12.01.2009
Platz 15
Nik Bärtsch's Ronin - Holon
"Ekstatischer Groove und asketisches Form- und Klangbewusstsein schließen sich nicht aus, sondern können Kombinationen eingehen, die unsere Wahrnehmung überraschen."(Nik Bärtsch)
Die Module entfalten sich nur langsam. In sich ruhend, mit einer minimalen Spannung, einer kaum wahrnehmbaren Vibration, steuern sie einem unbekannten Klimax entgegen. Niemand weiß, wie ihr Ziel aussieht, oder wann sie es erreichen werden. Die Musiker selbst vermutlich am Allerwenigsten, sie sind zu jeder Sekunde in der Jetztzeit. Im steten Fluss türmen sie Impuls auf Impuls, zaghaft zunächst, aber selbst dann ungeheuer zielstrebig. Die Entladung in den Groove gerät immer derart perfekt, als sei die Band mit verborgenen Nervenbahnen miteinander verbunden. Ein in sich verschmolzenes Kollektiv, das mit einer Stimme spricht.
"Holon" ist ein Groovelabyrinth. Eine dunkle Klang- und Bewegungslandschaft, in der Anlage unglaublich diszipliniert, im offenen Raum pulsierend und lebendig. Was für ein Gegensatz! Dennoch: wo das letzte Studioalbum "Stoa" ob seiner Einzigartigkeit und Intensität noch einer kleinen Sensation glich, hat es der Nachfolger ungleich schwerer: der Überraschungseffekt ist passé, "Holon" verlangt nach einer tieferen Auseinandersetzung. Die Weiterentwicklung der Band zu einem etwas lebhafteren Auftreten, das angesichts einiger Passagen Vergleiche mit progressivem Mathrock oder gar King Crimson zulässt, mag sich in den ersten Durchgängen noch nicht offenbaren. Gibt man "Holon" indes die Chance, seine Mystik und seine Kraft auf den direkten Moment zu spiegeln, dann erwacht dieser Postjazz aus seinen selbst erbauten Zweifeln, er wird Teil eines Ganzen und die Ganzheit aus Teilen.
09.01.2009
Platz 16
Sawako - Bitter Sweet
Die beinahe schon obligatorische 12k-Ambient-Platte des Jahres kommt von Sawako, einer in New York lebenden japanischen Soundkünstlerin. "Bitter Sweet" rutschte praktisch auf den letzten Drücker auf diese Seiten, nachdem mir der bekannte, butterweiche 12k-Labelsound zunächst etwas zu arg in den Vordergrund gestellt erschien. Das ist eben die Kehrseite der Medaille: einerseits ist nahezu alles auf Taylor Deuprees Label mindestens gutklassig, ein Überraschungseffekt bleibt andererseits mittlerweile weitgehend aus.
Wie bewertet man also ein Album, von dem man eigentlich schon im Vorfeld weiß, wie es klingen wird? Verträumt, melancholisch, ätherisch, schwebend, wie feines Licht? Wie bestellt! Wie Licht, das die Blätter eines großen Baumes fein umspielt? An einem sanft dahinwabernden Sommertag? Alles da! Bevorzugte Farbe: hellgelb, zart bräunlich, durchzogen von sattem grün? Einwandfrei! Man hätte es ahnen können. Aber Oberflächlichkeit bringt am Ende ja auch niemanden weiter...
Gehen wir also in die Tiefe. Denn auch, wenn alle obigen Beschreibungen völlig zutreffen: "Bitter Sweet" ist viel mehr. Sawakos viertes Album ist, wie sag' ich's, an art of living. Wer sich darauf einlässt, wird mit den großen Geschichten seines eigenen Lebens belohnt, erfährt über die Bedeutung von Glück und Schönheit. Fuckin' dramatic? Absolut, aber denk' da mal drüber nach, während "Looped Labyrinth, Decayed Voice" in der 24-Stunden-Endlosschleife nicht aufhören will, dir aus tiefstem Herzen zu vermitteln, dass alles DEIN ist.
08.01.2009
Platz 17
Claro Intelecto - Metanarrative
Beobachtertechno. Darjeelingtechno. Herbsttechno. Und dabei so wunderbar kurzweilig. In vierzig Minuten sagt Mark Stewart aka Claro Intelecto alles, was es zum Thema Clubmusik und Melancholie im Jahre 2008 zu sagen gibt. "Metanarrative" ist Musik für Eisblumen am Fenster, für gebrochene Äste an nackten Bäumen, für Nebel über weiten Landstrichen, für die ersten Sonnenstrahlen an einem kalten Morgen, während eine dicke Wolldecke mit uns kuschelt. Zieht euch warm an, es ist kalt da draußen. Oder lasst es uns einfach nur anschauen, from a distance.
Suche einen Fokus. Blinzle nicht. Steig aus.
Bevor die wärmenden Synthieflächen, die sich mit tiefem Grollen paaren und bei aller Geradlinigkeit in der Wirkung sehr reich und komplex wirken, zuviel Nähe versprechen, ändert "Gone To The Dogs" für die zweite Albumhälfte die Richtung in etwas unterkühltere Gefilde, ohne jedoch die bittersüße Stimmung zu verlieren. Was anfangs unerklärlich scheint, wird durch Hypnose, Bass und Deepness aufgelöst. Es muss der Sound sein, dieses mit massig Hall verzierte, treibende Soundgestrüpp, das sich so eisklar und rein präsentiert und trotzdem so versöhnlich und umarmend ist. Es fühlt sich gut an.
07.01.2009
Platz 18
Philip Jeck - Sand
Wer erinnert sich noch an die stundenlangen Dauerwerbesendungen, die Anfang der neunziger Jahre im deutschen Privatfernsehen zu allerlei Amüsemang beitrugen? Die ursprünglich amerikanischen Verkaufs- und Anpreisshows, die dann von (vermutlich) Verhaltensgestörten im Elektroschockrausch synchronisiert wurden, sodass künftig auch die deutsche Hausfrau ein praktisches Häkelset, irrsinnige Gemüseschnitzelmaschinen und Wischmopps kaufen konnte?! Ein damaliger Verkaufsrenner war ein Putzmittel namens Quick'n'Brite. Zur Demonstration der Fähigkeiten dieser Weißmach-Pampe stellte der Marktschreier ein mit Wasser gefülltes Glasbecken auf einen Tisch und schüttete allerhand Mist hinein: Tinte, Rotwein, Jod, Schweineblut (gelogen), Hirnflüssigkeit (auch gelo...naja, wer weiß...), Schlamm, Kirschsaft und was sonst noch eher unvorteilhafte Flecken auf Textilien hinterließ. Alsdann nahm der Zampano in Hosenträgern eine Handvoll des Reinemachers und verteilte es in der mitunter sehr unappetitlich aussehenden, schwarz-rot-braunen Brühe und - Zack! - innerhalb von handgestoppten dreikommaviernull Sekunden erstrahlte der Schlammblutrotz-Tümpel in dem weißesten Weiß, das jemals von einer Hausfrau gesehen wurde. Ja, einige berichteten gar von Augenschäden ob des hellen Glanzes! Es war ein schieres Wunder, und der Amerikaner verkaufte es für sensationelle 39,95 deutsche Mark!
Die Musik des britischen Avantgardisten Philip Jeck ist der angemessene Soundtrack zu dieser Szene, und das meine ich gar nicht despektierlich. Seine Musik hat gewaltiges, klärendes Potential. Aufgenommen lediglich mit zwei alten Plattenspielern aus den sechziger Jahren, auf denen er seine obskuren Singles auf 33, 45, 75 und 16rpm abspielen kann, einem Keyboard, einem Mixer und, wenn er gerade Lust drauf hat, einem Gitarreneffektgerät, lässt er seine Kompositionen Stück für Stück, beinahe beiläufig, wachsen, mal grollend, mal schleichend und verhüllend. Kleine Tupfer von Melodien flitschen am Ohr vorbei wie ein Fisch unter der Eisdecke eines zugefrorenen Sees. Nicht selten folgt ein Ausbruch, ein Aufbäumen. Der Vorhang fällt im Augenblick des ungeahnten Moments: eine große, dramatische Melodie kehrt alles um. Wie zum Geier sind wir nun an diesen Ort gekommen?
Auf bereits bestehender Kunst entsteht Neues, ein stimmungsvolles Spiel mit knisternden Loops und flackernden Melodien, die nicht selten wie die musikalische Untermalung eines schwarzweißen Stummfilms klingen: vertraut knisternd, staubig und grobkörnig, dafür aber wunderbar tragisch. Auf einen Schlag ist das klar und pur, was eben noch surreal und verloren herumirrte. Dabei präsentiert sich Philip Jecks Musik durchgängig in stiller und bewusster Erhabenheit.
03.01.2009
Platz 19
Charles Lloyd Quartet - Rabe De Nube
Wenn das deutsche Feuilleton ein ECM-Album in den höchsten Tönen lobt und preist, dann habe ich üblicherweise keine besondere Lust mehr, ein Öhrchen zu riskieren. Die letzten Monate des Jahres zeigten jedoch, dass meine ECM-Ablehnung strenggenommen differenziert werden könnte, wo nicht müsste: "Rabo De Nube" des Charles Lloyd Quartetts ist ein über weite Strecken hochklassiges, zeitgenössisches Jazzalbum. Keine Spur von dem austauschbaren und gefälligen Piano-/Kammerjazz, der ansonsten aus der Münchner Labelecke dringt; stattdessen ist es dem erneut neu zusammengewürfelten Quartett um den mittlerweile siebzigährigen Saxofonisten Lloyd gelungen, eine mitreißende, aufgeladene Performance ein zu fangen.
Es ist dabei faszinierend zu beobachten, wie das Kollektiv die Fähigkeit besitzt, seinen musikalischen Weg zu formen, ihn dabei immer wieder neu zu erfinden, ihn vielleicht sogar hier und da zu verlieren und am Ende mit einem Anschlag des Pianos, des Bass' oder des Schlagzeugs wieder knietief in der Tradition, sozusagen an der Wurzel, ankommt. Maßgeblichen Anteil daran hat aus meiner Sicht der junge Pianist Jason Moran, der spätestens beim fantastischen "Bookers Garden" im Set angekommen ist und sich die Seele aus dem Leib swingt. Experten sehen in seinem Spiel eine Art spirituelle Verbindung zu Monk einerseits, was seine perkussiven Anschläge betrifft, sowie zu einem seiner Lehrer Andrew Hill andererseits. Von ihm habe Morgan erfahren, was es heißt, seinen Instinkten zu vertrauen, sich dabei aber immer wieder auf neue Umgebungen ein zu lassen. Welche Spielfreude! Welche Euphorie!
Aber auch die weiteren Mitstreiter Lloyds, die Rythmusfraktion bestehend aus Eric Harland am Schlagzeug und Reuben Rogers am Bass, tragen dazu bei, dass dieser Abend im April 2007 zu etwas Besonderem wurde, wie der Meister selbst erklärt. Nicht nur das Baseler Publikum, sondern auch seine Begleiter seien dazu bereit gewesen, die Reise ins Unbekannte mit ihm an zu treten. Der Spaß, den alle Beteiligten an dieser Mission hatten, ist deutlich zu hören.
30.12.2008
Platz 20
Replife - The Unclosed Mind
"The Unclosed Mind" zeichnete sich im Jahr 2008 dafür verantwortlich, dass ich damit begann, an meiner Angst vor HipHop zu arbeiten. Das alleine reicht im Grunde aus, in dieser Liste als eine der erinnerungswürdigsten Platten des Jahres auf zu tauchen.
Replife steht für intelligenten, erwachsenen HipHop. Das kann ich sogar dann sagen, wenn das Genre als Ganzes trotz des zwanzigjährigen, exzessiven Schubladenbrowsens noch ein weißer Fleck auf meiner Landkarte ist. Keine Spur beispielsweise von der unerträglichen Macho-Attitüde, die so vielen Alben und Musiker-/Marketingköpfen innewohnt. Düstere Klischeeatmosphäre, wie sie besonders dem neuen HipHop gerne verliehen wird, um ihn als innovativ zu feiern, wird man ebensowenig finden. Replife bedient sich einerseits - auch in Sachen Coverästehtik - beim Jazz und bei den Anfängen des HipHop und andererseits auch ein Stückweit bei den avantgardistischen Soundcollagen von Jay-Dee oder Daedelus, vermischt seine geraden, manchmal leicht hypnotischen Beats mit spirituellen Lyrics und einer großen Portion Deepness und hat es zu keiner Sekunde des Albums nötig, die Muskeln spielen zu lassen.
Selbst wenn "The Unclosed Mind" keine hypernervöse Gezuppel-Schaltzentrale ist, sondern es im Gegenteil mehrheitlich smooth und zielstrebig vor sich hin souljazzrappt, hat es dennoch genug Ecken und Kanten, um nicht in dem großen Topf mit jener Musik zu landen, die selbst Familie Fliewatüt wie ayurvedisches Heilöl durch die Ohren flutscht. Tracks wie das etwas hektische "Emerald City" oder der quasi-Opener "Spirit (Dilla Shines Through)", das seinen Titel sicher nicht aus Jux erhalten hat, sind spannende Beispiele für musikalischen und vor allem wohltuend klischeefreien HipHop.
23.12.2008
Zweitausendacht in Musik
Long time no read, irgendwie. Lasst uns das mal schnell ändern...
Es wird Zeit, das vergangene Musikjahr Revue passieren zu lassen und wie schon Zweitausendsieben werde ich es mir auch dieses Mal nicht nehmen lassen, die Kings der Kings gebührend zu feiern. Ja, zu feiern. Ausdrücklich.
Ich las kürzlich ein Interview mit dem Publizisten Roger Willemsen, der auf die Frage, warum er seine Arbeit nicht mehr als journalistisch empfände, und weshalb er seit einiger Zeit darüber hinaus sämtliche Zeitungsartikel absage antwortete, "weil Leidenschaftslosigkeit heute als Inbegriff der Professionalität gewertet wird." In so fern bin ich schrecklich unprofessionell.
Es war wohl der Alltag, der mich im beinahe abgelaufenen Jahr daran hinderte, mehr Leidenschaft als ebenjene zu entwickeln, die mir so oder so innewohnt, und ich frage mich immer wieder: ist das ausreichend? Muss da nicht mehr gehen? So wie, man traut sich ja fast nicht es aus zu sprechen, f...früher?
Wenn ich mir die zwanzig Alben so anschaue, die hier in den nächsten Wochen vorgestellt werden, sehe ich indes keinen Grund, die Stirn in Falten zu legen. Ganz im Gegenteil: Zweitausendacht war das beste Jahr seit Zweitausendsieben und es wäre ein Leichtes, hier gar dreißig oder mehr Werke auf zu listen. Sie alle hätten es verdient gehabt, erwähnt zu werden. Bei meiner gegenwärtigen Schreibfrequenz stehen wir damit dann
aber noch im Mai Zweitausendzehn gerade mal bei Rang Sieben.
Kurz gesagt: solange es noch der Fall ist, dass die fortwährende Suche nach neuer Musik so spannend und erhellend bleibt, ist alles mehr als nur gut.
Ich wünsche jetzt schon viel Spaß beim Lesen und Entdecken und außerdem selbstverständlich: schöne Weihnachten und erholsame Tage!
Es wird Zeit, das vergangene Musikjahr Revue passieren zu lassen und wie schon Zweitausendsieben werde ich es mir auch dieses Mal nicht nehmen lassen, die Kings der Kings gebührend zu feiern. Ja, zu feiern. Ausdrücklich.
Ich las kürzlich ein Interview mit dem Publizisten Roger Willemsen, der auf die Frage, warum er seine Arbeit nicht mehr als journalistisch empfände, und weshalb er seit einiger Zeit darüber hinaus sämtliche Zeitungsartikel absage antwortete, "weil Leidenschaftslosigkeit heute als Inbegriff der Professionalität gewertet wird." In so fern bin ich schrecklich unprofessionell.
Es war wohl der Alltag, der mich im beinahe abgelaufenen Jahr daran hinderte, mehr Leidenschaft als ebenjene zu entwickeln, die mir so oder so innewohnt, und ich frage mich immer wieder: ist das ausreichend? Muss da nicht mehr gehen? So wie, man traut sich ja fast nicht es aus zu sprechen, f...früher?
Wenn ich mir die zwanzig Alben so anschaue, die hier in den nächsten Wochen vorgestellt werden, sehe ich indes keinen Grund, die Stirn in Falten zu legen. Ganz im Gegenteil: Zweitausendacht war das beste Jahr seit Zweitausendsieben und es wäre ein Leichtes, hier gar dreißig oder mehr Werke auf zu listen. Sie alle hätten es verdient gehabt, erwähnt zu werden. Bei meiner gegenwärtigen Schreibfrequenz stehen wir damit dann
aber noch im Mai Zweitausendzehn gerade mal bei Rang Sieben.
Kurz gesagt: solange es noch der Fall ist, dass die fortwährende Suche nach neuer Musik so spannend und erhellend bleibt, ist alles mehr als nur gut.
Ich wünsche jetzt schon viel Spaß beim Lesen und Entdecken und außerdem selbstverständlich: schöne Weihnachten und erholsame Tage!
23.11.2008
Zeitenwende
Dass das fünfte Album Donald Byrds als Bandleader bis heute als eine seiner besten Arbeiten gilt, verdankt "Free Form" drei fundamentalen Aspekten. Erstens: hier arbeitete das ehemalige Mitglied von Art Blakeys The Jazz Messengers mit dem damals noch jungen Herbie Hancock zusammen, und war damit einer der ersten etablierten Musiker, der den Pianisten in sein Line-Up integrierte. Zweitens: aus dem "Free Form"-Zusammentreffen des in früheren Jahren ebenfalls den Jazz Messengers zugehörigen Saxofonisten Wayne Shorter mit ebenjenem Hancock, entwickelte sich später nicht nur eine dicke Freundschaft zwischen den beiden Musikern, sondern Mitte/Ende der sechziger Jahre die gemeinsame Mitgliedschaft in der allenthalben als beste Inkarnation der Miles Davis Band bezeichneten Truppe um den Startrompeter. Und drittens: der Titeltrack.
Dabei ist "Free Form" aus meiner Sicht musikalisch und als Album gesehen im Grunde lediglich Blue Note Standardprogramm. Byrd begann sich ganz leicht in Richtung des zu jener Zeit langsam in Schwung kommenden modalen Jazz zu entwickeln, war aber über weite Strecken noch tief im Hard Bop verwurzelt. Nach dem gospel-beeinflussten Opener "Pentecostal Feelin'", das insbesondere durch das swingende Drumming von Billy Higgins seinen Charme erhält, und wie eine Coverversion eines Lee Morgan-Hits erscheint, der guten Hancock-Ballade "Night Flower" und dem nicht besonders beeindruckenden "Nai Nai", setzt "Free Form" mit "French Spice" ein erstes ernsthaftes Ausrufezeichen. Das Stück, von Byrd ursprünglich für eine Gruppe Revuetänzerinnen aus Chigaco geschrieben, nimmt nach dem einleitenden Thema speziell durch Shorters lyrisches Solospiel an Fahrt auf und bleibt über die gesamte Länge von acht Minuten fesselnd und sehr variantenreich. "French Spice" ist somit der Anheizer für den Höhepunkt der Platte: "Free Form" ist untrügliches Zeichen für Byrds Experimentierwillen, für seinen ständig fließenenden "Train Of Thoughts"-Gedanken. Hancock wird folgendermaßen zitiert:"His (Byrds) mind is too quick and his curiosity too active for him to get caught in any single groove.". Schon der Einstieg mit einem Basslauf von Butch Warren, den eine Alternativeband wie Tool 35 Jahre später auf einem ihrer Alben hätte verwenden können, lässt die Synapsen seilspringen. "Free Form" ist indes kein Free Jazz; es klingt verschoben, aus den Angeln gehoben, windschief. Die Erklärung dafür liefert der Trompeter selbst:"The tune has no relation to the tempo. I mean that nobody played in the tempo Billy maintains, and we didn't even use it to bring in the melody. Billys (Higgins) work is just there as a percussive factor, but it's not present as a mark of the time. There is no time in the usual sense, so far as the soloists are concerned." Was eine echte Herausforderung für die Musiker darstellt, schenkt dem Hörer zehn Minuten an großartiger, intensiver und freier Jazzimprovisation.
"Free Form" von Donald Byrd ist im Jahre 1961 auf Blue Note Records erschienen.
15.11.2008
Die Mitte Bin Ich
Wenn sich das Wohnzimmerlicht von alleine dimmt, die gehäkelte Tischdecke von Mutti die Duftkerze anschwitzt, und der Hund im Steppdeckenbademantel gigolohaft am Cuba Libre nagt, dann spricht der Musiklaberer von gestern morgen vom Begriff des "Autorentechno". Nicht ganz so lieb gemeint darf man es auch "Wohnzimmertralalala" nennen, oder Couchfunk (sprich: Kautschfank). Auf einem fernen Planeten Erde läuft dann Trentemöllers Schnarchsack "The Last Resort" auf Junge Union-Arschmassagenparties im Hintergrund, und "Nina, 22" überlegt angestrengt, wie man mit "22"(Spiegel) schon derart infernalisch "vernagelt" (G.Polt) sein kann.
James Holdens Soundtrack zur Party der Vollochsen setzt sich in die Beobachterposition clever in die hinterste Reihe, denn da hat er praktisch Narrenfreiheit und muss seine Hände auch nicht auf die Bettdecke legen. Da kann er mit Melodien spielen, mit Noise, mit Ambient, mit einem gefühlten Spritzer Kautschfunk, und er bleibt gleichzeitig Freak.
Wenn hier weder der Club, noch die heimische Toilette gefragt wird, sich der Flaschenhals gleich mehrfach windet, und ich nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann, ob ich den hier frisierten Technopops insgesamt eher so geil oder vielleicht doch eher so CDU finde, dann rotiert's im Gebälk. Ehrlich, das hat schon alles die Ästhetik von nutellaverschmierten Effektreglern, von Earl Grey-Zahnbelag und Pipi im Bademantel. Allein letzteres wäre Grund genug, die Platte in Frischkäse zu tauchen und herzhaft zu zu beißen; der hüpfende Strich ist indes: Holden will mit dem Kram niemandem gefallen, dem Nutella im Bademantel gefällt. Der macht das nicht, um den Adam Green-Spacken den Ohrensessel zu lackieren. Und das Schöne ist: man hört's auch noch! Ich kann es zugegebenermaßen nicht zu oft hören, weil die Idiotenrallye genauso herausfordernd/anstrengend wie einlullend/nussplibratzig ist, und das ewige Hin- und Hergereiße macht mich total wuschig.
Insgesamt Musik zum Headbangen und Biertrinken!
"The Idiots Are Winning" ist im Jahre 2006 auf Border Community Records erschienen.
...und hat außerdem ein total schönes Coverartwork von Gregory Dourde.
09.11.2008
Haunted By Time, My Enemy
ENCHANT - BREAK
Ich habe neulich übrigens alle meine Dream Theater-Platten verkauft. Okay, alle bis auf die ersten drei Scheiben. Nicht, dass ich auf die Idee käme, sie mir künftig nochmal an zu hören, aber irgendwie halten mich die Erinnerungen an diese Musik und an die Zeit, in der sie entstanden ist doch fester im Griff, als ich es mir selbst eingestehen möchte.
Seltsam, dass mich meine seit locker 8 Jahren eigentlich ad acta gelegte Progressive Rock-Phase jeden Herbst auf's Neue einholt, und ich mich durch diese Mittneunziger-Neo-Prog-Soße aus dem Hause Inside Out hören muss. Dieses Jahr hat es mich mich mit den US-Amerikanern von Enchant gepackt; ihr viertes Album "Break" ließ mich schon bei dessen Erstveröffentlichung 1998 durchaus geplättet zurück. In den folgenden Jahren verlor ich die Band aber völlig aus den Augen, und ich konnte mich nur noch an diesen überirdischen Song "My Enemy" erinnern, der vor zehn Jahren fester Bestandteil eines jeden Mixtapes für das Auto war.
Durch einen Zufall hörte ich vor wenigen Wochen wieder einige Songs aus der Platte und ich war umgehend wieder angefixt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Tatsächlich: nach neuerlicher intensiver Beschäftigung mit "Break" bleibt mir nichts anderes übrig, als das große "Weltklasse!"-Schild heraus zu holen. Zumindest, wenn wir über die erste Albumhälfte sprechen, auch wenn die zweite Hälfte nur Nuancen schwächer ist. Ich weiß allerdings auch heute noch nicht genau, was es ist, was ausgerechnet diese Platte so besonders macht. Ist es die gemütliche Wärme, die wohlige Melancholie, der Spalt zwischen sehr harmonischen Momenten einerseits und härteren, manchmal gar alternative-rockigen Gitarrenriffs andererseits, die stimmungsvolle und ruhige Produktion, der strahlende und überaus angenehme Gesang von Ted Leonard, der erfreulicherweise ohne das sonst typische Prog-Quieken auskommt, oder sind es die großartigen, melodisch vielschichtigen Kompositionen, die mit großer Leichtigkeit auf den Boden gebracht wurden?
Alles und nichts von alledem. Enchant kommen schlicht ohne schmockige Mucker-Eiterpickel aus und konzentrieren sich stattdessen auf weitgehend kitsch- und klischeefreie, dafür überraschend tiefsinnige Rockmusik, die weder eine aufgeblasene Muskelschau, noch einen übertriebenen Anspruch benötigt. Eine ganz, ganz feine Platte mit überragenden Songs.
Erschienen auf Inside Out Records, 1998.
Labels:
Alternative,
hardrock,
Herbst,
Indie,
metal,
Nacht,
neunziger,
Progressive Rock,
Rock
18.10.2008
Holidays In Eden
Ich sperre den Laden für die nächsten zwei Wochen mal schön zu und verabschiede mich in den wohlverdienten Urlaub.
Damit es euch nicht ganz so fad wird, guckt ihr euch bitte in den kommenden Tagen dieses wunderbare Video an und feiert den dazugehörigen Song ebenso enthusiastisch ab wie meine Wenigkeit. Danke im Voraus und bis bald!
Damit es euch nicht ganz so fad wird, guckt ihr euch bitte in den kommenden Tagen dieses wunderbare Video an und feiert den dazugehörigen Song ebenso enthusiastisch ab wie meine Wenigkeit. Danke im Voraus und bis bald!
10.10.2008
Fresh Cut Flowers
Eine wilde, fast vierzigminütige Improvisation eröffnet "In Order To Survive", das mittlerweile schon legendäre Album des New Yorker Bassisten William Parker. "Testimony Of No Future" ist Parkers musikalisches Heilmittel für all jene, deren Hoffnung und Glaube an sich selbst vom Elternhaus, der Kirche, der Schule und den Massenmedien geraubt wurde. Eine Erfahrung, die auch ihm in den Knochen steckt: als 1964 ein Berufsberater zu Parkers Schulklasse spricht und den Jungen ihre Perspektivlosigkeit geradewegs ins Gesicht schlägt. Von ihm lernt Parker, dass er sich schon mal auf ein Leben als Hausmeister oder Bürobote einstellen darf. At twelve I was told that I had no future. Aber durch dieses Erlebnis lernt William Parker auch, dass es einen Weg gibt, die Hoffnungslosigkeit zu einem brennendem Feuer voller Mut wieder zu beleben: durch Kunst, Liebe und Leben.
Heute ist Parker einer der umtriebigsten Musiker der New Yorker Jazzszene. Er spielte zusammen mit Stars wie Cecil Taylor, Don Cherry, Charles Gaye, Rashied Ali, Sunny Murray oder Bill Dixon und gilt als einer der lautesten Jazzbassisten der Welt. Seine Fähigkeit als unerbittlicher Antreiber, eine Band immer wieder ein Stück mehr nach vorne zu pushen, führt im Verlauf einer Session immer zu einem ähnlichen Ergebnis: Parker ist der Fixpunkt seiner Ensembles, er ist der niemals ruhende Wirbelsturm, der - paradox genug - das Set stützt und dirigiert. Sein Zusammenspiel auf "In Order To Survive" mit Drummer Denis Charles und ganz besonders mit dem Pianisten Cooper-Moore ist ebenso liebevoll und detailreich wie ungestüm und leidenschaftlich. Wie dieses Trio immer wieder die Themen weiterentwickelt und auf ein nächstes Level springen lässt, wie sie miteinander kommunizieren und diese pulsierende Session zu einem Universalübersetzer für ihren Glauben und ihren Geist formen, ist schlicht sensationell. Hier ist soviel verborgen und doch glasklar sichtbar.
Parkers weitere Mitstreiter auf dieser Aufnahme ist der Saxofonist Rob Brown, ein ungestümer Bursche des Free Jazz, über den die New Yorker Szenezeitschrift Village Voice einmal schrieb "...he not only deciphers puzzles, he creates them.". Er ist gemeinsam mit dem Trompeter Lewis Barnes der vordergründig auffälligste Spieler der Brasssection. Aber es gibt da noch einen weiteren Mann, den man auf das erste Ohr möglicherweise gar nicht richtig wahrnimmt; einen, der bereits in diesem Blog Erwähnung fand: Grachan Moncur III. Er unterstreicht auf dieser Aufnahme sowohl seine Ausnahmestellung innerhalb der Jazzszene, als auch seine völlig kompromisslose Eigenständigkeit. Während der Improvisationen taucht er hier und da mit kurzen Einsätzen auf, folgt den Melodiebögen, wiederholt und variiert sie und steht plötzlich mit einem Solo im Raum, das einem die Kinnlade auf den Asphalt krachen lässt (für Interessierte: "Testimony Of No Future", ca. ab Minute 23). What a beautiful freak.
"In Order To Survive" entfaltet vor allem unter dem Kopfhörer seine volle Magie; wenn man diesem Sextett in aller Ruhe folgen kann. Dennoch passiert innerhalb der über siebzigminütigen Aufnahme vor allem auf sämtlichen verfügbaren Metaebenen soviel, dass man die Informationsflut kaum verarbeiten kann. Davon ab: von Ruhe kann im Zusammenhang mit dieser aufgewühlten und aufwühlenden Musik sowieso keine Rede sein; erstrecht nicht, wenn einen diese im Booklet abgedruckten Worte überfallen:
In Order to Survive
When was it said that roses tire
From being beautiful
And sink into the desert sun
In order to survive they call for
A revolution of resonance
A promise of a new day
conjuring building
A dance step is created
In order to survive I rub two raindrops
I rub two raindrops together
to make fire
As I sit near the laughing pond
listening to the testimony of a tear
"Was wir machen, ist heilige heilende Musik, und die Menschen, die sie brauchen, finden sie auch."(William Parker)
Lasst euch finden.
"In Order To Survive" von William Parker ist im Jahre 1995 auf Black Saint erschienen.
Für weitere Informationen zu William Parker und dessen Umfeld ist dieser Forumsbeitrag von Freund eigenheim sicher nicht uninteressant.
03.10.2008
Der Jungbrunnen
Es gibt Platten, deren Spielfreude und Drive schon nach den ersten Sekunden derart mitreißen, dass das Funkeln in den Augen über die gesamte Spieldauer nicht erlischt. Kenny Dorhams "Afro-Cuban" aus dem Jahr 1955 ist eine solche Platte. Schon nach den ersten Takten des Openers "Afrodisia" ist klar: hier bleibt niemand ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Mir ist bisher kein weiteres Jazzalbum untergekommen, dessen Groove und Swing so erbarmungslos jeden Muskel des Körpers förmlich attackiert.
In erster Linie liegt das an dem Percussionisten Carlos "Patato" Valdes, der seine Congas mit einer glühenden Wucht und Intensität bearbeitet, die alle anderen Musiker dieser Session mit in Brand setzt: Hank Mobley am Tenorsaxofon, der mit seinem bluesig-souligen Spiel ebenso begeistert wie Cecila Payne am Bariton, J.J.Johnson an der Posaune oder Art Blakey am schlagzeug. Dorhams hochmelodisches, dezent im Conga-Beat mitfließendes Spiel setzt zusammen mit der ausgezeichneten Brass-Section nicht nur harmonische Farbtupfer, sondern nimmt ebenso eine musikalische Entwicklung vorweg, die sich erst in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren mit dem Salsa-Movement und dem Durchbruch lateinamerikanischer Musik in New York oder Miami manifestierte. Das muntere Spiel von Horace Silver am Piano und eine sich in schwindelnde Höhen groovende Rhythm-Section (mit Oscar Pettiford am Bass) machen diese Aufnahme zu einem der ersten Alben, die den positiven, lebhaften und unbeschwerten "Afro-Cuban"-Vibe mit Mainstream-Jazz aus dieser Epoche verbindet und auch 53 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch taufrisch und völlig zeitlos klingt.
Selbst die Titel "K.D.'s Motion", "La Villa" und "Venita's Dance", die mit abgespecktem und leicht verändertem Line-Up (ohne Valdes und Pettiford; ihn ersetzt Percy Heath am Bass) eingespielt wurden swingen nicht zuletzt durch die Arbeit Art Blakeys immer noch wunderbar und erfrischend, sodass "Afro-Cuban" ohne Längen bleibt, dafür aber durchgängig die Glückshormone sprießen lässt.
"Afro-Cuban" von Kenny Dorham ist im Jahre 1955 auf BlueNote Records erschienen.
Abonnieren
Posts (Atom)