30.06.2012

No Allies!


DOUBLE DAGGER ° 2002 - 2011

Das ist ein viel zu später Nachruf für eine Band, die bereits im vergangenen Jahr den letzten Vorhang nach unten sausen ließ: Double Dagger aus Baltimore haben nach neun Jahren Bandgeschichte, drei Alben und sechs Singleveröffentlichungen das Licht ausgeknipst, und wie ich eben nochmal überprüfte, überraschenderweise noch keine lobenende Erwähnung auf diesem Blog erhalten. Überraschend ist's grundsätzlich sowieso; das letzte, großartige "More"-Album erschien immerhin bei Thrill Jockey, der Indieinstitution aus Chicago. Und da passten sie bestens hin: der zu Beginn ihrer Karriere als "graphicdesigncore" bezeichnete Post-Punk/Core des Trios, das interessanterweise ohne Gitarristen auskommt und den teils infernalischen Noise lediglich mit Schlagzeug, Gesang und einem derbe verzerrten Bass auf die Beine stellt, setzt sich bestens zwischen die Stühle, die Tortoise, Trans Am und Pontiak freigelassen haben. Ihre Musik erscheint absolut fokussiert und crisp, obwohl sie es bei näherem Hinhören nicht ist. Kantig und verschachtelt, roh und spindeldürr arrangiert. Im Grunde hätten sie mit ihrem spröden Charme auch bestens zu Dischord gepasst.

Dazu wird es nun nicht mehr kommen, allerdings steht noch eine Veröffentlichung für 2012 auf dem Plan. Ob zusätzlich zur DVD-Dokumentation über die letzte Tour aus dem Herbst 2011 noch eine LP/CD Veröffentlichung kommt, lässt sich nicht genau sagen, aber sei's drum: auf ihrer Homepage haben sie das unten stehende Video hochgeladen, und besonders der Livemitschnitt spiegelt ein angemessenes Bild über die Kraft und die Aura dieser Band wider: "The best crowd-surfing we've seen since the "Even Flow" video."

Das war eine sehr coole Band.




"More", Thrill Jockey, 2009

29.06.2012

20.000 Jahre Knast

"Noch ist nicht endgültig über eine Zulassung der Monsanto-Sorte entschieden. Jetzt müssen die Kommission und die Mitgliedsländer über die Marktzulassung entscheiden."(Sueddeutsche.de, 25.05.2012) --> Link zum Artikel 

"Neun von 13 Experten in der Kommission für genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel und auch hochrangige Angestellte der Behörde stehen demnach in enger Verbindung zur Agroindustrie, zu industrienahen Verbänden und wissenschaftlichen Zirkeln, die den Einsatz von Gentechnik befürworten."(Sueddeutsche.de, 23.06.2012) --> Link zum Artikel



Und wenn dann der Puls schon ein bisschen hochgeklettert ist, dann empfehle ich diesen Vortrag von Jörg Bergstedt über die Verstrickungen der Gen-Lobby in Politik und Wirtschaft. Bergstedt ist Anarchist und Entwickler der „Kommunikationsguerilla“. Der Mann zerstört beispielsweise Gen-Felder, wofür er tatsächlich ins Gefängnis musste, und hat sich außerdem mit dem hessischen Ministerpräsidenten Volker "Wie Sexy Darf Politik Sein?" Bouffier angelegt.

Und weil alles, was mir zu diesen höchst unmoralischen Güllebehältern auf zwei Beinen, über die Bergstedt in seinem gut siebzigminütigen Vortrag spricht, sonst noch einfällt, höchstwahrscheinlich juristische Relevanz haben könnte, gehe ich mal flott mit dem Hund um die vier Ecken. Und atme durch.









19.06.2012

Tout Nouveau Tout Beau (3)


Neues im Plattenregal - dem Sommer angemessen heute mit einer Soul- und Arschwackelausgabe.




NICK WATERHOUSE - TIME'S ALL GONE 

Alleine die Verpackung ist in seiner Verneigung vor den großen Jazz-Artworks der 50er und 60er Jahre und in seiner einfach schönen Schlichtheit eine Sensation, der Inhalt scheint dieses Niveau mühelos zu halten: Soul, Jazz, R'n'B, und ein Umriss früher amerikanischer Rock'n'Roll-Ikonen schwappt durch dieses Album. Die beim Artwork angefangene Huldigung setzt sich bei der Produktion fort, und auch, wenn es mir grundlegend nicht schmeckt, das ganze Brimbamborium von "Magnetbändern, alles analog, Mono gemastert, whoah!" aufzuzählen, weil's halt am Ende auch nur eine Pose und damit scheißegal ist und weil davon kein Song besser oder schlechter wird, ist es wenigstens lohnenswert, darauf hinzuweisen, dass "Time's All Gone" tatsächlich wie eine Aufnahme aus den 60er Jahren klingt, und der erst 25-jährige Gitarrist und Sänger aus Südkalifornien seine Songs mit viel Herzblut und Liebe zum Detail aufhübscht. Der Groove ist funky und wieselflink, die Horn-Section bringt eine wilde Ausgelassenheit dazu, und ich hätte jetzt große Lust auf den Lautstärkepegel 11 und eine Apfelkuchenorgie. *krawatte lockert*

Erschienen auf Innovative Leisure, 2012.



  MONOPHONICS - IN YOUR BRAIN  

Ich hatte ja bereits an anderer Stelle auf die Monophonics aus Kaliformien hingewiesen, nun habe ich das Album auf dem Teller liegen und bin zufrieden, weil ich Euch nachweislich keinen Mist erzählt habe. Der einzige Grund, warum ich vor lauter Raserei noch nicht aus dem Fenster gehüpft bin: die Buben lassen es erstens um einiges relaxter angehen als beispielsweise die Labelkollegen von Orgone, und zweitens ist der Hippie- und Rockfaktor beim genauen Hinhören doch deutlicher wahrnehmbarer, als zunächst erwartet. Letzteres liegt vor allem an der Stimme von Sänger und Keyboarder Kelly Finnigan, der mich zuweilen schon arg an klassische Rockröhren erinnert. Es liest sich vielleicht enttäuschender, als es gemeint ist - ich höre die Platte oft und gerne. Vielleicht ist es meine Erwartungshaltung, die mir hier im Weg steht, es wäre nicht das erste Mal. Letzten Endes ist das großartige Soulmusik für den Pilztrip, für Beischlaf auf einem Feld voller Sonnenblumen und für (ausgezogene) Schlaghosen mit Pimmelmuster.

Erschienen auf Ubiquity, 2012.


 

THE GRITS - STRYCHNINE  

Ich wähnte die Band eigentlich schon in den ewigen Jagdgründen. Die offizielle Homepage ist abgeschaltet, auf Facebook hat sich seit drei Jahren nichts mehr getan und die MySpace-Seite ist seit 3.4.2009 verwaist (gut, wessen nicht?). Umso überraschter bin ich, diese um die Ecke segelnde 7-Inch plötzlich in den Händen zu halten. Die Grits haben mit ihrem starken, selbstbetitelten Debut aus dem Jahr 2008 einen Achtungserfolg erzielen können, danach ist offenbar nicht viel passiert. Ich lebe ja in Sachen "Recherche" nicht so wirklich hinter dem Mond, aber die Band scheint wirklich wie vom Erdbeben verschluckt. Dabei hätte der funky Garagensoul-Sound des Vierers aus Brighton beim derzeitigen musikalischen Klima ja gar keine so schlechten Chancen. Der Titeltrack lässt mich vergeblich eine Repeatfunktion bei meinem Plattenspieler herbeiwünschen; aus dem Proto-Punk der Sonics hat die Band einen funkigen, supercoolen, zersetzten Soulstampfer mit sexy-laszivem Gesang geformt, das ist großartig. Auf der Flip kommen mit "(I'd Walk A) Funky Mile" die siebziger etwas mehr in den Vordergrund und spätestens zur ersten Bridge wird's wild und roh und dirty. Was für eine geile Scheibe, mein Geheimtipp für diesen Monat.

Erschienen auf Mocambo, 2012.

17.06.2012

Erich-Fromm-Preis 2012

Der Kabarettist Georg Schramm erhielt den Erich-Fromm-Preis 2012. Ich habe Herrn Schramm bereits mehrfach auf diesem Blog erwähnt, es dürfte mittlerweile bekannt sein, dass ich ihn sehr schätze. Deshalb nun und an dieser Stelle ohne weiteren Kommentar seine komplette Rede beim Festakt im März 2012.

16.06.2012

Faith, Hope & Love by King's X - Teil 3




"Record companies? We tried to give Atlantic a done CD with nothing to do but throw it out there. They passed, saying they are only interested in new young bands." dUg Pinnick, 2006


Wie angedroht beende ich meinen kleinen King's X-Exkurs mit der Auflistung meiner fünf persönlichen Lieblingsalben. Es hat viel Spaß gemacht, sich knietief in die Geschichte der Band zu begeben und ganz persönlich gesprochen, meine eigene Vergangenheit mit diesen drei Typen Revue passieren zu lassen. Es ist vielleicht nicht immer erstrebenswert, sich derart in Vergangenem zu suhlen, aber diese "zweite Luft" bei einer Band zu bekommen, die man im Grunde schon immer in sein Herz geschlossen hatte, und plötzlich nochmal ganz neue Bilder und Eindrücke zu entdecken...das macht einfach großen Spaß.

Platz 5 - XV (2008)


 

Die aktuelle, 2008 erschienene Platte, die auch stellvertretend dafür in dieser Liste auftaucht, dass King's X immer noch existieren und nachwievor sehr gute Platten veröffentlichen. Zum zweiten Mal in Folge legte Michael Wagener Hand an die Produktion, und man hört's: "XV" klingt wie eine 1 mit Sternchen, ist aber auch poliert wie eine Bowlingkugel - das muss man abkönnen. Die Songs sind vielleicht die besten seit dem 1996er "Ear Candy"-Album und qualitativ gibt's mit "I Don't Know", "Move", "Alright" und "Go Tell Somebody" sogar ein paar Ausreißer nach oben.


Platz 4 - Out Of The Silent Planet (1988)



 Aus heutiger Sicht kann man über die damaligen Versuche, die Band in ein Genre zu pressen nur den Kopf schütteln. In Ermangelung besserer Alternativen wurde ihr nicht selten das Schildchen "Heavy Rock" aufgeklebt und jetzt möge man einen kurzen Gedanken daran verschwenden und sich erinnern: Heavy Rock im Jahr 1988? Das waren Bon Jovi und Mötley Crue. Sie alle werden von dieser Platte zu nichts als einem faden Nachgeschmack zerbröselt. Die Herzallerliebste wirft an dieser Stelle übrigens ein, dass das Trio schon immer ein bisschen cheesy war, und ich kann nicht wirklich protestieren. Aber diese Songs! "What Is This", "Visions", "In The New Age", "King", "Wonder" oder das unsterbliche "Goldilox" - man versteht, warum King's X hiermit soviel Staub aufwirbelten.

Platz 3 - Faith, Hope & Love (1990) 



Ein Bibelzizat auf Album Nummer drei war der endgültige Auslöser dafür, warum King's X künftig als christliche Rockband bezeichnet wurden. Als man den ganzen Christenclubs Jahre später berichtete, dass Basser und Sänger Doug homosexuell ist, wurden die Platten aus allen Läden entfernt und aus dem Verkauf genommen. Als mein erster musikalischer Berührungspunkt mit der Band hat die Platte einen Sonderstatus, aber den muss ich für die weitere Bewertung gar nicht bemühen. "Faith, Hope & Love" folgt grundlegend der Songstrategie der beiden Vorgänger, ist aber ausgereifter und einen Tick glatter. Das Ergebnis: "It's Love", die erfolgreichste Single. Die Folge: das bis heute bestverkaufte, erfolgreichste Album. Die A-Seite ist komplett und ohne weitere Diskussion anbetungswürdig.

Platz 2 - Gretchen Goes To Nebraska (1989)


 

Ihre ganz eigene Art Songs zu schreiben, behielten die Texaner nach dem Debut auch auf Album Nummer 2 bei. Und noch immer habe ich im Grunde keine Ahnung, was die hier spielen. Da ist ein bisschen Progressive Rock drin (allerdings eher Rush/King Crimson/Yes als Dream Theater), ein paar 70er Fliegenpilz-Psychedelica und bei den Gesängen tauchen unweigerlich die verdammten Beatles auf, aber dann wird die Luft schon dünn. Ihre Wechsel vom zart instrumentierten Satzgesang zu echten Keulenschwingerriffs sind schon harter Stoff - dass da ein Sänger am Mikro steht, der seine Stimmbänder in Richtung Gospelsoul vibrieren lässt, setzt aber noch einen drauf. Hinzu kommt der vielleicht seltsamste Gitarrensound der Rockgeschichte - wer interessiert ist, warum die Gitarren auf den ersten Bandalben so klingen wie sie klingen, der schaut sich diese Interviewsequenz mit Ty Tabor an: LEGENDARY TONES. Die Songs sind etwas bunter und satter als beim noch ganz leicht spröden Debut, und auch hier findet sich eine Legion an Klassikern: "Over My Head", "Summerland", Mission", "Pleiades" und "Fall On Me" sind strahlende Besipiele von zerberstender Einzigartigkeit und völlig klischeefreier Rockmusik.

 Platz 1 - Dogman (1994)


 

Was soll man noch zu diesem Album schreiben, außer vielleicht der Anmerkung über mein Unverständnis darüber, dass heutzutage jedem irrelevanten Scheißdreck, den schon bei der ersten Veröffentlichung kein Schwein interessiert hat, eine Wiederveröffentlichung als streng limitierte, bunt gesprenkelte, audiophile, sechsfach-Sondervinylpressung auf 800 gramm jungfräulichem Vinyl widerfährt, aber dieser Klassiker nachwievor unbeachtet bleibt . "Dogman" ist die Sternstunde einer Band, die unbedingt an die Spitze wollte. Krachend hart, brutal gut produziert (Der nicht unbedingt zu Superlativen neigende Lehrer spricht diesbezüglich gar von einer Referenzplatte) und 13 unwidersprochene Hits, plus einer "Manic Depression"-Coverversion. Egal, bei welchem Song man den Laser auf die Reise schickt, man trifft immer glorreiche Sternstunden außergewöhnlich guten Songwritings. Vielleicht setze ich mich in den kommenden Wochen mal auf den Hosenboden und erstelle DIE_LISTE mit den 20 besten Platten der neunziger Jahre - spätestens da liest man sich wieder. Viel besser als "Dogman" wird's nicht mehr.

Outro

Bevor ich nun den "Absenden"-Knopf drücke, möchte ich noch einen wichtigen Hinweis loswerden. Drummer Jerry Gaskill hat im vergangenen Februar einen Herzinfarkt erlitten. Er ist mittlerweile wieder auf den Beinen und spielt sogar mit den beiden Jungs im Herbst eine Tour duch die USA im Vorprogramm von Kansas, aber da Amerika das fortschrittlichste Land dieser Erde ist, das eine Krankenversicherung für die kommunistische Gängelung aller Freiheitsliebenden hält, die direkt aus dem brennenden Schlund der roten Khmer emporzüngelt, braucht der Mann Geld, um seine Behandlungskosten zu bezahlen. Molken Music, das Label des ehemaligen Galactic Cowboys-Gitarristen Wally Farkas, hat aus diesem Grund unter dem Namen "Burning Down Boston: Live at The Channel 6.12.91" eine Liveaufnahme von King's X veröffentlicht, die man kostenlos herunterladen kann. Verbunden mit diesem Download ist ein "Geschenk" von 20 Dollar, das Jerry direkt erreichen wird. Ich hab's gemacht und es tut gar nicht weh. Hier gibt's den Link und zusätzlich ein paar Erläuterungen: "Burning Down Boston: Live at The Channel 6.12.91"

Es ist nun aber an der Zeit, weiterzuziehen. 2012 verspricht schon wieder das beste Musikjahr seit 2011 zu werden, wenn ich meiner bisherigen - Achtung, Nerd-Alarm! - Excel-Auswertung vertraue.

Es gibt noch viel zu Hören.

15.06.2012

Faith, Hope & Love by King's X - Teil 2




"They probably rule just as hard on their homeplanet. I hope they never go back!" bikeface72, 2011


"Thank God For King's X!" George Lynch, 1988.


Es könnte ein seitenlanger Begeisterungssschrei werden, eine Jubelkaskade aus Gesabbertem mit der blindesten Verehrung gegenüber drei Musikern, wie sie dieser Blog praktisch alle drei Wochen mal sieht - andererseits:"Wo ein Begeisterter steht, ist der Gipfel der Welt.“(Karl Napp, quatsch: Eichendorff). Nun macht das Trio seit über dreißig Jahren in exakt jener Konstellation Musik; es gibt großartig absurde Anekdoten über die Auswahl von immer wieder neuen Bandnamen zu erzählen, es gäbe herzzerreißend Dramatisches zu berichten, es lassen sich sowohl große Glücksmomente, als auch ozeantiefe Verzweiflung und atemberaubende Tragik in dieser Geschichte finden. Eine Geschichte, die derart umfangreich ist, dass sie an dieser Stelle unmöglich angemessen betrachtet werden kann. Ich lege Wert auf die Feststellung, das es mich traurig stimmt. Aber wie soll ich 32 Jahre voller Irrsinn auf einen Blog pinseln?

Ich kenne den Namen King's X seit etwa 1989, als Andrea Nieradzik im Metal Hammer "Gretchen Goes To Nebraska", die damalige Platte des Monats, geradewegs überschwänglich rezensierte. Einige Monate später lernte ich das Album "Faith, Hope & Love" kennen und lieben. Und seitdem hat mich diese Band begleitet - bis ich sie circa im Jahr 2002 und aus heutiger Sicht völlig unverständlicherweise aus den Augen verlor. Weil ich offensichtlich nicht der einzige war, dem das so erging, folgten schwere Zeiten für die Band. Ein Erklärungsversuch (file under "Rechtfertigung"): meine damaligen Lebensumstände zwangen mich geradewegs dazu, ständig auf der Suche nach etwas Neuem, nach einem neuen Sound zu sein. Ich wollte überrascht werden, am besten jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Und King's X schafften das - wie viele andere Bands zu jener Zeit - nicht mehr für mich. Ihr "Tape Head"-Album aus dem Jahr 1998 war gut, es war härter und grooviger, viel kompakter. Und ich mochte die Platte wirklich sehr gerne, aber ich hatte nach einiger Zeit genug. Den Nachfolger "Welcome Home, Mr.Bulbous" kaufte ich im Grunde aus purer Loyalität. Nur damit kein falscher Eindruck entsteht: ich rede hier ausdrücklich von den Studioalben, nicht von ihrer Liveperformance. Live gehören King's X zu den fünf besten Livebands, die ich in den 23 Jahren, in denen ich mir auf Konzerten die Beine in den Bauch stand und mir die Knie kaputthoppste, habe erleben dürfen. Ihre Platten indes ließ ich für die folgenden Jahre im Regal stehen.

Die Ankündigung eines Livekonzerts im Colos-Saal in Aschaffenburg küsste mich nach Jahren des Dornröschenschlafs im März 2011 wieder wach: ich erinnerte mich an so manch alte Platte (die ich natürlich im Rahmen meines großen CD-Ausverkaufs längst verkauft hatte), erinnerte mich an das großartige Konzerterlebnis und begann damit, mir mit einer Mischung aus aufgehobenen und neu gekauften MP3s eine fiktive Setlist zu erstellen, um mich für das Konzert auf den aktuellen Stand zu bringen. Kurzum: ich verliebte mich neu in das Trio. Zunächst war da auch viel Romantik im Spiel, ein Erinnern an die 90er Jahre, in denen ich den Klassiker "Dogman" rauf und runter hörte. Und ich konnte mir auch wieder ansatzweise das damalige Lebensgefühl zurückholen, als ich "Ear Candy" über Wochen nicht mehr aus dem CD-Player bekam. Das mag für Dich alles nicht so irrsinnig verlockend erscheinen, andererseits habe ich immer öfter den Eindruck, dass ich meine Lebensgeschwindigkeit der letzten 15 Jahre damit erden, einfangen, austrocknen muss, indem ich mich an meine Jugend zurück erinnere. Damit ich kurzfristig einen Platz finden kann, an dem ich mich auskenne, der sicher war - und immer noch ist. Wir verlassen den Bereich der Latte Macchiato-Psychologie übrigens gleich wieder, genau genommen *uhrenvergleich* - jjjjj...jetzt!!

Das erwähnte Konzert war erneut fantastisch, auch wenn sich die Zuschauer vor elf Jahren deutlich mehr bewegten - gut, da waren auch alle elf Jahre jünger. Ich bin in dieser Zeit offensichtlich nicht gealtert, wie ich schnell hinzufügen möchte. Aber wie das aber so ist: keine Euphorie hält ewig. Ich legte ihre Platten im Vergleich zu den zehn vorangegangenen Jahren wieder bedeutend öfter auf, aber die ganz große Welle war erstmal wieder abgeebbt.

Ich habe nun allerhand in meiner Obenrum-Bumsbude gekramt, um herauszufinden, was mich zu diesem neuerlichen Rückfall geleitet hat. Seit gut drei Wochen hänge ich nämlich wieder an der King's X-Nadel, und es ist schlimmgeiler als jemals zuvor. Ich meine mich zu erinnern, dass ich urplötzlich Lust hatte, die beim letzten Konzert gekaufte Live-DVD nochmals anzuschauen, was an sich schon einem Wunder gleichkommt. Ich habe nicht viele Musik-DVDs und ehrlich gesagt schaue ich mir gerade eine Liveaufnahme kein zweites Mal an. Jedenfalls - ich betrachtete das alles also nochmal ganz genau: den langen Schlacks am Bass, der sich nicht mal bücken muss, um sich an seinen Knien zu kratzen und der trotz der mittlerweile unfassbaren 62 Lebensjahre immer noch eine faszinierende Stimme im Hals spazieren trägt. Diesen seltsamen Typen hinter dem Schlagzeug, der roboterhaft sein Kit vermöbelt und dabei bizarre Übersprungshandlungen mit seinem Gesicht aufführt. Dieser Punch! Wenn so ein Schlag anstatt der Snare mal zufällig meine Hand erwischt, liege ich bestimmt acht Monate mit Totaloperation im Spital. Und dann der Hippie-Gitarrist mit John Lennon-Brille, der so minimal-effektiv spielt wie ein Alex Lifeson von Rush, mit einem zu gleichen Teilen differenzierten als auch mörderisch fetten Sound und mit Riffs vom Schlage eines "Dogman" oder "Complain", die, hands fucking down, mit zum Besten zählen, was jemals den härteren Rock "representen" (Ulf, 24, Web-Entwickler, Berlin) durfte. Dann sehe ich den gut 600 Zuschauern vor der Bühne dabei zu, wie sie den Gesang von "Goldilox", dem Klassiker vom Debut "Out Of The Silent Planet", komplett übernehmen. Ich höre unglaubliche Versionen vom Break-Monster "We Were Born To Be Loved", an dessen Ende ich regelmäßig nur noch kopfschüttelnd den Unterkiefer in ein Kellergewölbe Deiner Wahl krachen lasse und von "Over My Head".

Ich erkannte plötzlich auch Elemente in ihrer Musik, die mir selbst zu meinen größten Fanboy-Zeiten verborgen blieben. Ich musste also 35 Jahre alt werden, um das ganz große Bild von King's X zu sehen. Den tödlichen Groove und die brillianten Gesangsharmonien habe ich bereits früher entdeckt. Was nun hinzukam: die Lässigkeit. Die Souveränität. Die unerhörte Originalität. Diese Selbstverständlichkeit. Und vor allem: das Zusammenspiel. Das können also 33 Jahre gemeinsames im Proberaum, in Studios und auf Bühnen stehen anrichten. It's a fucking long way to go.

Im dritten und letzten Huldigungsgesabber: meine fünf liebsten King's X Alben. Stay tuned. Oder auch nicht. Würde irgendwie auch passen.

10.06.2012

Thrasher!

Wir unterbrechen unsere King's X-Sondersendung für einen kurzen, aber dafür immens wichtigen Einkaufshinweis.

Das fortgeschrittene Thrash Metal Ohr, das alles vernichtende Hi-Speed-Bretter seines Lieblingsgenres den gelackten und schaumgebremsten aktuellen Veröffentlichungen vorzieht, darf sich ein ganz wunderbares Bonbon auf den Einkaufszettel kritzeln: "Spectrum Of Death" der Ami-Thrasher von Morbid Saint wird nach endlos erscheinenden zwei Jahrzehnten via Relapse Records auf Vinyl wiederveröffentlicht.



"Spectrum Of Death" ist eine völlig durchgedrehte, hyperintensive und chaotische Walze aus dem schnellsten und packendsten Thrash Metal aller Zeiten. Wer - wie der Autor dieser Zeilen - beispielsweise Dark Angels "Leave Scars" nur auf Knien hört, oder sich gegen eine aus- und hingerotzte Version des zweiten Demolition Hammer-Werks "Epidemic Of Violence" nicht wehren kann, darf völlig beruhigt zuschlagen, nachdem er sich die eigenen vier Wände mit ein bisschen Schaumstoff schön ausgepolstert hat.

Wenn der Thrash-Horizont indes bei Metallica und Anthrax endet: bitte gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu hören.

"Spectrum Of Death" erscheint am 19.6.2012 via Relapse Records.

09.06.2012

Faith, Hope & Love by King's X - Teil 1






"...und ihr werdet sie auch noch alle lieben, ich sage es euch!" Till Hofmeister, 1990

"We just can't get the folks on board. Woodstock '94 we played for 300.000 people, and the next week on SoundScan we sold about 200 CDs." Doug Pinnick, 2006


Im Winter des Jahres 1990 entdeckte ich als 13-jähriger Backfisch das Radio für mich, genauer gesagt eine Radiosendung des Hessischen Rundfunks. Till Hofmeister moderierte jeden Sonntagabend (es war doch Sonntags, oder?) für eine volle Stunde (es war doch eine volle Stunde, o...oder waren's sogar zwei?) "HR3 - Hard'n'Heavy" und führte uns alle lange vor diesem verrückten Internet durch die aktuellen Neuerscheinungen, eine Handvoll Klassiker und durch das ein oder andere Special mit vornehmlich einheimischen Bands wie Running Wild oder Headhunter. 

Ein Mal im Monat gab es den spannenden Hörercharts-Countdown; hier machten dann praktisch die Hörer mittels der Einsendungen ihrer 10 liebsten Alben das Programm. Im Rahmen eines solchen Countdowns fand meine erste Begegnung mit King's X statt: auf Platz 13 (es war doch Platz 13, oder?) stand in diesem Monat deren aktuelles "Faith, Hope & Love"-Album, und ich hörte Till zu:"Jetzt kommen wir zu meinen Lieblingen, und ihr werdet sie auch noch alle lieben, ich sage es euch. Hier sind King's X mit "The Fine Art Of Friendship". Ich zeichnete damals jede Sendung auf Tape auf, damit sich meine Mutter auf der täglichen Autofahrt zum Sport mit den neuesten Veröffentlichungen vertraut machen konnte - also all dem, was sie früher oder später sowieso aus dem Kinderzimmer hören würde. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich "The Fine Art Of Friendship" anfangs alles andere als berauschend fand. King's X hatten allerdings damals durchaus das Image, nach dem man ihrer Musik Zeit und ein paar Durchläufe zugestehen muss, bis der Groschen fällt, und dass man aber in diesem eintretenden Fall unsterblich und bis über beide Ohren in die Musik des Trios verliebt sein wird.

Es dauerte keine zwei Wochen und ich kaufte mir von den letzten Ersparnissen "Faith, Hope & Love".

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Meine Liebe zu King's X fand mit der Veröffentlichung des 1994er Albums "Dogman" ihren vorläufigen Höhepunkt. Das Trio klang härter und kompakter als jemals zuvor, und es war vor allem die Produktion, die für reihenweise heruntergeklappte Kinnladen sorgte. Die Gitarren waren tiefer gestimmt und auf diesem dunkler eingefärbten Klangteppich platzierte Gitarrist Ty Tabor einige der fettesten Riffs aller Zeiten. Der Titeltrack wurde zu einem einem kleinen Hit und nachdem sich die Vorgängeralben alle gut bis sehr gut verkauften, stand die Tür zum großen Erfolg in einer durch Grunge und Alternative veränderten Musikwelt sperrangelweit offen. Bei der Wiederauflage des Woodstock-Festivals im Jahr 1994 spielten King's X vor 300000 Menschen. MTV, Howard Stern und USA Today verbreiteten übereinstimmend die Meldung, dass die Band den großartigsten Auftritt des gesamten Tages auf das Parkett legte. In der kommenden Woche nach dem Festival verriet ein Blick auf die Verkaufszahlen von "Dogman", dass lumpige 200 Exemplare über die Ladentheke wanderten. "Dogman" verkaufte sich insgesamt im Vergleich zu den Vorgängern weniger gut. Der Druck nahm zu, das Label wollte endlich einen Mainstream-Hit. Die erste Headlinertournee durch Deutschland wurde zwei Wochen vor Tourneestart ersatzlos abgesagt. Alles wieder auf Null.

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Im Rahmen der Welttournee im Vorprogramm von AC/DC im Jahr 1990 spielten King's X erstmals in Deutschland. Die Tour endete desaströs. Dass die sturen und konservativen AC/DC-Fans die Band nicht mit offenen Armen empfangen würde, war abzusehen, dass dem Trio ein derartiger Hass entgegenschlagen sollte, hatte niemand auf dem Zettel. Als Höhepunkt der Geschmacklosigkeiten wurden King's X beim Auftritt in der Frankfurter Festhalle von den Zuschauern mit Klobürsten beworfen. In der Folge (und durch die Absage der "Dogman" Tour bestätigt), waren Doug Pinnick, Ty Tabor und Jerry Gaskill über 10 Jahre nicht auf deutschen Bühnen zu sehen. Im Sommer 2000 wurden die ersten Konzerte seit der AC/DC Katastrophe angekündigt und diesmal sollte es klappen. Die Batschkapp in Frankfurt war gut gefüllt und als ich mich während "Over My Head" umdrehte, um einen Eindruck von den Menschen hinter mir zu bekommen, sah ich nur eine sich im Rhythmus bewegende Masse Mensch. Der Club bebte. Als die Musiker nach "Over My Head" die Bühne verließen, sang die Batschkapp "Music music, I hear music, music, I hear music, music, music, oohoohohoooo, music over my head" minutenlang einfach alleine weiter. Die Band kam zurück auf die Bühne und stieg wieder in den Song ein. Das war ein Erlebnis von purem Glück. Als der Gig beendet war, verließ ich den Club und stammelte zur Herzallerliebsten in die Frankfurter Sommernacht "D...das ist die groovigste Band der Welt."


To be continued...

07.06.2012

Schweres Metall im Zeichen der Schaufel



NUCLEAR ASSAULT - HANDLE WITH CARE


Ein weiterer Beweis dafür, dass ich mich als zwölf, dreizehnjähriger Jüngling viel zu sehr von den Metalmagazinen wie dem Rockhard oder dem Metal Hammer verschaukeln ließ, ist das dritte Album der New Yorker Thrashband Nuclear Assault. "Game Over", das Debut des Quartetts um den ehemaligen Anthrax-Bassisten Dan Lilker, war eine der ersten Thrash Metal-Scheiben, die ich mir aus dem Plattenschrank meines Bruders zog und noch heute kenne ich fast jedes Riff und jeden Beckenschlag dieses Klassikers auswendig. In den darauffolgenden Jahren blätterte ich mehr und mehr in der Metalpresse, und die Urteile über die jeweils aktuellen Alben Nuclear Assaults kamen entweder immer seltener über "Durchschnitt" hinaus, oder sie galten auch künftig immer als eine kleine Enttäuschung - ironischerweise gilt das nicht für den bis dato vorläufigen und darüberhinaus grob unanständig miesen Schwanengesang "Something Wicked", der von Frank Albrecht 9,5 von 10 Punkte verliehen bekam - da muss der Inhalt einer Juniortüte wohl schlecht gewesen sein. 

Ich ließ also spätere Alben wie "Handle With Care" und "Out Of Order" links liegen und hörte weiter "Game Over" auf Frischhaltefolienstärke 'runter - bis ich mir vor wenigen Wochen "Scheißrein!" dachte und im Falle von "Handle With Care" endlich zuschlug. Einzig mögliche Reaktion nach den ersten Durchgängen: mir eigenhändig das Nudelholz überziehen! "Handle With Care" ist eine Riesenplatte und nur unwesentlich schwächer als "Game Over", die ja zusätzlich den verklärten Klassikerbonus von mir verliehen bekommt. Das Riffing ist nachwievor völlig einzigartig mitreißend, hinzu kommt der originelle Gesang von John Connelly und die gewohnte Crossover-Mischung aus Thrash Metal und Hardcore, die Songs wie "New Song", "Critical Mass" oder "Search & Seizure" (Hölle!) zu furiosen Thrash-Granaten werden lässt. Nächstes Projekt:"Out Of Order" entdecken.

Von Musikmagazinen halte ich mich übrigens schon seit Jahren fern. Ich bin geheilt.


Erschienen auf Under One Flag, 1989.

04.06.2012

Mittelalter



VATICAN SHADOW - KNEEL BEFORE RELIGIOUS ICONS


Es ist jetzt 21:30 Uhr, und die Zeiten, in denen ich mich an einem Freitagabend um diese Zeit auf die vielbeschworene und letztlich doch saudumm benamte "Piste" machte, sind in der Regel vorbei. Stattdessen habe ich mir eben gerade einen schönen Schokopudding gemacht und werde gleich die Kaffeemaschine nochmal anschmeißen. Wie sagenhaft uncool kann man sich bitte mit nur zwei Sätzen machen? Jedenfalls, und das ist jetzt sehr wichtig: "Kneel Before Religious Icons" dreht gerade eine der ungezählten Male auf meinem Plattenteller und macht diesen Augenblick zu etwas ganz Besonderem, denn das ist eine große Platte. Obwohl sie so gar nicht so meinem Schokopuddingirrsinn passen mag, denn die Beats und Sounds, die Dominick Fernow hier auspackt, sind giftig und garstig, bisweilen zerstörerisch und apokalyptisch - das passt nicht zum eingekuschelten Abend im Mai (bei gefühlten 9°C, nebenbei gemerkt).

Erstmals im Jahr 2010 auf Tape erschienen und vor wenigen Wochen via Type auf Vinyl verewigt, verbindet Fernow Elemente des frühen Dark Wave mit der kühl glänzenden Moderne einer Platte von Kangding Ray und packt die Atmosphäre von Dead Can Dance dazu, der er allerdings jegliche Schönheit, und Romantik entzogen hat. Ein gespenstisches, dramatisches und monoton-rituelles Werk. Hört man vorzugsweise....naja: an einem Freitagabend mit Schokopudding und Kaffee. Oder bei einer Kniegelenkspiegelung ohne Narkose, ganz nach Neigung.


Erschienen auf Type 2012.


30.05.2012

Heptadekagon



EVAN CAMINITI - NIGHT DUST


Wenn der Tag geht und ich es mir mit einem Tässchen Fliegenpilzsuppe gemütlich gemacht habe, wenn ich die Allee aus Kerzen vor mir entzündet und die Unterhose gelüftet habe, wenn mich also DIE_WELT mal schön am Popöchen kratzen kann, dann ist die Zeit für ein Album gekommen, das just zu solchen Momenten ganz hervorragend zu funktionieren scheint. Der Sommerabend auf der Couch (weil der Balkon zu klein/zu baufällig/zu tralala ist, Zutreffendes bitte abpausen), die sanft zum Fenster hereinwehende Brise, die Ruhe und die Abgeschiedenheit: ich habe gerade großen Spaß mit "Night Dust". Caminiti untersucht seit 2005 die Auswirkungen von Gitarrendrones und Feedbacks auf seinen Kontostand, Quatsch: die Entwicklungsmöglichkeiten seiner Musik und nach einigen Veröffentlichungen von Barn Owl (zusammen mit dem gleichfalls an dieser Stelle vorgestellten und gefeierten Jon Porras) auf Labels wie Thrill Jockey, Important, Root Strata oder auch Digitalis steht nun das Debut für Immune bereit. 

Aufgenommen auf einem 4-Spur-Kasettenrekorder entwickelt die Art seines Spiels eine eigenwillige Tiefe, als schaue man vom 118.Stockwerk eines Hauses auf ein sechzehneckiges Treppenhaus hinunter. Es funkelt und dreht sich, es verschwimmt vor den Ohren. Also die Musik jetzt. Nicht das Treppenhaus. Mal sind seine oftmals nur angerissenen Klangtürme monumental in die Breite gezerrt, mal glaubt man, die langgezogenen, schwebenden und flächigen Soundscapes könnten über Wasser laufen. Oder sie seien wenigstens im Wasser komponiert worden. Oder noch besser:"Night Dust" klingt, als hätte man Klang "Nass in Nass" auf eine Schallplatte gepresst. Apropos, das Labelinfo schwärmt:

"Mastered and cut to vinyl by Andreas [LUPO] Lubich at D&M in Berlin, pressed on high-quality virgin vinyl at RTI and housed in a heavy-duty old-style tip-on gatefold jacket printed on uncoated stock by Stoughton. Also included is a free download coupon." 

Und was soll ich sagen? Immune frohlocken völlig zurecht. Das Artwork und die Aufmachung des Klappcovers sind eine Sensation, zusammen mit der Musik ergibt sich: pure Schönheit.

Erschienen auf Immune, 2012.

26.05.2012

Pinkish Fucking Black



PINKISH BLACK - PINKISH BLACK

Erst seit einigen Tagen in den vier Wänden, dafür aber umso tiefer im Herzen ist die Platte des texanischen Duos Pinkish Black, bestehend aus Daron Beck (ex-Pointy Shoe Factory) and Jon Teague (ex-Yeti), die zuletzt mit dem leider verstorbenen Bassisten Tommy Atkins als The Great Tyrant auftraten. Ich stolperte nur zufällig über den Bandnamen und das Labelinfo, das von der besten Platte des Jahres (logo!) sprach, und ich wollte wenigstens ein Ohr riskieren, um mich hinterher wie gewohnt künstlich über soviel Realitätsverlust zu beschweren. Es kam alles ganz anders: der Opener "Bodies In Tow" bekam auf Youtube ein verstörendes Video übergezogen und er lässt sich mich seitdem nicht mehr los - eine ganz obskure Mischung aus Dark Wave, Postrock und Doom Metal: monoton, auf's erste Hör nicht besonders komplex, aber der Song lebt. Und er verfolgt dich. Das ist wirklich merkwürdig, ich habe sowas schon lange nicht mehr erlebt, dass mich ein Song so gepackt hat, obwohl die Musik im Grunde nicht wirklich dem entspricht, wofür ich mittlerweile und üblicherweise empfänglich bin. Spätestens wenn die Band im hinteren Drittel die ganz großen Emotionen auspackt und die Gesangsmelodie auf die unendliche Reise in eine andere Zeit schickt, ist alles zu spät. Ein paar Tage später musste ich mich folgerichtig ergeben und bestellte ohne weitere Hörproben das Album (und das alleine könnte einen Hinweis für meine Faszination liefern) und es geht mir praktisch nicht mehr aus dem Kopf. Es ist besonders der Gesang, der mich heiß und fettig werden lässt - hinter einem Nebelschleier im Hintergrund des Sounds versteckt, singt Daron Beck dunkle, geheimnisvolle Melodien, die mich nicht selten an den großartigen Robert Lowe von Solitude Aeturnus erinnern, und manchmal, wie bei "Everything Went Dark" kommen auch mal Candlemass-Harmonien von Messiah Marcolin in den Sinn. Als ich, immer noch reichlich verwirrt über die magntische Anziehungskraft dieser Platte, die Herzallerliebste fragte, ob sie dafür eine Erklärung hat, hörte ich:"Da steckt halt ganz viel drin, was Dir gefällt - Dead Can Dance, Solitude Aeturnus...ist doch logisch, dass Du das magst!" Ja. Irgendwie ist's dann doch logisch.

Seit einigen Tagen ist "Pinkish Black" bei Bandcamp per Download für schlappe 7 US-Dollar zu erwerben - wer bei den oben genannten Bands die Ohren gespitzt hat, der darf beruhigt zuschlagen.


Erschienen auf Handmade Birds, 2012.

23.05.2012

Dream Team




JACKIE MCLEAN - ONE STEP BEYOND


Es ist merkwürdig, ist es nicht? Vor einigen Jahren entdeckte ich den Jazz für mich und im Zuge der Abenteuerreise durch die Jazzplatten dieser Welt rempelten mich die Insassen des Jazzforums von Frank Schindelbeck irgendwann an den Saxofonisten Jackie McLean an. Das war der Startschuss für eine langanhaltende Liebesbeziehung zwischen mir und einem Mann, der letzten Endes zusammen mit vielleicht einer Handvoll weiterer Jazzmusiker dafür verantwortlich ist, dass ich auch heute noch jeden Besuch eines Plattenladens niemals abschließe, ohne nach mindestens eine seiner Platten gefragt zu haben. Überflüssig zu erwähnen, dass ich meistens leer ausgehe; zwar wurden viele seiner Blue Note und Prestige-Arbeiten auf CD wiederveröffentlicht, auf Vinyl wird es aber entweder zappenduster oder zappenteuer. Also blieb mir oft nichts anderes über, als zur schnöden CD zu greifen. Wie auch in diesem Fall.

Was nun merkwürdig ist: "One Step Beyond" steht seit über drei Jahren im Umkreis des CD Players herum, und seit drei Jahren versuche ich erstens diese Musik zu entschlüsseln und zweitens im Anschluss darüber zu schreiben. Und ich habe es bis heute nicht getan - was daran liegen könnte, dass mir für so vieles, was hier passiert tatsächlich die Worte fehlen. Dabei löst alleine die Aufzählung des Line-Ups Lustschreie aus: Neben dem Leader McLean spielen Eddie Khan am Bass, Tony Williams am Schlagzeug, der großartige Bobby Hutcherson am Vibraphon und mein erklärter Liebling Grachan Moncur III an der Posaune. Eine Besetzung, die in ähnlicher Zusammenstellung noch für zwei weitere Alben Bestand hat: McLeans "Destination Out" und Moncurs Meilenstein "Evolution" (hier noch zusätzlich mit Lee Morgan an der Trompete) tapezieren im Prinzip ein ganzes Genre neu zusammen, und wie soll ich's beschreiben? Auf "One Step Beyond" lassen sich zwei Kompositionen des Saxofonisten finden - "Saturday And Sunday", ein flotter Opener mit halsbrecherischem Drumming von Williams, dessen Tom- und Ridebeckenarbeit den Song mit derart viel Drive füttert, dass Eddie Khan im nur im Eiltempo folgen kann. Es wäre ein Erlebnis, alleine die Rythmusspuren dieses Titels zu hören. Dass Kahn zu diesem Zeitpunkt erst seit ein paar Jahren den Bass spielte, erscheint gänzlich unglaublich, aber es ist wahr: er wechselte erst wenige Jahre zuvor vom Saxofon zum Bass. Interessant ist der wahrnehmbare Schnitt zwischen dem, was den Samstag darstellen soll, nämlich eine offene, freundliche Stimmung, während der Sonntag McLeans Erfahrungen seiner Kindheit widerspiegelt, mit zwei Stunden Sonntagsschule und einem anschließenden, dreistündigen Aufenthalt in der Kirche. "After four hours in church, everyone looked like Frankenstein's with whigs and dresses." Die zweite McLean Komposition heißt "Blue Rondo", einer seiner Klassiker und ebenfalls ein wieselflinkes Uptempo-Stück mit stattlicher Hooklinemelodie, die Moncur und McLean spontan entwickelten, während sie mit ein paar Ideen und Melodien herumalberten.

Die große Stunde von Grachan Moncur III schlägt in seinen Beiträgen "Frankenstein" und "Ghost Town". Ersterer ist ein Walzer in dunkel schimmernder Schönheit, "its beauty stands for everything that Frankenstein does not." (McLean), dessen Auftakt und Abschluss wie eine Revuenummer from outer space klingt. Es ist eine schleppende, weite und kaputt wirkende Sause von über 8 Minuten Länge - megakompakt, aber es sind vor allem Hutcherson und Moncur, die paradoxerweise atmosphärisch und tonal diese immensen Lücken reißen. Das ultimativ betitelte "Ghost Town" von Moncur III setzt "One Step Beyond" die Krone auf. Moncur sagte mal in einem Interview, dass er den Songwritingprozess immer als einen Prozess des Malens von Bildern betrachtete, und hier hat er die Geisterstadt punktgenau getroffen. Es weht ein Hauch von Traurigkeit und Isolation durch dieses Bild, die verlassenen und mittlerweile windschiefen Hütten haben bessere Tage gesehen, die Türen und Fenster hängen aus den Angeln - aber da ist auch ein abstrakter und morbider Humor, der sein Werk führt - nicht nur im Besonderen, sondern auch im Grundsätzlichen. Diese fünf jungen Burschen haben damals wirklich nach einem neuen Sound geforscht, ohne gleich die Coleman'sche Freejazz-Keule herauszuholen. Der Weg, den Jackie McLean mit diesem Linie-Up eingeschlagen hat, ist gleichermaßen provokativ wie auch versöhnlich und künstlerisch gleich ein paar Schritte vor der versammelten Konkurrenz der damaligen Szene. Schließlich ist der Titel sicher nicht ohne Bedacht gewählt. "One Step Beyond" wird im April 2013 unglaubliche 50 Jahre alt - bis heute ist es keinen Tag gealtert.


Erschienen auf Blue Note, 1963.