Ein magisches Album - das leider sehr unmagisch viel zu spät im Sossenheimer Kiez landete und für die Jahresliste 2020 nicht berücksichtigt werden konnte. "Everything Is New" hätte die Top Ten andernfalls im Sturm genommen.
Es beginnt beim umwerfenden Artwork der ukrainischen Künstlerin Anna Liberté, geht über das Berliner Qualitätslabel La Luna, über eine fantastisch reich und voll klingende sowie absolut fehlerfreie Pressung und endet bei der Musik von Simon Huxtable (u.a. auch als Aural Imbalance und Kloor unterwegs), dem Soundtrack eines märchenhaften Traums.
Die Vibes auf "Everything Is New" sind subtil. Vibrierende Synthiefäden flimmern über den Horizont, die wie schwerelos in der leichten Brise schwingenden Beats sind gleichermaßen lush wie crisp, die melancholischen Melodien bauen die Gehirnchemie um und stellen den Schalter im Dachgeschoss wie von Zauberhand auf "Das Leben Ist Schön". Und unter all dem hat Huxtable den eigentlichen Nährboden ausgerollt: sein Storytelling reicht von mystisch und entrückt bis hin zu dramatisch und expressiv, von isolierter Introvertiertheit bis zur Sehnsucht nach Verbindung und Gemeinschaft - und skizziert damit die Kulisse dieses Albums: Aufbruch, Mut, Zweifel - und das vielleicht Wichtigste: Vertrauen.
Aufgefüllt und zu Leben erweckt werden jene Skizzen mit einer gelassenen "Keine Termine und leicht einen sitzen"-Atmosphäre im dämmernden Licht eines Sonnenuntergangs am abgelegensten und einsamsten Sandstrand des Universums, ketamingeschwängertem Downtempo-Swing, reichaltigem Ambient-Farbauftrag und sich durch das gesamte Album ziehende Texturen; feine Variationen, die immer weiter am Überbau von "Everything Is New" arbeiten, während sie selbst wie Farbtropfen im Wasser stets neue Gestalten annehmen - und sich zum Schluss verbinden und Eins werden.
"Everything Is New" wird bleiben. An solche Alben erinnert man sich ein Leben lang, und ich weiß jetzt schon, dass ich sie in ein paar Jahren in die Hand nehmen werde und mich etwas sagen höre, das klingt wie "Das ist eine ganz, ganz tolle Platte."
Meine leider etwas holzig formulierte Lobeshymne auf eine der interessantesten, mutigsten, vielseitigsten, technisch versiertesten und scheißrein, ich sag's jetzt: besten Bands der 1990er Jahre ist schockierenderweise beinahe volle 12 Jahre alt, und es ist einer jener Texte, bei denen ich mir heute wünsche, ich hätte sie etwas später geschrieben. Es zeigt sich wiederholt, dass zwischen "gut gemeint" und "gut gemacht" zwei bis drei Enden der Welt liegen können; zumindestens gilt das für die frühen Texte des "Flohihaan" (Monaco Franze) - und manchmal sogar immer noch für das aktuell Erbrochene. Sad.
Inhaltlich gibt es indes nur wenig zu mäkeln, auch wenn meine Ergebenheit gegenüber ihrer Musik im Jahr 2021 sicherlich noch größer ist und im Falle eines heute geschriebenen Textes eine nochmal bedeutend euphorischere Wortwahl verwendet werden müsste. thOught industry stehen in meiner Realität in jener Reihe großer Bands, denen der "OK, Boomer!"-Sticker mit der Aufschrift "Solche Bands werden heute nicht mehr gebaut" bestens zu Gesicht stehen würden. Und verfickt nochmal, ich sag's jetzt nochmal, und zwar laut:
SOLCHE BANDS WERDEN HEUTE NICHT MEHR GEBAUT!!!1111eins1
Ich habe mich über die Jahre sehr oft gefragt, was die ehemaligen Mitglieder wohl heute so treiben mögen und auch wenn ich darauf immer noch keine Antwort habe, kam ich dem Mysterium dieser Irren kürzlich ein bisschen mehr auf die Schliche: Der Youtube-Kanal STAUNCH T.V. hat tatsächlich den früheren Gitarristen Christopher Lee Simmonds ausfindig gemacht und ihn eine knappe dreiviertel Stunde über die Geschichte der Band erzählen lassen. Es bieten sich so faszinierende wie abstoßende Einblicke in die Welt der thOught industry. Die wichtigsten Erkenntnisse, erstens: man muss nicht miteinander befreundet sein, um großartige Musik zu machen. Zweitens: Metal Blade waren (?) offenbar mal ein totaler Saftladen. Drittens: Suff und Drogen killen jede große Band, es ist schlicht erschütternd.
Wer die Band bislang nicht auf dem Radar hatte und nun Lust auf ihre Musik bekommen haben sollte: es ist egal, welches ihrer Alben man anwählt - sie sind alle (!) großartig. Kein Witz. Isso.
Das Debutalbum von Wardown war einen Tick zu spät dran, um noch in die Liste zu rutschen. Ende 2020 auf dem gleichnamigen Label der Drum & Bass-Institution Blu Mar Ten veröffentlicht, hatte ich das Gefühl, ich müsse zunächst noch mehr Zeit mit dieser Platte verbringen. Und ganz ehrlich gesagt: alles, was mir bei der Auswahl für die Top 20 mit einer halbwegs guten Entschuldigung keine schlaflosen Nächte bereitet, ist immer gern genommen. Dabei war es schon im November des letzten Jahres nach wenigen auf Bandcamp gehörten Songs entschieden, dass die Platte zumindest den Status eines neuen Mitbewohners erhalten wird. Fast ein halbes Jahr später ist ebenso klar, ein paar Worte über dieses bemerkenswerte Album verlieren zu müssen.
Wardown ist das Projekt von Pete Rogers, einem Teil des Drum & Bass-Duos Technimatic, und auch wenn meine Lebensrealität noch nie eine erwähnenswerte Schnittmenge mit Drum & Bass aufwies, ich also ausnahmsweise nicht über Gebühr mit Sentimentalitäten zu kämpfen habe, traf "Wardown" schon nach wenigen Sekunden einen Nerv - denn mit den übrigen Sentimentalitäten, die Rogers auf dieser Platte aufwühlt und verarbeitet, kenne ich mich aus: "Wardown" ist ein Tagebuch verwischter Erinnerungen an seinen Heimatort Lutons, in dem er aufwuchs. "An account of physical, temporal, familial, musical and sentimental dislocation." - und da werden meine regelmäßigen Leser über meine just an dieser Stelle gespitzten Ohren eher unterrascht sein, denn: this hits home, wie Peter Griffin sagt. Hier schreibt immerhin der Fachmann für derlei Nostalgie.
Rogers hat "Wardown" aus Aufnahmen alter Mixtapes aus seiner Kindheit zusammengeschnippelt und mit Sprachaufzeichnungen mittlerweile verstorbener Familienmitglieder und Field Recordings aus dem Zentrum der Nahe London liegenden Stadt garniert und dabei das deutsche Wort im Fokus gehabt, für das es im Englischen nur unzureichende Übersetzungen, allenfalls eine Kombination aus ähnlichen Begriffen gibt: Sehnsucht, "an inconsolable longing in the heart for we know not what". Die Produktion passt sich dieser delikaten, sensitiven und überaus persönlichen Ausrichtung an: wo vor allem frühe Drum and Bass Sounds oft krude und schroff erschienen, ein stilistisches Relikt aus alten UK Jungle-Zeiten, wirkt "Wardown" sanft und fließend, ohne dabei den Weichzeichner zu bemühen: die Konturen sind klar und crisp, und wenn im Opener "Culverhouse" nach ein paar Minuten die erste D'n'B-Abfahrt beginnt, fegt mich der Druck der Basslines fast aus dem Sessel - was nicht zuletzt auch an der tollen Pressung liegt. Der über diesem Album liegende Schleier von Traurigkeit, in diesem Zusammenhang sei auf den perfekten Blend aus elegischem Ambient und D'n'B-Beats im großartigen "Susurration" verwiesen, entwickelt sich in erster Linie aus dem Vibe des Verpassten, des Vergessenen, des Vergänglichen, den Rogers herausgearbeitet hat.
Ein bemerkenswert persönliches und emotionales Wunderwerk elektronischer Musik.