17.02.2012

2011 #3 - The Necks °° Mindset



Bei jedem neuen The Necks-Album stelle ich mir die Frage: wie machen die das bloß? Wie können die nur die Spannung und den Fokus immer auf derart hohem Niveau halten, obwohl die überlangen Tracks - meist besteht ein Album nur aus einer einzigen, etwa einstündigen Improvisation - nicht unbedingt mit Variantenreichtum glänzen; das gilt wenigstens für den großen Entwurf ihres Sounds, während die Details so  massiv sind, dass mein Hirn damit geflutet wird. Das Jazzambient Trio aus dem australischen Sydney hantiert in erster Linie mit einem ausgeklügelten Aufbau ihres Systems, mit Wiederholungen, mit Elementen des Noise. Sie entwickeln eine Idee mit erstaunlicher Präzision, und das praktisch aus dem Nichts. Es ist beinahe eine Spur beängstigend, dass sich am Ende eines Songs das Gefühl einstellt, als ginge er geradewegs wieder ins Nichts zurück.

Und man kann ihm dabei zusehen. Unheimlich.

Seit den achtziger Jahren spielt die Band in derselben Besetzung. Lloyd Swanton am Bass, Chris Abrahams am Piano und Tony Buck am Schlagzeug veröffentlichen seit 1989 ihre Platten mit erwähntem, immer ähnlichem Schema. "Mindset" verblüfft zunächst mit seinem Zwei-Song-Aufbau, der sich offensichtlich an die Vinylversion des Albums anpasst und damit nochmals an Kraft und Spannung gewinnt; es ist übrigens das erste Mal, dass ein Album der Necks auf Schallplatte erscheint. Auch der Einstieg in ihr vierzehntes Studioalbum gerät mit "Rum Jungle" zu einer Überraschung: die Band ist sofort im Spiel und stampft mit einem schnarrendem Puls, den es komplett aus der Taktung gerissen hat, in das nächste Abenteuer. Der Beginn des Stücks erinnert mit seiner Schärfe gar an die weniger galligen Momente der Power Electronics-Pioniere Whitehouse, bevor nach einigen Minuten das Piano für die ersten Harmonie- und Farbtupfer sorgt. Spätestens hier fallen dann auch alle Hüllen: die Konturen, die dieser Sound plötzlich durch minimale Melodie- und Harmonieverschiebungen geschenkt bekommt, bilden innerhalb von Sekunden den Charakter von "Rum Jungle" heraus. Es ist, als entfaltet sich ein Nest, knisternd und glänzend. Ich sehe es förmlich vor meinen Augen. "Daylights" auf der B-Seite ist dann der Knüller: ein zwanzigminütiges, meditatives Jazz-Geraschel, ausgeschnitten aus einem Pilztrip des frühen Brian Eno und verfeinert mit funny Spielereien aus dem elektronischen Bienenstock. Das Piano tastet sich durch sämtliche Auflösungen der Akkorde, suchend und flimmernd suppt der Bass durch zwei Figuren, die sich wie Honig durch das Ohr walzen und das Schlagzeug...ja, dieses Schlagzeug. Ein irrer Ritt auf den dünnen Rändern des Blechs, unaufhaltsam, kakophonisch - und mit strahlender Eleganz.

Erschienen auf ReR/megacorp, 2011.

12.02.2012

2011 #4 - Gil Scott-Heron & Jamie XX °° We're New Here


Schon wieder ein Remixalbum! Herr Dreipunktfünfneun, so geht das aber nicht.

Zumal ein ebensolches, das wenigstens im hiesigen Blätterwald nicht ausschließlich wohlwollend aufgenommen wurde - was bei näherer Betrachtung in der Regel ja eher dazu berechtigt, hier Erwähnung zu finden. Aber wir kommen nicht drumherum - und ich komme nicht drüber weg, wie fantastisch "We're New Here" geworden ist. Hinzu kommt die Tragik, denn es wird das letzte Album von Gil Scott-Heron sein, das wir zu hören bekommen. Der alte Mann des politischen Souls, der erst im Jahr 2010 mit dem großen Comeback "I'm New Here" für Aufruhr sorgte, starb am 27.5.2011 in New York. Er wurde 62 Jahre alt.

Noch zu Scott-Herons Lebzeiten setzte sich Jamie XX mit dem erwähnten Spätwerk auseinander, und auch wenn es durchaus erwartbar war, dass der The XX-Tüftler keinen Stein mehr auf dem anderen lassen würde, war meine Verwirrung zu Beginn nicht unerheblich. So ist das mit Erwartungshaltungen, und wenn der Groschen schlussendlich gefallen ist, wenn man also verstanden oder meinetwegen auch akzeptiert hat, dass Remixalben in der Regel immer dann am spannendsten sind, wenn sie mit der Originalvorlage so gut wie nichts mehr gemeinsam haben, dann geht die Sonne auf. Jamie XX hat nicht nur Dubstep, House und Fummelelectronica in Songs verwoben, die das eigentlich gar nicht vertragen dürften, er hat auch - und das ist das viel größere Rad, an dem er dreht - das abgeschlossene System von "I'm New Here" und dessen brodelnde Dramatik aufgebrochen. Das mag zu Beginn und bei grundlegend oberflächlicher Betrachtung schwerverdaulich sein; die Verbindungen, die Jamie XX jedoch zwischen seiner Musik und der Stimme und der Poesie Scott-Herons zieht, und die Tiefe, das spürbare Verlangen, "We're New Here" zu einem ähnlich intensiven und urbanen Werk wie das Original werden zu lassen, entfalten sich bei ständiger Dosierung wie ein Chicorée im Schnellkochtopf.

Es überrascht mich nachwievor, das viele professionelle Schreiber die "Kälte der Tanzfläche" und die "Unvereinbarkeit" der beiden Genres erwähnten, die sich durch das Album ziehen würden. Besonders der letztgenannte Kritikpunkt ist ja angesichts der lediglich vereinzelt auftauchenden Stimme Scott-Herons als einzige Tangente zum Soul, geradewegs grotesk, aber sei's drum, man gewöhnt sich dran. Es ist womöglich auch das Hype-Schreckgespenst, das es dem ein oder anderen geradewegs verboten hat zu erkennen, was spätestens beim Geniestreich "I'll Take Care Of You" zum großen Finale so klar wie Spucke wird: auch Jamie XX hat den großen dramaturgischen Bogen gespannt wie es schon "I'm New Here" tat, und urplötzlich macht jede einzelne Sekunde dieses bis dato gehörten Albums Sinn: es geht um Liebe und Respekt, es geht um die Vereinigung und es geht um die Suche nach dem Leben. Er hat die Weisheit von "I'm New Here" zusammen mit Gil Scott-Heron für die nächste Generation übersetzt. Das ist sehr versöhnlich. Und es macht Mut.


Erschienen auf XL Recordings, 2011.

04.02.2012

2011 #5 - Grace Jones °° Hurricane Dub


Ein Remixalbum in den Jahrescharts, sind wir soweit? - Wir sind soweit, sonst würde ich ja kein Remixalbum in die Jahrescharts aufnehmen. 'kay? 'kay!

Nach langem Zögern traute ich mich nun final im Oktober des abgelaufenen Jahres an ein paar Sätze zum drei Jahre zuvor in Europa erschienenen "Hurricane"-Comebackalbum von Grace Jones. Wir müssen das dort zur Person und Musik und Geschichte verschwurbelte "Schisselaweng" (Mama) nun nicht zwangsläufig wiederkäuen, zumal es uns für diese Remixplatte sowieso nur bedingt weiterhelfen würde.

Die Amerikaner mussten länger als die Europäer auf "Hurricane" warten, das in den USA mit dreijähriger Verspätung erst im September 2011 erschien. Damit das Album auch im Rest der Welt nochmal einen kleinen Aufmerksamkeitsschub erhalten konnte, packte Die_Jones parallel das von Produzent Ivor Guest zusammengepuzzelte "Hurricane Dub" Remixalbum für den Rest der Welt aus - dieses Mal dankenswerterweise auf Doppelvinyl, im Klappcover und mit einem tollen Artwork reich beschenkt.
Die Vinylnerds hofften schon 2008 auf eine offizielle "Hurricane" Schallplatte, wurden zunächst über Monate hingehalten - und dann doch enttäuscht. Okay, zugegeben...es gab da diese ominöse, auf 500 Stück limitierte Vinylpressung. In diesem Zusammenhang: hat jemand 300 britische Pfund über?

Auch die Dub-Scheibe beginnt, wie die Originalfassung, mit den bereits legendären Worten "This is my voice, my weapon of choice" - ein Motto, das wenigstens wörtlich als eine der wenigen Bezugspunkte geblieben ist. Ivor Guest hat ansonsten fast keinen Stein mehr auf dem anderen stehen lassen. Die ursprünglichen Versionen sind nur noch durch wenige im Dickicht existente, neuralgische Punkte zu erkennen. Kleine Widerhaken wie die gesprochene Zeile "I consume my consumers" aus dem Hit "Corporate Cannibal", oder winzige Teile aus dem nachwievor umwerfend gesungenen Titeltrack erscheinen vertraut, darüber hinaus knüpft Guest eine subterrane Beat-Hecke mit Dornen und Rosen, die jedes vormals bekannte Element beim Passieren derart auseianderfetzt, das manchmal außer einem tiefen Bassdunst nur noch wenig mehr als ebenjener überbleibt. Damit wir uns dennoch nicht falsch verstehen: "Hurricane Dub" ist kein Nerd-Album für Soundfetischisten. Also, nicht nur. Vor allem der Bass, der seinen Ursprung kurz vor dem Erdkern haben muss, pumpt und zerrt derart beeindruckend mächtig, dass ich beim Gedanken an eine Nacht im Club mit diesen Monstern vereinzelte Euphorieflatulenzen bekomme. Aber Guest bietet viel mehr als die offensichtliche Fleischbeschau; ihm ist es trotz aller Abstraktion und Dekonstruktion einerseits und dem gepimpten, urbanen und modernen Sound gelungen, die dunkle Pop-Aura Grace Jones' in seiner Nachbearbeitung nicht aus den Augen zu verlieren, sondern die ihr innewohnende Mystik und Dramatik und das androgyne Element noch zu verstärken.

Das nennt man dann wohl maßgeschneidert.

Erschienen auf Wall Of Sound, 2011.

02.02.2012

2011 #6 - Balam Acab °° Wander / Wonder



Die auseinandergetupften und sich wie heißer Wasserdampf in der Luft auflösenden Pianonoten in "Await", und die Gesangsamples, die wie ein Perpetuum Mobile über einer flammenden Kerze entlanggleiten, hochgepitcht wie man es schon in Technoproduktionen der neunziger Jahre hören konnte, sind so ein neuralgischer Moment von "Wander/Wonder". Soll ein Funken Erkenntnis in dieses dunkle und mystische Album einfließen, dann funktioniert das über solch fokussierte Destillate am besten. Spätestens hier, kurz vor Ende einer vorbildlich zusammengestellten Sammlung von Ideen und Ausführungen, lege ich mich meist beruhigt zurück. Die dargestellte Weite ist derart einnehmend, dass sie als natürliches Opiat wirken kann. Schmerzbefreiend und, je nach Dosis, ganz dezent suchterzeugend.

Es ist schwer in Worte zu fassen, was hier passiert. Ganz offensichtlich war ich in dieser Hinsicht nicht alleine: wer Balam Acabs Debut-EP "See Birds" aus dem Spätsommer 2010 kennen- und liebenlernte, stand vor "Wander / Wonder" zunächst mal mit einem Fragezeichen auf der LSD-Party herum. Der erst zwanzigjährige Alec Koone aus Pennsylvania taucht mit seinen acht Tracks in die musikalische Tiefsee hinab und holt Field Recordings, kratzende, verschleierte Beats und surreale Soulstimmen-Samples vom Meeresgrund empor. Sehr angenehm ist in diesem Zusammenhang das Fehlen von Brüchen in den Songtexturen; "Wander/Wonder" ist durchgängig tief romantisch und kreist ohne jede Delle auf seiner Umlaufbahn. Dabei hat Koon sein erstes vollständiges Album für das immer weiter aufsteigende Tri Angle-Label ein ganzes Stück langsamer als "See Birds" gestaltet und ist gleichzeitig songorientierter und atmosphärischer geworden. Letzteres wird in Momenten wie dem weiter oben ausgeführten deutlich - da ist fast nichts, aber es trägt das Gewicht der Welt auf den schwankenden Schultern.

Im Hintergrund rauscht, knackt und prasselt es - gar nicht selten wird Wasser zum bestimmenden Element einer Platte, die dafür das exakt stimmige und darüber hinaus großartige Artwork übergestreift bekam. In die Unterwasserhöhle dringt frisches Licht, belebend und wunderschön.

Erschienen auf Tri Angle, 2011.

29.01.2012

2011 #7 - Fabric °° A Sort Of Radiance


Das erste Album von Multiinstrumentalist Matthew Mullane unter dem Fabric-Banner ist gleichzeitig die Premiere für das Editions Mego Sublabel Spectrum Spools, das Peter Rehberg gemeinsam mit Emeralds John Elliot ins Leben gerufen hat. Nach mehreren Tape- und Split-Veröffentlichungen Mullanes, die praktisch unsichtbar waren (und leider vermutlich auch bleiben werden), ist "A Sort Of Radiance" ein Rundumschlag auf fast jeder verfügbaren Ebene. Ich glaube, es gab im abgelaufenen Jahr nur wenige Platten, die häufiger auf dem Plattenteller landeten und ich sehe auch im Jahr 2012 noch keinen Grund, sie aus dem obligaten Stapel vor der Anlage zu entfernen. Mullanes Musik ist wie gemacht für meinen Lebenswandel: sitze ich im Home Office, lässt Fabric die ultraviolett glänzenden Strahlen seiner Musik sichtbar durch meinen morgentlichen Kaffeedampf tauchen. Beende ich einen furchtbar anstrengenden Tag und sitzliege nachts um 2 Uhr noch völlig zerschossen auf der Couch, im Kerzenschein, bei Rotwein und im seeligen Muff einer [zensiert], begleitet Fabric die bereits im Museum für Moderne Kunst ausgestopfte Denkmurmel ins Reich der Daunendecken und Schlummertrunks, ergo ins Schattenreich von James T.Kirk - "offensichtlich ein Däne, das T. steht für Sören, wissen die wenigsten" (Malmsheimer), der sein Raumschiff behutsam durch einen Meteoritengürtel navigiert. Ich schweife ab. Aber, und das ist jetzt wichtig, ich habe diese, wie soll ich's sagen...Funktion von Musik sehr zu schätzen gelernt. Und: kann man einen Tag besser beginnen als mit "A Sort Of Radiance"? Ja, man kann, aber dazu kommen wir später. Vielleicht Mitte Februar. Jedenfalls: es gibt auch hier nicht viel, was 2011 an dieser Musik vorbeikam.

So friedlich und beruhigend, zu gleichen Teilen tief und inspiriert zeigt sich hier eine Musik, die sich, ähnlich wie Ricardo Donosos Werk "Progress Chance", mit jeder weitergehenden Auseinandersetzung zu einer anderen Projektion und Aura empormorpht. So schöpft "A Sort Of Radiance" trotz der offenkundigen musikalischen Parataxe (ein neues Wort, ein neues Wort!) eine ungeheure Spannung aus der Verschiebung von Rhythmus und Fläche und aus der Auffächerung von sich sorgfältig entwickelnden Strukturen, die in melancholisch schimmernde Auffangbecken fließen. Hier kommt am Ende alles zusammen; es ist eine Betrachtung der Welt durch ein Prisma. Am Ende ist alles Eins und die Abkopplung ist eine Illusion.

Erschienen auf Spectrum Spools, 2011.

25.01.2012

2011 #8 - Charles Bradley °° No Time For Dreaming



Ich hörte im März des vergangenen Jahres zum ersten Mal von Charles Bradley, diesem mysteriösen Mann, der 1962 im Apollo Theater von James Brown erleuchtet wurde, der seinen Job als Küchenchef schmiss und seitdem als übersichtlich erfolgreicher Zeremonienmeister des Soul durch kleine Clubs tingelte und unter anderem Songs seines großen Vorbilds interpretierte. Wie schon bei der gleichfalls in der bisherigen Jahresbestenliste gefeierten Sharon Jones sind das die Geschichten, die die Menschen immer noch faszinieren. Also wenigstens mich kleinen Naivling.

"The World (Is Going Up In Flames)" war die erste offizielle Video-Singleauskoppelung eines Albums, das nicht wirklich aus dem Nichts kam: nach seiner Entdeckung durch den Daptone Records Labelchef Gabriel Roth im Jahr 2002 - selbstredend bei einer James Brown Tribute-Show - erschienen nicht weniger als sieben Singles, die zum einem Teil bereits die Songs von "No Time For Dreaming" vorwegnahmen. Ich sah das Video zum erwähnten Song, und ich muss zugeben, dass ich sofort zappelnd am Haken hing. Mit der Menahan Street Band im Rücken hat Bradley genau das richtige Fundament für seine rauhe und kratzige Stimme, die sein Leben in Worte und Töne verpackt, die alles herausschreit und die, so scheint's, seine Seele heilt. Die Band spielt keinen Hurra-Soul, sie reagiert auf die sozialkritischen und sehr persönlichen Texte mit viel Raum, mit viel Melancholie und groovt, von gelegentlichen Ausreißern, wie der tollen Trompete bei "How Long" oder dem kurzen Instrumental-Interlude "Since Your Last Goodbye" abgesehen, nicht selten als ein Kollektiv aus Strippenziehern im Hintergrund souverän vor sich hin.

Die Produktion folgt dieser Marschrichtung: sie lässt einige freie Flächen für den nötigen Schmutz zwischen Mikrofonständer, verhuschter Gitarre und der schnorchelnden Orgel herumliegen, um "No Time For Dreaming" nicht zu einer aalglatten Altherrenveranstaltung verkommen zu lassen. Ganz im Gegenteil, und das ist vielleicht das überraschendste Element dieses Albums: selbst wenn der Sound und die gesamte Ästhetik ganz klar auf den Soul und Blues der 60er und 70er Jahre setzen, klingt "No Time For Dreaming" trotz allem nicht alt, sondern modern und im Ganzen durchaus zeitlos. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass mir persönlich nur wenig an der Rückschau als Vergangenheitsbewältigung liegt. Ich lebe hier und heute und es fühlte sich komplett falsch an, würde ich einen Mann wie Charles Bradley in die große Schublade der manischen Zurückblicker stecken, die den Retro-Soul zum Zweck des sich füllenden goldenen Sparschweins durch das Dorf treiben.

Charles Bradley ist viel mehr als das. Das kann man hören. Das lässt sich aber auch spüren.

Erschienen auf Dunham Records, 2011.

23.01.2012

2011 #09 - Mark McGuire °° Get Lost


"Get Lost" war mein Wohlfühlalbum des Jahres 2011. Und wo das gesagt ist: rückblickend lässt sich sicher sagen, dass mir all zu garstiger Lärm und Krach in vergangenem Jahr wahrlich nicht zu nahe kam - sieht man von den regelmäßigen Proben und Auftritten mit meinen beiden Bands mal ab. Der Sprung (in der Schüssel) zwischen dem, was sich zumeist privat auf dem Plattenteller dreht und dem, was ich selbst spiele und singe, wurde 2011 deutlich größer. Das zweite vollständige Soloalbum des Emeralds-Gitarristen Mark McGuire hat auf diesem Weg durchaus ein paar Wegweiser gesetzt.

Musik ist Inspiration. Die Bilder und Farben, die mir "Get Lost" geradewegs in die Seele tätowiert, möchte ich nicht mehr missen. Es ist eine Sommerplatte; eine Musik, die im Grunde mit nicht sehr überdimensionierten Mitteln sogar das Riech- und Geschmackszentrum aktiviert, weil Du plötzlich die reine, klare Sommerluft an einem just erwachenden Sommertag schmeckst. Ein Tag voller Versprechungen liegt vor Dir, und es ist, als hätte jemand im richtigen Moment die Pausentaste gedrückt, damit die Sinne die Schönheit und die Perfektion bewusst wahrnehmen können.

Was sich wie ein kitschiger Lebensbericht in der "Brigitte" liest, ist lediglich der klägliche Versuch, eine Platte zu beschreiben, die in ihrer Ausstrahlung so kraftvoll und einzigartig ist, dass ich das Gefühl habe, ihr auf anderem Wege nicht angemessen beikommen zu können. Nüchtern betrachtet schichtet "Get Lost" Gitarrenloops aufeinander, aus denen sich Berge von farbenprächtigen Harmonien, Stimmungen und Geräuschen entwickeln, fein und überlegt ausgerollt von einem Getriebenen - McGuires Output ist enorm, was umso mehr überrascht, wenn man seine Vorliebe für verlangsamende Substanzen kennt. In einem Interview darauf angesprochen, warum er mit einer solchen halsbrecherischen Geschwindigkeit Aufnahmen (meistens auf Tapes) veröffentlichte antwortete er:"It was just naturally happening. And there weren't tons of people hitting me up to buy stuff, so I'd just put out 50 copies of things or something. You give away ten or 15 to friends and family, and you sell 25 or 30 copies over a while and you're out of them. And you're like, "Well, I'm not going to make more copies of this. I'll just make a new one." And it just kept rolling like that. Now, I'm still recording all the time, but now I'm spending more time fine-tuning stuff. I really want the records to be more concise and to zone in on one idea and let it elaborate in different ways throughout the album. Before maybe it was just getting stoned and jamming for a couple hours, and thinking, "Man, this tape's going to rule." In zwei Songs versucht sich der erst 25-jährige zusätzlich an kurzen Gesangspassagen, die er in sanfte Gitarrendrones einbettet:"It must resolve, we try and evolve" wiederholt er mantraartig - was eine sakrale und mystische Stimmung heraufbeschwört. Es erdet, und das ist hilfreich, wenn man die übrige Spielzeit als flatternder Schmetterling 5 Meter über Normalnull verbringt.

Was nach harten Zeiten mit etlichen Computerabstürzen während der Aufnahmen letzten Endes zu "Get Lost" wurde, ist nichts weniger als ein faszinierendes Kaleidoskop der eigenen Existenz. Ein reiches, lebensbejahendes Werk voller Möglichkeiten und einer Vielzahl von unterschiedlichen Ebenen, Pfaden und Richtungen.  Auflegen, Durchatmen, Loslassen.

Erschienen auf Editions Mego, 2011.

21.01.2012

2011 #10 - The Sea And Cake °° The Moonlight Butterfly


Meine in früheren Einlassungen zur Karriere von The Sea And Cake geäußerte Ansicht, dass jedes neue Album des Quartetts aus Chicago auch automatisch den nächsten künstlerischen Zenith ihres Schaffens darstellt, erfährt mit "The Moonlight Butterfly" einen kleinen Dämpfer. Was allerdings eher an der Qualität des Vorgängers "Car Alarm" liegt. Also nicht traurig sein, es ist alles gut.

"The Moonlight Butterfly", ihre neunte Veröffentlichung, ist kein vollständiges Album - die Band benötigt für sechs Songs gute 33 Minuten - jedoch das erste Lebenszeichen seit "Car Alarm" aus dem Jahr 2008, sofern man von der Split 7" mit dem kanadischen Kollektiv Broken Social Scene absieht, die im Jahr 2010 in einer kleinen Auflage und im Rahmen einer gemeinsamen US-Tour erschien.

Eine kleine Beichtstunde: ich habe mit jeder neuen The Sea And Cake-Platte zu Beginn meine kleinen Probleme und paradoxerweise resultiert der Grund dafür in die spätere Zuneigung. Hinter dem offenkundig luftigen Bandsound, der selbst die zarte Brise in einem Haus am Strand wie einen Orkan dastehen lässt, stecken subtile Details und verzwickte, dicht geknüpfte Arrangements, durch die man sich erstmal durchhangeln muss. Wenn die Enden dann in der eigenen Hand liegen und man verfolgt, wohin die Pfade führen, lichtet sich der Dunst. Was man dann vor sich hat, ist die entblößte Schönheit einer feingesponnenen, perfekt ausbalancierten Kunst im Breitbandformat. Eine niemals verwelkende Blüte vom besten, was Musik werden kann. "The Moonlight Butterfly" macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

The Sea And Cake haben auch bei dieser Platte versucht, ihren Sound weiter zu entwickeln. Die Kompositionen sind ausufernder geworden, vielleicht könnte man es es sogar psychedelischer nennen. Die Beweisführung tritt das fast zehnminütige Herzstück "Inn Keeping" an - nicht nur der vielleicht beste Song, den die Band jemals geschrieben hat, er hebt sich in Sachen Aufbau und Struktur von ihrem übrigen Oevre ab und nimmt sich in jeder Phase seines Lebenszyklus viel Zeit und Raum. Dabei blieben die eigentlichen Zutaten des Sounds unverändert: es ist immer noch diese betörende Mischung aus Indie-Pop und Jazz, die mir so unverwechselbar wie nobel den Kopf verdreht und stets die richtigen Knöpfe drückt.

In manchen Situationen ist das schlicht die beste Band der Welt.

Erschienen auf Thrill Jockey, 2011.

18.01.2012

2011 #11 - Kangding Ray °° Or


Das verbotene Wort gleich zu Beginn, dann haben wir es hinter uns: monolithisch.

Kangding Ray ist der Architekt, ein Puppenspieler der Statik. Einer, der einen Koloss aus Stahl und Beton über die Idee stellt, mit der im normalen Leben alles beginnt. Die Welt steht Kopf und es wird Zeit, dass der Soundtrack ihr folgt - es ist unwirklich, karg, ätzend. Wir verlieren alles. Die Kommunikation liegt am Boden.

"Or" erhebt sich.

Es scheint, als erschaffe Kangding Ray diese Musik jedes Mal aufs Neue, sobald sie zum Leben erweckt wird, und die Überraschung darüber, dass "Or" bei jedem Abtasten eine andere Richtung einschlägt, wird nicht kleiner. Man ist einfach nie darauf vorbereitet, selbst wenn die Intuition zart die Hand zur Verbrüderung ausstreckt. "Or" zementiert Gebirgsmassive in ein von Kratzern und Splittern unterfüttertes Bild. In der Mitte hohl. Oben und unten Leere. Kein Flackern, keine Verwirbelung. Abstraktion. Sand im Getriebe. Marmelade auf Brot.

Die Beats prasseln in Kaskaden in Richtung unendlicher Horizonte; man spürt förmlich, dass sie ein System entdeckt haben, mit dem sie sich nicht nur eigenständig am Leben halten können, sondern sich zeitgleich  weiterentwickeln und eine geradewegs unheimliche Intelligenz kreieren, unkontrollierbar werden. Ein Trugschluss, denn auch wenn Kangding Ray seine Musik an der langen Leine lässt: er ist die Autorität. Er bestimmt Farbe, Charakter und Struktur, er malt die Risse und Falten, er poliert und modelliert. Alles geschieht am lebenden Objekt. Für den Puls und für die Dunkelheit.

Erschienen auf Raster Noton, 2011.

2011 #12 - Sharon Jones & The Dap-Kings °° Soul Time!


Das Jahr 2011 schrieb so manche Musikergeschichte, die so beeindruckend schön und märchenhaft war, dass es den eher zynischen Zeitgenossen so ganz und gar ausgedacht und unmöglich erscheinen mag. Zumal es gerade beim US-amerikanischen Daptone-Label gleich zwei Mal geschah: nicht nur der großartige Charles Bradley, der es vom James Brown-Double auf die großen Bühnen der bekanntesten Jazzfestivals geschafft hat, auch die 55-jährige Sängerin Sharon Jones erlebt nach Jahrzehnten der Zurückweisung und der Erfolglosigkeit endlich die Sonnenseite des Musikgeschäfts. Mit dabei sind die Dap-Kings, eine bestens geölte und fantastisch aufspielende Band, die bereits Großteile des Amy Winehouse-Albums "Back To Black" einspielte.

Ihr "I Learned The Hard Way"-Album aus dem Jahr 2010 begann plötzlich kommerziell erfolgreich zu sein und, selbst wenn noch nicht durch, dann aber wenigstens an die Decke zu gehen. Wozu der Vorgänger "100 Days, 100 Nights" noch über drei Jahre benötigte, schaffte "I Learned The Hard Way" in glatten vier Monaten: die 100.000 verkauften Einheiten waren geknackt. Die Erfolgsgeschichte in den kommenden Monaten, unter anderem gab es den Ritterschlag von Prince, der die Band zu mehreren Shows als Supportband einlud (und darauf bestand, mit Jones ein Duett zu singen), führte dazu, dass Daptone eilig eine Veröffentlichung nachschieben musste, um das Feuer am Köcheln zu halten. "Soul Time!" ist folglich kein neues Studioalbum mit neuen Songs, sondern eine Zusammenstellung aus Klassikern der furiosen Livesets der Band. 12 Songs, die entweder noch nie auf einem Tonträger oder lediglich auf mittlerweile ausverkauften 7-inch Singles erschienen.

Man kann über das Daptone-Prinzip, wenn's denn überhaupt eines ist, sicherlich das ein oder andere unschöne Wort verlieren: warum man sich in der bloßen Reproduktion eines Sounds oder meinetwegen eines Gefühls suhlt und warum man immer irgendwelche singenden Rentner vor einer Soulband aufstellt, um sich vollends in die musikalische Steinzeit katapultieren zu lassen. Bon. Nun ist "Soul Time!" in diesen berüchtigten Jahrescharts auf Platz 12 gelandet, will sagen: 's is' mir g'rad egal, wie es der Hesse an sich formuliert. Genauso egal übrigens, wie die Tatsache, dass ausgerechnet ein Compilation-Album in meiner Top 20 auftaucht.

In diesen Songs steckt soviel Energie, Musikalität, Tiefe, Liebe, Charme, Kraft und Euphorie, dass es mir die obligatorische Dose Red Bull ersetzt (oder erspart). Außerdem muss ich mir um die Reproduktion des Lebensgefühls der sechziger Jahre keine Gedanken machen: die Sechziger sind mir höchstens durch die auf Fotos dokumentierten Wasserturmfrisuren meiner Mutter ein Begriff. Und was Prince sagt, ist zumindest bei mir und spätestens seit vergangenem Jahr sowieso Gesetz.

Erschienen auf Daptone Records, 2011.

16.01.2012

2011 #13 - Shabazz Palaces °° Black Up


Da draußen fällt uns gerade der Himmel auf den Kopf. Ich habe schon lange nicht mehr gesehen, dass sich die Welt um die Mittagszeit so bedrohlich dunkel und atmosphärisch gedrückt zeigte. Die Depression ist an solchen Tagen ganz bestimmt einen Schritt näher als üblich an mir dran, und ich muss gegensteuern: Räucherstäbchen, Kerze, eine große Tasse Tee. Wohlfühlstimmung. Ein paar Meter neben mir leuchtet noch der Weihnachtsbaum. Ja. okay - so kann ich es aushalten. Vorhänge noch vorziehen, ich will das Elend da draußen nicht sehen. Die Musikwahl ist in der Hinsicht etwas zwischen den Welten - und das überrascht deshalb, weil "Black Up" das windschiefste und undurchdringlichste Album des Jahres ist.

Shabazz Palaces ist in erster Linie die Austobwiese des Rappers Ishmael "Butterfly" Butler, der erstmals 1993 mit einem Album der Digable Planets und einer Fusion aus Jazz und Hip Hop in der Szene landete. Das Trio verschwand mit einem veritablen Flop im Rücken wieder von der Bildfläche. Butterfly tauchte in den letzten Jahren immer wieder mit mehr oder minder kurzlebigen Projekten auf, mit Shabazz Palaces dürfte er sich gemeinsam mit dem Perkussionisten Tendai Maraire und mit Hilfe des aufsehenerregenden "Black Up" etwas länger festbeißen können. Und aufsehenerregend ist das Album nicht nur deshalb, weil sich tatsächlich die alte Grunge- und Fuzzrockschmiede SubPop "Black Up" gekrallt hat, auch die monumental langen Songtitel sind's nicht - es ist das zusammengeprügelte Konstrukt des Hip Hop as you know it, das sich in zerfetzten Beats und ausgefransten Arrangements durch zehn Tracks schleppt. Es ist weniger die Mixtur aus Jazz, Soul, Funk und Hip Hop, die "Black Up" so fremdartig erscheinen lässt; zu einer solcher Melange dürfte so mancher eine Vorstellung haben, wie das wohl klingen mag, und keine Bange, die Abrissbirne ist bereits bestellt. Hier ist kein Stein auf dem anderen.

"Black Up" ist vor allem zu Beginn beinahe unerträglich düster und kaputt. "An Echo From The Hosts That Profess Infinitum" mit seinem furchteinflößenden Chor, der aus den Untiefen verlassener Waldhöhlen wie eine Horde Geister um die Köpfe flitzt und das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Opener "Free Press And Curl" lässt mich auch nach mindestens dreißig Durchläufen noch ratlos dampfend in der Ecke liegen, bevor der erste Sonnenstrahl mit "Are You...Can You...Were You? (Felt) und "A Treatease Dedicated To The Avian Airess From North East Nubis (1000 Questions, 1 Answer)" durch den Vorhang schlüpft. Es gelingt erstmals, die Elemente des Sounds zu deuten, aber die Interpretation ist mir nicht geheuer: "Black Up" bewegt sich auch im weiteren Verlauf vollständig zwischen den Welten. Nahezu zeitgleich lässt sich die Musik einerseits als romantisch, warm, und deep, andererseits als kühl glänzend, futuristisch und bis an die Schmerzgrenze distanziert abbilden. Selbst wenn die B-Seite mit dem Einsatz von lasziven Vocals von Cat Satisfaction und Thee Stasia vom Duo THEESatisfaction etwas an Wärme und Licht gewinnt und auch afrikanische Musik Einzug in das große Genreregister von Butler und Maraire erhält, bleibt sie gleichzeitig abstrakt und dunkel.

Ich behaupte nicht, dass ich "Black Up" verstanden habe, aber mein nickender und manchmal nachdenklicher Kopf entscheiden heute mal für mich. Ausnahmsweise.

Erschienen auf SubPop, 2011

04.01.2012

2011 #14 - Frank Bretschneider - Komet


Nach Bretschneiders einschneidendem "Rhythm"-Album aus dem Jahr 2007 hatte ich den Mitgründer des Raster-Noton Labels ordentlich aus den Augen verloren und ich kann nicht sagen, dass das vollkommen unabsichtlich geschehen ist. Da zeigt sich wieder mein verknotetes Hirn: wenn mich ein Werk so fasziniert, wie es "Rhythm" seinerzeit getan hat (und de facto sogar mit jedem neuen Durchlauf weiterhin tut), dann erwarte ich mittlerweile und folgerichtig einen Abstieg beim Nachfolger. Eine Enttäuschung also, die ich mir ersparen will. Wird man so komisch, wenn man älter wird? Ich kann mich nicht daran erinnern, vor 15 Jahren bereits so gedacht zu haben.

Ich muss in diesem Zusammenhang ebenfalls zugeben, dass ich Bretschneiders neuen Kometen nur deshalb auf die Schliche kam, weil ich etwa zur Jahresmitte 2011 unsagbar große Lust auf frische und coole Technoalben hatte, aber bei meiner Suche nur wenig (=gar nichts) Passendes finden konnte. Das Albumformat im Techno ist ja auch so eine Sache für sich - seitdem sich dieser halbgare Autorentechno ("Ein angesagter Technoproduzent vermeint angesichts seines ersten Albums, Vielseitigkeit demonstrieren zu müssen." - Spex) so windelweich in die Raveköpfe gespielt hat, ist so manch hippe Mogelpackung kaum noch zu ertragen. In meiner Verzweiflung ob der garstigen Suchergebnisse gab ich dem aktuellen "Komet"-Album also seine Chance und war erstaunt: Bretschneiders berüchtigter Pixelsound wurde nicht eingemottet, aber er wurde gepimpt - und zwar ausgehfertig für den Club. Damit hat der Berliner den fragmentarischen Weg seines "EXP"-Projekts aus dem Jahr 2010 zugunsten des Breitbandgrooves verlassen und dickt die skelettartigen Funkblitze mit einem tief pumpenden Rauschebass ein, was Tracks wie "Flutter Flitter" oder "Twisted In The Wind" einen unwiderstehlichen Rhythmus entwickeln lässt - meilenweit vom Minimal-Allerlei seiner Kollegen entfernt. Eine Beobachtung, die von einem Magazin wie dem unsäglichen Musikexpress auch mal ganz lässig erwartbar gewesen wäre, stattdessen erwähnen sie's gleich im berüchtigten Einleitungssatz. Warum besprechen die eigentlich elektronische Musik? Ich schreibe doch auch nichts über usbekischen Gangsta-Folk-Pop.

Frank Bretschneider geht immer noch so brilliant und verschachtelt wie eh und je vor, was es nachwievor höchstinteressant macht, seinen Tunes durch die Nacht zu folgen - auch wenn ich das Erweckungserlebnis von "Rhythm" schon hinter mir habe. "Komet" ist sexy und modern, dabei frei von Kompromissen und ohne jedes Anzeichen eines Ausfallschritts in Richtung des Schlafzimmertechnos. Ich bin wieder - und immer noch: begeistert.

Erschienen auf Shitkatapult, 2011.

02.01.2012

2011 #15 - Tropics - Parodia Flare


Mein mehr oder minder guter Riecher hat mich auch im Jahr 2011 nicht verlassen und das Debut des britischen Multiinstrumentalisten Chris Ward ist ein passendes Beispiel dafür - auch wenn meine Auswahlzeremonie zugegebenermaßen immer mit den Restrisiko spielt, dass ich mir Blödsinn in die Höhle hole. Alleine das Coverartwork von "Parodia Flare" machte mich derart wuschig, dass nur wenige Sekunden des Quasi-Openers "Mouves" ausreichten, um in Richtung der virtuellen Ladentheke zu laufen.

Nach den ersten Umdrehungen auf dem Plattenteller kann ich nur anerkennend die Augenbrauen Limbo tanzen lassen, denn ich bin schwer verknallt: der Tropics Sound ist schwül und extrem relaxed, sehnsüchtig und melancholisch. Ward fokussiert sich auf das gute Leben, auf Schönheit und Licht und auf dieses Reibegefühl, das leichte Wehmut plötzlich ganz nah an die gute Tante Euphorie heranspülen lässt. Die Welt beobachtet durch zusammengekniffene Augen, weil die Sonne so arg blendet. Also bleiben die Augen einfach geschlossen, während uns Tropics mit jeder Sekunde ein Stückchen weiter in die Zwischenwelt gleiten lässt, wo Milch und Honig fließen. Mmmhhmmm, Honig...

"Parodia Flare" flirrt und schwackelt, die stark weichgezeichneten Harmonien und flauschigen Beats schweben fast unbemerkt und regungslos durch die heiße Luft. Beim abschließenden "On The Move" lässt Ward endgültig alle Hüllen fallen: über den dichten Beatteppich tupft nicht nur der Synthie kleine Zwitschertöne in den Wüstensand, hier flickert uns plötzlich auch eine Harfe wie ein bunter Schmetterling um den Kopf. Wird's hier gerade sogar ein bisschen jazzig?

Ein Album, direkt aus einer Traumsequenz geschnippelt, in der Sam Prekop, Brazzavilles David Brown und Kevin Shields die fiepig-qualmende Zeitmaschine ausprobieren und im Jahr 1985 an einem abgelegenen Strand auf Maui landen und gemeinsam ein Gläschen Mineralwasser mit Zitronenfizzelchen einnehmen, bevor sie rosafarbene und fliegende Elefanten zählen. Danach lockt ein Bad in wohltemperiertem Brennesseltee. The good life.


Außerdem beantrage ich hiermit Copyright für das Verb "schwackeln".

Erschienen auf Planet Mu, 2011.