Hochsommer des Jahres 2000 zwischen Alkohol, Weed, Sex und Endorphin-Feuerwerk im knallorangenen Opel Corsa mit heruntergelassenen Hosen Fenstern und Sonnenbrille auf der Nase, an der ein oder anderen Stelle selbst die niedersten und hier leider recht zahlreich anzutreffenden 4/4-Takt-Schunkler vergessen machen kann, und erinnere mich mit verklärtem Blick und leicht dümmlichen Grinsen an wochenendliche Autobahnfahrten zur Herzallerliebsten nach Nürnberg (160, linke Spur, alle Fenster unten, CD-Lautstärke auf Atomkrieg), und an wildes Lenkradgetrommel, Windschutzscheibenangesinge und Fahrersitzgepoge. 

Aber spätestens Anfang Oktober wollte ich diesen bräsigen Hängemattenpunk eigentlich nie wieder hören müssen.


   


Erschienen auf Sony Music Entertainment, 2000. 


02.11.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 16: Bad Religion - Into The Unknown


BAD RELIGION - INTO THE UNKNOWN


Das echte schwarze Schaf der Diskografie, denn "No Substance" ist zwar scheiße, aber "Into The Unknown" ist nicht Bad Religion. Nach dem noch sehr schroffen Debutalbum "How Could Hell Be Any Worse?" schlug die Band kurze Zeit später eine komplett andere musikalische Richtung ein und versuchte sich an einer Art Progressive Rock mit Akustikgitarren und Keyboards; "if Hüsker Dü and Genesis made a baby" ist ein sehr treffender Kommentar, und wenn man noch die Titelmelodie von "Na Sowas?!" aus den Untiefen der deutschen Fernsehunterhaltung der 1980er Jahre als zusätzlichen Vergleich in Spiel bringt, weiß man ziemlich gut, wie "Into The Unknown" klingt. 

Der Mumpitz ging natürlich kolossal nach hinten los: Nach dem überraschenden Erfolg des Debuts, das sich über 10000 Mal innerhalb eines Jahres verkaufte, stand die Band beim ersten Konzert nach dem Release von "Into The Unknown" gerade mal einem Dutzend Zuschauern gegenüber, bekam die ausgelieferten Platten gleich kistenweise wieder retourniert, verlor ihren Bassisten Jay Bentley und Schlagzeuger Pete Flintstone im Streit über den Richtungswechsel - und löste sich nach der Tour zunächst für 2 Jahre auf. Natürlich ist es fast 40 Jahre später ziemlich edgy, selbst diesem doch sehr zähen Geklimper etwas Positives abgewinnen zu können, und ich bin nicht selten gerade jenen Platten einer Band-Diskografie zugetan, die im kollektiven Bewusstsein der Fangemeinde besser im achtfach gesicherten Giftschrank verrotten sollten, aber ich kann damit in diesem Fall nicht dienen: das ist unabhängig vom Schock des Stilwechsels einfach keine gute Platte. "Into The Unknown" ist orientierungslos, unausgereift und einfach auch wirklich stinkend langweilig. 

Zwei Jahre nach diesem Blackout hatten Gurewitz und Graffin jedenfalls wieder alle Latten am Zaun, Flintstone und Bentley kamen zurück, Greg Hetson stieß als zweiter Gitarrist dazu. Es folgt ein Köpper ins mit toten Seelen gefüllte Phrasenschwein des Musikjournalismus: "Der Rest ist Geschichte."


    


Erschienen auf Epitaph, 1983. 


20.10.2021

A Walk in My Atomic Garden - Platz 17: Bad Religion - No Substance


BAD RELIGION - NO SUBSTANCE


Im Sommer 1998 ließ ich mich auf das Untergangskommando ein, mit meinem Opel Corsa (ich schwöre: gleiche Farbe!) von Frankfurt nach Riccione an der italienischen Adriaküste zu fahren. Im musikalischen Gepäck: die neue Bad Religion. Die Lieblingsband hatte ein neues Album, und ich war überzeugt: es wird so großartig sein, wie alle vorangegangenen Bad Religion Platten auch, geht ja auch gar nicht anders. Spätestens im St.Gotthard-Tunnel war indes klar: es geht doch anders! Sehr anders sogar; die restlichen sechs Stunden der Autofahrt standen unter keinem guten Stern. 

"No Substance" ist die für mich bis heute kälteste Enttäuschung und dunkelste Stunde aus 35 Jahren Liebe zur Musik. Alles an dieser Platte wirkte damals schon falsch, und daran hat sich bis heute nichts geändert: die Songs, der Sound, das Cover, die Hooklines, die Texte, Graffins Stimme, motherfucking Campino - einfach alles: falsch, falsch, falsch. Wenn ich ehrlich bin, hat sich für mich die Band bis heute nicht von diesem Aufprall erholt; ich halte selbst im Jahr 2021 keine drei Songs dieser Platte am Stück aus. 

Vielleicht ist "No Substance" die tiefste, einschneidendste Zäsur in der Wahrnehmung einer Band, die ich je mit eigenen Sinnen erlebte. Ich könnte bis Silvester 2024 so weiterschreiben. Falls es bislang noch nicht so ganz eindeutig rüberkam: Desaströs ist noch ein sehr, sehr, sehr schmeichelhaftes Urteil.

Aber ich gehe hier nicht alleine unter. 

UND JETZT ALLE: FA FA FAFAAAA, FA FA FAFAAAJA LECKEN SIE MICH DOCH AM ARSCH! 

   


Erschienen auf Sony Music Entertainment, 1998.

11.10.2021

A Walk In My Atomic Garden: Bad Religion




A WALK IN MY ATOMIC GARDEN: 

BAD RELIGION

Meine erste Begegnung mit Bad Religion spielte sich an einem Herbstmorgen des Jahres 1991 gegen 7:30 Uhr auf dem Schulhof des Leibniz-Gymnasiums in Frankfurt-Höchst ab. Meine Klassenkameradin Nathalie begrüßte unsere Gruppe mit schnellen, hibbeligen Trippelschritten, funkelnden Augen und diesem Gesichtsausdruck, der atemlose Vorfreude verriet. Unter ihrem rechten Arm trug sie eine Schallplatte. Sie zeigte sie stolz in die Runde, riss die Augen weit auf und - lachte einfach nur. Ein lautes, ungläubiges, staunendes Lachen. Der Subtext war klar: "Das ist so geil. Was ist DAS denn? Ich habe sowas noch nie gehört. Das wird die Welt verändern." 

Die Platte hieß "Against The Grain" von Bad Religion.

Ich war damals 14 und hatte mit Punkrock nix an der Frisur. Wahrscheinlich hatte ich sowieso noch nie Punkrock gehört. Ich war bestimmt gerade im Begriff, von Nirvana so richtig auf links gedreht zu werden, aber darüber hinaus wurde mein musikalisches Leben von Heavy Metal dominiert: Iron Maiden, Iced Earth, Sepultura, Slayer, Metal Church, Helloween, Agent Steel. Sehr ganz vielleicht hatte ich im Plattenschrank meines Bruders mal ein Cover einer Dead Kennedys Platte gesehen und hörte dazu den ungewohnt schroffen Kommentar "Das ist nix für Dich" - immerhin von einem, der ein paar Jahre zuvor keine Probleme damit hatte, mir Venoms "Black Metal" und Slayers "Angel Of Death"  auf den Plattenteller zu legen. Aber sonst?!

Über die nächsten Jahre meiner Sturm- und Drangzeit in den frühen Neunzigern sollte sich das ändern - und das lag in allererster Linie an Bad Religion. Meine erste gekaufte Punkplatte war eines ihrer Alben, ich legte auf Musikbörsen richtig viel Geld für richtig scheiße klingende Bootleg-CDs auf den Tisch (die kamen mir sonst nur von Maiden in die Tüte), ich trug ihre berühmten "Crossbuster"-Shirts mit der Mischung aus pubertärer Rebellion und unkontrolliertem Abgrenzungswahn. Ich lernte ihre Songs auswendig, zunächst die Texte und später, nachdem ich meine erste E-Gitarre gekauft hatte, auch die Musik. Nochmal später versuchte ich sogar, ihre Texte zu verstehen. Ich schaute ihr "Along The Way" Video (auf VHS, for fuck's sake!) und hörte vor allem in den Interviewsequenzen ganz besonders aufmerksam zu, als Sänger Greg Graffin über die immer weiter aufklappende Schere zwischen arm und reich referierte. Mein erstes Punkkonzert war ihr Gastspiel in der Neu-Isenburger Hugenottenhalle im Sommer 1993, und wenn ich ehrlich bin, habe ich in den folgenden 28 Jahren kein Konzert mehr besucht, auf dem eine solche Stimmung herrschte. Die Hugenottenhalle war ausverkauft und fasst bei Konzerten etwa 1500 Menschen. Ich schwöre bei meinem rechten Hoden: wenn die Band spielte, ließ sich in der ganzen Halle kein Quadratzentimeter Ruhe finden. Alle waren in Bewegung. ALLE! A! L! L! E! 

Nun waren spätestens nach 1998 weder Zeit noch Inspiration besonders gnädig zu dieser Band und so gerne ich auch etwas anderes behaupten möchte, hielt sich meine Begeisterung über ihre neuen Platten seitdem in eher engeren Grenzen. Das hat sicherlich auf beiden Seiten seine Gründe, aber beim Blick aufs große Ganze werden Bad Religion immer zu den zehn Bands gehören, die mir über das normale Maß hinaus ans Herz gewachsen sind. Die Mischung aus Corona-Lockdown und Sport im 55°C heißen Schuppen bei lauten Punkrock über die letzten eineinhalb Jahre haben mir ganz deutlich gezeigt, dass sie einfach immer zu mir und zu meinem Leben gehören werden. 

Die Idee für die nun bis zum Jahresende folgende Auseinandersetzung mit all ihren Studioalben, mit dem beliebten "Eine Platte = Ein Posting"-Prinzip künstlich aufgebläht, kam mir Anfang des Jahres 2021, als ich mich durch den Berg der von mir bislang salopp als "Scheißplatten" bezeichneten Alben ihrer zweiten Karrierehälfte kämpfte und mit einem Fitzelchen Überraschung hier und da mein früheres Urteilsvermögen in Frage stellen musste. Und außerdem: Wir brauchen alle mehr Listen. Viel mehr Listen. Listen, Listen, Listen. Also...gehen wir's an. 

Bad Religion. Worst To Best. Jetzt. Bald. Gleich. 


You (didn't) want it, you got it. 









Disclaimer: "Y'all know this is just my opinion, right?" (Anthony Fantano)



12.09.2021

Cassius King - Field Trip



CASSIUS KING - FIELD TRIP


Wenn sich drei Viertel der Besetzung des umwerfenden und leider bislang letzten Hades-Albums "DamNation" zusammenschließen, und dann noch Gottsänger Jason McMaster mitmischt, dann drehen eingeweihte US-Metalfans aufgeregt am Kläppchen - und angesichts des kürzlich erschienenen Debuts "Field Trip" darf ich sagen: mit Recht. 

Und dabei war ich zunächst skeptisch, und das nicht zu knapp: Gitarrist Dan Lorenzo hat nach dem erwähnten mächtigen Paukenschlag mit Hades aus dem Jahr 2001 nicht mehr viel gerissen (speziell über das 2004er Soloalbum "Cassius King" mit dem wirklich unfassbar debilen "4 More Years/USA" decken wir mal besser alle dicken Mäntel dieser Erde, for fuck's sake!), McMaster versucht sich seit über 20 Jahren mit Broken Teeth an einer texanischen Version von AC/DC, ex-Hades-Bassist Jimmy Schulman unterstützte Lorenzos letztes Doom-Stoner-Projekt Vessel Of Light und Drummer Ron Lipnicki war bis zu seinem Ausstieg 2016 für immerhin gute zehn Jahre der Schlagzeuger von Overkill. Das schreit jetzt bei allem Respekt nicht unbedingt nach einer neuen Supergroup. Und weil selbst Herr Dreikommaviernull mittlerweile gelernt hat, von den allermeisten seiner ehemaligen Helden heute nur noch traurige Vollrotze vorgesetzt zu bekommen, hält sich meine Begeisterung in sehr engen Grenzen, wenn die alten Herren den x-ten Anlauf nehmen, es doch noch irgendwie zu schaffen. Zumal meine Affinität zu aktueller Rockmusik im Allgemeinen und aktuellem Metal im Speziellen über die letzten zehn zwanzig Jahre immer weiter hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen verschwand. Es muss sich schon um etwas sehr Besonderes handeln, wenn es mich nochmal hinter meiner ollen Furzkanone hervorlocken soll. 

Und ich bin mittlerweile soweit: "Field Trip" ist besonders, und das liegt nicht zum kleinsten Teil daran, dass die Musik des Vierers wirklich komplett aus der Zeit gefallen ist - allerdings nicht so, wie man's angesichts der Vita der Protagonisten eventuell vermuten könnte. Denn auch wenn einige Reviews über "Field Trip" von klassischem US Metal mit kantigen 1980er Jahre-Vibes fantasieren (wirklich komplett absurd!), regieren auf "Field Trip" überraschenderweise die neunziger Jahre. Genauer gesagt, ein bestimmter Sound aus einer bestimmten Zeit der neunziger Jahre, der heutzutage scheinbar aus dem kollektiven Metal-Gedächtnis gestrichen wurde. Fairerweise muss ich dazu anmerken, dass die Erinnerung an sowohl Zeit als auch Klang sich nicht mal eben mit links wieder ins Kleinhirn einspeisen lässt, weil's einerseits weniger Strömung als viel eher Situation war, und andererseits die subjektive Flori-Metaebene ihr Köpfchen aus dem Zeitstrahl steckt, meint: im Zweifel mag das jeder anders bewertet haben als meinereiner. Bon.

"Field Trip" führt im Prinzip den Sound der Hades-Nachfolgeband Non-Fiction weiter und nimmt dabei die Schwingungen des Mitt- bis Spätneunziger Metals auf, dieser verwunschenen Twilight Zone also, in der sich Enttäuschung, Existenzbedrohung, Orientierungslosigkeit auf der einen, Sturheit, Durchhaltevermögen und eine Prise Demut auf der anderen Seite trafen und gleichermaßen für Zusammenbruch und Neuanfang einer sorgfältig unter die Räder gekommenen Szene sorgten. Ich höre urzeitliches Soundgarden-Riffing, bekifft-schlurfende Sabbath-Mammutts, ätherische "Reload"-Vibes, ein Körnchen Pathos aus dem Hause Solitude Aeturnus und die niedergebrannten Ruinen dessen, was man auf dem 1995er Hades-Album "Exist To Resist" mit viel Glück und Geschick noch als Thrash Metal erkennen konnte. Und in irgendeinem durchgeknallten Paralleluniversum in einer anderen Dimension ließe sich noch der Beiklang zum Ethos einer Band wie Nevermore vor ihrem "Dead Heart In A Dead World"-Album anschlagen, dessen Ernsthaftigkeit und Intimität sich mit Angriffslust und Aggressivität verbanden und ihrer Musik so zu einer ganz eigenen Identität verhalf. Im Grunde fassen die letzten Zeilen die musikalische Essenz dieser Platte zusammen. 

Für mich ist "Field Trip" aber auch deshalb so bemerkenswert, weil mich dieser Sound gleich aus mehreren Gründen triggert. Aus nostalgischer Sicht betrachtet ist das einfach "meine" Musik, die mich schnurstracks in mein Lebensgefühl im Jahr 1996 zurückschleudert. Als Ecken und Kanten noch charmant waren und nicht als unprofessionell galten. Als Metalbands nicht jedem dahergelaufenen Volltrottel gefallen wollten (oder noch schlimmer: mussten!) und einen Refrain nach dem anderen mit kitschigen Kinderliedmelodien strecken mussten, damit die Plattenfirma bestenfalls zwölf Singles auf einem Album unterbringen konnte. Als man sich noch echt fucking geile Sänger in die Band holte, weil sie echt fucking geile Stimmen hatten. Als die spätkapitalistische Kulturverwertung das Proprium noch nicht mit Normierungsprozessen geflutet und final zum Absaufen brachte, während die Armee der talent- und gesichtlosen Hautsäcke wie eine ganze Legion der apokalyptischen Reiter alles platttrampelte, was gerade noch mit letzter Kraft die eigene Integrität in den Schutzbunker schleifen wollte. Als Hookline-freie Zonen noch dazu führten, dass man die Platten hunderte Male hören konnte; nicht nur ohne sich zu langweilen, sondern um viel mehr immer tiefer in dieses fremde Universum abzutauchen, das sich so dagegen zu sträuben schien, dechiffriert zu werden. Das nach Auseinandersetzung verlangte, das Aufmerksamkeit einforderte, wenn man ihm näher kommen wollte. So habe ich mir meine Lieblingsplatten entdeckt: Mit Zeit. Mit Geduld. Über Anziehung und Ablehnung, manchmal beides zur gleichen Zeit. Eingraben, auf den richtigen Moment warten, den richtigen Ort, die richtige Stimmung. 

Ich habe diese Musik vermisst. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt worden zu sein. Jetzt ist sie wieder da.  

Cassius King spielen auf "Field Trip" die uncoolste Musik der Welt. 


Cassius King spielen auf "Field Trip" die coolste Musik der Welt.


   


Anmerkung: die CD gibt es aktuell offenbar nur auf der oben verlinkten Bandcamp-Page des Labels zu kaufen (mit horrenden Versandkosten), wenn jemand eine Bezugsquelle aus Deutschland oder Europa kennt: bitte melden! Eine Veröffentlichung auf Vinyl ist geplant, aber durch die Auslastung der Presswerke (es müssen ja auch die ganzen geilen Boxsets von den Dire fucking Straits und den motherfucking Doors gepresst werden, klar!) stark verzögert.   




Erschienen auf Nomad Eel Records, 2021.



05.09.2021

All On The Black




LEYA - WATCH YOU DON'T TAKE OFF

Liebe LeserInnen,

Während ich im Fiebertraum an etwas arbeite, das irgendwann mal die intellektuelle Verdunkelung dieses Blogs mit dem großen "Bad Religion Album-Ranking" fortführen wird, ich muss ja die zweite Jahreshälfte irgendwie rumbringen, beziehungsweise ihr entgegendämmern, gibt es nach dem geborgenen Interview mit The Sea And Cake noch eine weitere Resteverwertung aus einer anderen Zeit und einem anderen Leben. 

Als Schreibknecht beim Hamburger Tinnitus-Mag zur Mitte der nuller Jahre war ich angehalten, jeder Plattenbesprechung eine Punktzahl anzuhängen und also jede Platte auf einer Skala von 1 (Atommüll-Endlager) bis 10 (Bundespressekonferenz auf Acid) zu bewerten. Aus der etwas diesigen Erinnerung heraus lag mein Notendurchnitt sicherlich deutlich unter sechs Punkten - ich bekam wirklich erschütternd viel Schrott und noch mehr Middle-Of-The-Road-Gerocke zugeschickt; letzteres empfand ich oft als mindestens genauso ärgerlich wie den klar erkennbaren Bodensatz, weil es sich in jenen Fällen irgendwie verbat, emotional einigermaßen aufgewühlt und mit sprachlicher Finesse das eigene Ego zu befriedigen, sich also vermeintlich lustige Analogien und Metaphern einfallen zu lassen. Egale Musik war eben schon immer egal, und ein triviales Schulterzucken macht selbst der beste Comedian der Welt nicht zur guten Unterhaltung. Einen Verriss zu schreiben kann dagegen ein großer Spaß sein, und weil Spaß wirklich die überbewerteste Kernscheiße der Welt ist - guckt euch domma um, in welchem Autounfall wir hier leben, Ihr Assos! - und ich sowieso seit Anbeginn dieses Blogs stets darauf hinwies, gibt's auf Dreikommaviernull auch keine ebenjenen zu lesen. Weder Spaß noch Verriss. If you wanna see juggling, go watch clowns.

Mit Noten von 8/10 oder gar höher, tat ich mir gleichfalls immer schwer. Platten, die damals acht Punkte von mir bekamen, hätten von einem anderen, möglicherweise sagen wir mal: etwas unkritischeren Geist sicher eine 14/10 eingefahren, und um diesen Schwachsinn von Schwachsinnigen etwas auszubalancieren, war ich in der Redaktion als notorischer Tiefwerter bekannt. Ich glaube, ich vergab in den zwei Jahren meiner Mitarbeit an maximal zwei Platten eine 9. 10 Punkte waren eigentlich komplett undenkbar. 

Bis zu dem Tag, an dem ich tief durchatmete und eine 10 vergab. 

Wenn sich heutzutage wirklich noch irgendjemand außer mir dafür interessieren würde und mich also fragte, wie es denn 15 Jahre später damit aussieht und ob ich die zehn Punkte für "Watch You Don't Take Off" auch heute noch verteilen würde, dann müsste ich die Frage verneinen. I have moved on - und eigentlich war ich bereits im Sommer 2006 weitergezogen. Und trotz meiner natürlichen, und ich kann es nicht diplomatischer formulieren, "Skepsis" gegenüber dieser Spielart des im Pathos geradewegs abgesoffenen Indierocks, dem man zu allem Überfluss sowohl seine geografische Heimat als auch die Epoche anhört, in der er entstand, verstehe ich den Typen aus dem Jahr 2006 auch heute noch ganz gut und weiß, warum die Vergabe von zehn Punkte damals unausweichlich erschien. Während ich diese Zeilen schreibe, läuft gerade der Abschlusstrack "All On The Black" und ich bekomme immer noch eine kilometerdicke Gänsehaut. Ich kann mich gegen sowas einfach nicht wehren, das drückt einfach alle, alle, alle Knöpfe. Auch im Jahr 2021: Der blanke Wahnsinn. Wo hat diese Band das bloß hergeholt?

Bleibt mir zum Abschluss noch festzuhalten: entgegen aller völlig logischen Erwartungen, halfen die zehn Punkte von einem kleinen idiotischen Kartoffeldeutschen der Band nicht dabei, den winzigen und wahrscheinlich von einer abgewichsten Promoagentur herbeihalluzinierten "Hype" zu bestätigen. "Watch You Don't Take Off" sollte das einzige Lebenszeichen von Leya bleiben, die Band löste sich wenig später sehr sang- und klanglos auf. Leider erschien das Album nie auf Vinyl und die Chancen stehen denkbar schlecht, dass sich das nochmal ändert, denn viel tiefer untergehen kann eine Platte nicht. Wirklich nicht. Der daraus resultierende Vorteil ist indes, dass die längst gestrichene CD mittlerweile für unverschämt kleines Geld im Internet zu beziehen ist. 

Ich habe für diesen Beitrag meinen Rezensionstext von damals ausgegraben. Vielleicht versüßt die Platte jemandem die wahrlich abgefuckteste aller Zeiten.

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Leya - Watch You Don't Take Off


Wasserwirbel. Herzensbrecher. Windgeflüster. Ein Album wie aus einer anderen Welt.

Leya sind eine langsam, aber stetig gewachsene Band. Von kleinen, privaten und lokalen Gigs zum Anfang ihrer Karriere im Jahr 2001, über gewonnene Bandwettbewerbe, Support-Slots für Damien Rice und Interpol bis hin zu einem weltweiten Management-Deal und einem Plattenvertrag in 2006 hat sich ihre Karriere stets nach vorne bewegt. In ihrem Heimatland Nordirland gelten Leya als DIE Hoffnung des Jahres und "Watch You Don't Take Off" ist das Album, das Herzen brechen wird. Das Tränen fließen lassen wird. Das den Boden unter den Füßen wegzieht. 

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich dieser Platte zunächst nicht die volle Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Der Veröffentlichungstermin stand erst in ein paar Wochen auf dem Plan, ich sollte also noch genug Zeit haben mich mit "Watch You Don't Take Off" zu beschäftigen. Dennoch legte ich sie fast instinktiv immer wieder auf, allerdings ohne größere Auswirkungen. Ich sprang weder im Dreieck, noch aus dem Fenster; es schien, als sei das eine "ganz nette Platte" einer "ganz netten Band" mit einer "ganz netten Mischung" aus britischem Gitarrenrock und epischem, ausuferndem  Bombast. Bis zu jenem Moment, als ich während eines weiteren Durchlaufs plötzlich hellhörig wurde. Ach, was schreib' ich da...die Sicherungen sind mir durchgeknallt! Plötzlich fand ich mich mit Textblatt in der Hand vor der enthemmt aufgedrehten Anlage wieder und bekam den Mund nicht mehr zu. "Was machen die denn da? Hallo...? Verdammt, was machen die denn da???"

Das sanfte Piano, das eben noch an der Ecke lehnte und traurig in die Nacht hinein spielte, bäumt sich plötzlich auf. Aus dem Innern schwingen sich immer lauter und immer größer werdende Gitarren empor. Die Violinen breiten ihre überdimensionalen Flügel aus. Das Grollen des Himmels verschlingt das weite Land. Alles ist Eins. Schicht um Schicht legen die vier Musiker immer neue Farben und Gebilde übereinander. Wie ein Maler, der vor seiner großen Leinwand steht und jeden Pinselstrich genießt, der mit jeder Handbewegung, mit jedem Geistesblitz sich selbst und seine Kunst neu erfindet. Ein abgeschlossenes System, das dennoch so offen und frei ist, dass jede minimale Veränderung Auswirkungen nach sich zieht. 

Der Kern aber bleibt. Felsenfest. 

Das Lied, auf das sich diese Beschreibung bezieht heißt "Again" und ist eines von zwei totalen Unglaublichkeiten in einem Meer voller Unglaublichkeiten. "Who are we, where do we come from?" fragt Sänger Ciaran Gribbin und wir können ihn nur ungläubig anstarren und versuchen die warmen Schauer, die er uns damit über den Rücken jagt irgendwie zu kontrollieren. Ha, wir Narren! Hier gibt es nichts zu kontrollieren. Wer etwas anderes versucht, als sich treiben zu lassen geht im Wahnsinn unter.

Sie nahmen mich gefangen. Spielend leicht. Ihre Songs sind wie Raketen, die sich in den Himmel hineinschrauben, ohne jemals zu verglühen. So leicht und schwerelos wie eine Feder, die in einer sanften Brise herumtänzelt und nie den Boden berührt. Ihr Sänger Ciaran Gribbin, ein Künstler, der es mit Leichtigkeit vermag die perfekten Worte, Silben und Melodien an die perfekten Stellen zu platzieren. Der mit einer der grandiosesten und ausdrucksstärksten Stimmen gesegnet ist, die in den letzten zwanzig Jahren Musik veredeln durfte. Seine Hinterleute mit untrüglichem Gespür für den richtigen Anschlag, die richtige Geste. Das Laut/Leise Prinzip in Vollendung. Diese Songs strahlen so viel Herzenswärme, so viel Gefühl und so viel Leidenschaft aus, man weiß gar nicht mehr wohin damit. Dabei hochmelodisch, aber bitte nicht kitschig. Diese Lieder stehen weit über dem Kitsch.

"All On The Black", der letzte der elf Songs auf "Watch You Don't Take Off" und gleichzeitig die zweite totale Unglaublichkeit in einem Meer voller Unglaublichkeiten (siehe oben), setzt den Schlusspunkt und beschließt damit ein geradezu beängstigend rundes, stimmiges und - man traut es sich ja fast kaum zu sagen: perfektes Album. "Some days are right, some days are anything but right. Some days we'll fight, some days are anything". Gribbin holt zum letzten Mal Luft. Legt zum letzten Mal all seine Emotionen in diese Wörter. Und lässt uns zurück. In einer anderen Welt.

10/10


 


Erschienen auf Rubyworks, 2006.