27.11.2017

Bruce Dickinson - The Chemical Wedding





Es ist schwer, für einen Meilenstein des Heavy Metal noch mehr Worte zu finden, als jene, die ich vor nunmehr sechs Jahren an anderer Stelle in diesem Blog bereits ins vielköpfig-virtuelle Nichts trompetete. Zumal das alles, vom traditionell etwas kruden Stil abgesehen, dann doch immerhin inhaltlich noch alles völlig richtig ist - inklusive meines hohen Euphorieniveaus. Andererseits ist es nach einem Jahrhundertreview wie jenes von Matthias Breusch so oder so vergebene Liebesmüh', noch was draufsetzen zu wollen:

"Einen wunderschönen guten Tag, liebe Testpersonen. Bitte begeben Sie sich ohne weitere Umstände direkt zum nächsten Plattenladen, schnappen Sie sich den Fuzzi hinterm Tresen (wen interessiert's, daß er gerade irgendeiner Truse die verstaubte Best-of von Kraxlsepp Hinterthaler eintüten will - piepschnurz!) und zwingen Sie ihn, SOFORT Song Nummer zehn (in Ziffern: 10!) vom neuen Dickinson-Album in ALLERHÖCHSTER Lautstärke über seine Berieselungsboxen zu jagen, bis die Schnäppchen-Angebote im Schnulli-Regal den Molotöw tanzen. 'The Alchemist' ist eine unübertroffene Mixtur aus alter Maiden-Herrlichkeit und Frischdienst-Vibes: Elefantöse Schiffssirenen-Trompeten, erdig schleifendes Riffing, eine am offenen Feuer geschmiedete Edelstahl-Hymne und ein Gitarrensolo, das sich vor Ritchie Blackmores Jahrhundertwerk 'Stargazer' verbeugt. Na? Geht das nicht amtlich auf die ZWÖLF? Jaha!(...)" (Matthias Breusch, Rock Hard Nr.137 - Link zum Review )

Nun ist "The Chemical Wedding" dieser Tage im Rahmen Dickinsons großer Solorevue "Soloworks"  tatsächlich erstmals auf Vinyl erschienen und ein hastig durchgeführter Soundvergleich mit der seit 19 Jahren im Regal stehenden CD ließen sowohl Herrn als auch Frau Dreikommaviernull mit heruntergelassenem Schlüpper ratlos und mit großen Augen auf die Lautsprecher starren: was zuvor schon bei vielen ähnlichen Vergleichen zwischen den ehemals hippen Silberdingern und dem schwarzen Gold auffiel, von Maiden über Nirvana und Monster Magnet bis zum bislang größten Abschuss mit einer alten Aufnahme von Alice Coltrane, nämlich eine, pardon: bodenlos scheiße klingende CD nämlich, verstärkte sich im direkten Vergleich mit der vermutlich mit sattem Vinylmastering ausgetatteten Vinylversion des 1998er Streichs dieser Megaband noch - und nachdem ich mich von meinem hysterischem Gequieke angesichts des klanglichen Unterschieds wieder ein wenig beruhigt hatte, durfte ziemlich ungeniert die Frage gestellt werden, wie es sich 19 Jahre mit diesem dumpfen, platten, verklebten, hyperkomprimierten und verwaschenen Scheißdreck (die Gitarren! DIE GITARREN!) aushalten ließ. Wer sich also trotz des schon vor fast 20 Jahren zusammengezimmerten Altars nochmal neu in dieses makellose, zu beiden Teilen klassische und moderne Heavy Metal Album verlieben mag, sollte hier unbedingt zuschlagen.

"The Chemical Wedding" gehört für mich zu den besten Metalalben der 1990er Jahre, vielleicht sogar darüber hinaus: in seiner beinahe intellektuellen Dunkelheit und Ernsthaftigkeit, in seiner Musikalität, seiner Deepness, dem elastischen und charakterstarken, weil eigenständigen und einzigartigen Sound, einer fast unwirklichen Ansammlung von echten, tief bewegenden Hymnen zwischen Melodie, Härte und großen Gefühlen von einer furios aufspielenden Band, die wahrlich die Funken fliegen lässt, und als Krönung einem sich die Seele aus dem Leib singenden Bruce Dickinson, bleibt "The Chemical Wedding" unerreicht. 




Erschienen auf Sanctuary Records, 1998.

20.11.2017

Bruce Dickinson - Accident Of Birth





"Accident Of Birth" läutet praktisch die Rückkehr Dickinsons zu Iron Maiden ein. Nach dem überschaubaren Erfolg von "Skunkworks" - logisch: die jungen Rockfans sahen in einer Zeit, in der Metal, der klassische zumal, ein Schimpfwort war, in Bruce einen alten, uncoolen Rock-Opa, der mal bei einer Band spielte, die lustige Monster auf der Bühne herumhampeln ließ, die alten Rockfans nahmen ihm den medial hochgejazzten Stilwechsel übel und bezichtigten ihn der Trendreiterei - tat er sich zuerst mit Roy Z, seinem Freund aus "Balls To Picasso"-Zeiten, und anschließend, nach der Sondierung von Roys Songideen, mit ex-Maiden Gitarrist Adrian Smith zusammen (dessen Karriere nach seinem A.S.A.P. Debut aus dem Jahr 1990 und einer durchwachsenen und weitgehend unbekannten Platte mit Psycho Motel auf dem sowohl künstlerischen als auch kommerziellen Trockendock lag) und entschied sich zur Aufnahme eines reinen Metal-Albums. Ob die gesponnene Mär, Roy Z hätte mit "einigen großartigen Metal-Riffs" (Roy Z) aus seiner Resteschublade erst einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, bevor Bruce endlich einlenkte, nun tatsächlich stimmt, der Geldspeicher allmählich leerer und leerer wurde, oder gar die Plattenfirma/das Management die neuerliche Kurskorrektur zumindest mitbestimmte, werden wir vermutlich nie erfahren.

Viele Signale, die von "Accident Of Birth" ausgehen, lassen sich wenigstens aus der Ferne als ein Bewerbungsschreiben an die Adresse von Maiden-Boss Steve Harris interpretieren: die Rückkehr zum Heavy Metal, Adrian Smith als Sidekick, das Cover-Artwork vom langjährigen Chefdesigner von Iron Maiden (Derek Riggs) gestaltet - so bringt man sich wieder ins Spiel, wenn die eigene Karriere mehr oder minder lautlos den Bach runter geht. Iron Maiden selbst hatten sich derweil mit der Verpflichtung von Sänger Blaze Bayley verkalkuliert (Jannick Gers:"Kann er denn singen?" - 1993) und dem schwachen Dickinson-Outro "Fear Of The Dark" ein nun gänzlich erschreckendes "The X-Factor" folgen lassen und tingelten durch Hallen mit einer Kapazität von gerade einmal 2000 Menschen. Wer den Wink mit dem Zaunpfahl ins britische Essex bis dahin noch nicht verstanden hatte, dem pflantschten die drei von der Tankstelle die Semi-Ballade "Man Of Sorrows" ins Schallgesims, dessen Text zwar von Aleister Crowley handelte, von vielen Zeitgenossen, inklusive Steve Harris, jedoch als Entschuldigungsschreiben an Iron Maiden gewertet wurde - Hybris, anyone?

"Accident Of Birth" ist stilistisch vielleicht nicht unbedingt Universen, aber doch wenigstens Kontinente vom Sound Maidens entfernt, ist härter, moderner, eine Spur offener und vor allem motivierter: Highlights sind der grandios schiebende Opener "Freak", das mit einem enormen Refrain ausgestattete "Welcome To The Pit" und die leicht episch angehauchten "Omega" und "Darkside Of Aquarius" - letzteres ein ultrafies zu singendes Monstrum, gegen das Dickinson live hör- und sichtbar kämpfen muss, es auf dem unten angezeigten Video aber in beeindruckender Manier niederringt. Überhaupt: Dickinson's stimmliche Leistungen ab Mitte der neunziger bis in die frühen Nuller Jahre hinein überflügeln spielend seine erfolgreiche Zeit mit Maiden in den 1980ern. In damaligen Interviews berichtete er von bodenlosem Montoringsound auf der Bühne und davon, immer Steve Harris' Bassmix den Vorzug geben zu müssen, sodass er, Bruce, sich praktisch nur an dem entlanghangeln konnte, was durch die PA nach draußen ins Publikum dringt - und als halbwegs erfahrener Sänger weiß ich: das ist nicht viel. Aber auch seine Arbeit im Studio zeigt sich nochmal klar verbessert, denn er sang ausdrucksstärker und kraftvoller denn je.

Trotzdem ist nicht alles Gold, was glänzt und so reiht sich "Accident Of Birth" in meiner Rangliste seiner Soloalben hinter "Skunkworks" erst auf dem vierten Platz ein. Zum einen leidet das Album unter einem etwas arg konventionellen Ansatz, der zu solch harmlosen Trällerliedchen wie "Road To Hell", "The Magician" oder auch dem oben erwähnten "Man Of Sorrows" führt und in Verbindung mit einem zwar aufs erste Hör fetten, aber auch dumpf und etwas verwaschenen Sound zum anderen die Frische von Dickinsons bisherigen Soloarbeiten vermissen lässt. "Accident Of Birth" kommt auf Albumlänge deswegen nur schwer in die Gänge - es wirkt noch wie eine Zweckehe, zu der sich der Protagonist mit schwerem Flügelschlag hat aufraffen müssen. In der Retrospektive eigentlich ein klassisches Übergangsalbum - und wenn dieser gefühlte Kraftakt notwendig war, um sich nur ein Jahr später zu dem aufzuschwingen, was wenigstens für Herrn Dreikommaviernull bis heute die Speerspitze des Heavy Metal in den 90er Jahren darstellt, dann darf man "Accident Of Birth" meinethalben gerne den Respekt entgegenbringen, den es in Teilen der Szene nicht erst seit gestern hat; einer Szene wohlgemerkt, die im Jahr 1997 nur wenig zu lachen hatte und es im Ergebnis bekanntermaßen sogar schaffte, die schwedische Abi-Ball Combo Hammerfall und ihr "Glory To The Brave"-Debut als musikgewordene Rückkehr des Yes-Törtchens zu feiern. Wenn die Sonne tief steht, werfen eben auch Zwerge lange Schatten.





Erschienen auf Raw Power, 1997.

15.11.2017

Bruce Dickinson - Skunkworks




Dickinsons drittes Soloalbum leidet in der Wahrnehmung vieler Rockfans bis heute unter durchwachsenen und inhaltlich völlig fehlgeleiteten Reviews der damaligen Zeit und ist kriminell unterbewertet. Als Produzent wurde Grunge-Ikone Jack Endino verpflichtet und alleine dessen Auswahl in Verbindung mit Dickinsons abgeschnittener Haarpracht brachte viele Musikkritiker dazu, dem Album den großen "Alternative Rock"-Stempel aufzudrücken - was bei vielen kopfbetonierten Rockern und Metallern dazu führte, die Platte erst gar nicht anzuhören und stattdessen die schöne Frischluft mit dem elendigen Gewürge von Verrat (am Metal, logisch) und Trendreiterei zu verpesten. Von Grunge oder Alternative Rock war auf "Skunkworks" damals wie heute nur wenig zu hören - und selbst wenn schon: wer im Jahr 2017 nochmal ein "Alternative Rock"-Album wie beispielsweise das Debut von Blind Melon auf den Plattenteller wirft, wird ob der Nähe zu sattem 70er Jahre Rock ungläubig mit den vermutlich am, Pardon: Arsch festgetackerten Ohren schlackern. Dickinson wollte nichtsdestotrotz mit der bereits beim Vorgänger "Balls To Picasso" eingeleiteten Entwicklung auch für "Skunkworks" den nächsten Schritt wagen und sich weiter emanzipieren - was mit Endino als Produzent, verändertem Aussehen und der nochmal weiter geöffneten stilistischen Ausprägung seiner Musik so radikal wie möglich ausfallen sollte. So gab er der Band, die ihn schon auf der Tour zu "Balls To Picasso" begleitete, den Namen Skunkworks und war so überzeugt von der Euphorie und der Motivation der blutjungen Musiker, dass er sogar seinen eigenen Namen vom Cover getilgt haben wollte. "Skunkworks" sollte also als Bandalbum, und nicht etwa als neues Soloalbum von Bruce Dickinson erscheinen, aber wie bereits in den vorangegangenen Jahren schob auch hier die Plattenfirma einen Riegel vor. Die Vermarktung des Produkts ist eben alles - und während ich das schreibe, schicken mir Maiden-Manager Rod Smallwood und -Bassist Steve Harris vermutlich gerade eine Postkarte von ihrem öchzig Trilliarden Kilometer langen Privatstrand in der Karibik, das Porto zahlt freilich der Empfänger.

Die Einlassung zur Vermarktung der Hülle stimmt selbst (magis: ganz besonders) dann, wenn der Inhalt dazu angetan sein dürfte, die vielen ehemals loyalen Stammfans zu verprellen. Über das Kreuz mit der Legion konservativer Rock- und Metalfans habe ich auf diesem Blog mehr als nur einmal geschrieben und unzählige Beispiele von Bands erwähnt, die nach erfolgter Umsetzung ihrer künstlerischen Freiheit von ihren Anhängern wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wurden, weil "You are free to do as we tell you." (Bill Hicks) - und bevor nun der nächste Kuttenheinz das große Wimmern anfängt, man kennt ja seine Pappenheimer: ich weiß, dass ich diesbezüglich nur zu gerne und wahrscheinlich übertrieben hart auf die armen kleinen Metaller einprügele und ich weiß auch, dass es in anderen Szenen nicht unbedingt besser aussieht. Wer will, kann ja mal Weezers Rivers Cuomo nach seiner künstlerlichen Entfaltung fragen; der freut sich ob seiner in Teilen gleichfalls schädellaminierten Anhänger, die immer wieder das gleiche Album von ihm hören wollen, bestimmt auch ein zweites Loch ins kalifornische Popöchen.

"Skunkworks" haftet dennoch bis heute dieser Alternative-Quatsch an und es geht sich partout nicht aus - vielleicht ergibt sich ja jetzt mit der Wiederveröffentlichchung die Möglichkeit, das Visier nach über 20 Jahren Quadratdoofheit doch nochmal neu zu justieren. "Skunkworks" ist das, was Matthias Breusch in seiner aktiven Zeit als Musikredakteur so gerne als "mit positiver Power aufgeladenes Kraftfutter" bezeichnet hätte: Frisch wie Morgentau, perlend wie Schampus, ein Punch wie ein vierfäustiger Mike Tyson, melodischer als Abba 1977. Perfekt von Endino als Frischzellenkur für einen alten Hasen inszeniert, ohne auch nur eine fucking Sekunde an der Peinlichkeitstür zu klopfen. Unterstützt von den jungen Wilden Alex Dickson (Gitarre), Chris Dale (Bass) und Alessandro Elena (Schlagzeug) trumpft Dickinson groß auf. Gerät der Einstieg mit "Space Race" noch etwas schaumgebremst, gibt es schon ab der folgenden Single "Back From The Edge" im Prinzip kein Halten mehr, dafür aber weitere Highlights wie "Inertia", "Solar Confinement", "Inside The Machine", "Meltdown" und "Octavia" - allesamt echte, großartig produzierte Hits. 

Wer das auch 20 Jahre später immer noch nicht hören will oder kann, darf sich meinethalben total gerne off-fucken gehen.




Erschienen auf Raw Power, 1996.


11.11.2017

Bruce Dickinson - Balls To Picasso




Das Leben nach Iron Maiden zeigt Bruce Dickinson auf seinem ersten Solowerk nach seinem Ausstieg bei den eisernen Jungfrauen als Freischwimmer. Das letzte gemeinsame Maiden-Album "Fear Of The Dark" und noch mehr die darauf folgende Tournee und den dabei aufgenommenen, grausamen Livealben "A Real Live One" und "A Real Dead One" zeigten, dass Dickinson nicht mehr glücklich war; auch die restliche Band präsentierte sich weitgehend orientierungslos und wusste nicht mehr, ob sie nun Fisch oder Fleisch spielen wollte. "Balls To Picasso" ist die logische Konsequenz aus den letzten Jahre mit Maiden. 

Das Projekt ging dabei durch mehrere Iterationen, allesamt mit dem Anspruch ausgestattet, den Musiker Bruce Dickinson komplett neu zu erfinden. Das Motto war: strikte Abgrenzung von Maiden, klare Abnabelung von seiner Vergangenheit und damit auch - in Teilen - von seinen Fans. Zunächst arbeitete Dickinson mit der britischen Hardrocktruppe Skin als Backing Band, anschließend folgte eine Session mit Mainstreamproduzent Keith Olsen - und beide Aufnahmen wanderten in den Giftschrank, nachdem die Plattenfirma kalte Füße bekam (die Tracks wurden erst 2005 im Rahmen der Neuauflage des Albums öffentlich gemacht). Schlussendlich wurde Shay Baby aus Los Angeles als Produzent ausgewählt, der Dickinson darüber hinaus mit der Latino Rockband Tribe Of Gypsies und deren Gitarristen Roy Z bekannt machte und besonders von letzterem sollten wir in den folgenden Jahren noch mehr zu hören bekommen.

"Balls To Picasso" experimentiert zwar mit einem deutlich luftigeren, offeneren Sound und einer Menge ungewöhnlicher Rhythmen, hält sich aber immer noch deutlich im Kosmos zeitgenössischer Rockmusik auf - nicht zuletzt wegen Dickinsons Stimme, deren Ursprung aus Downtown Rockröhrenhausen er auch mit den größten experimentellen Ambitionen einfach nicht verstecken kann, auch wenn er es beispielsweise im poppigen "Change Of Heart" (siehe das Video unter diesem Text) sehr offensichtlich versucht. Für mich ist "Balls To Picasso" dank herausragender Songs wie "Hell No", "Cyclops" und dem fantastisch gesungenen "Gods Of War" sein zweitbestes Soloalbum, ganz besonders wegen des neuen Sounds, des frischen Vibes und der Aufbruchstimmung - die im Grunde nur durch das sehr konventionelle und damit auch - logisch! - kommerziell erfolgreiche "Tears Of A Dragon" gestört wird, einem zwar guten, aber im Albumkontext leicht deplatziert wirkenden Song. 

Die immer wieder kolportierte Nähe zum damals angesagten Alternative Rock lässt sich allerhöchstens in Spurenelementen nachweisen, etwa bei dem mit fixem Sprechgesang versehenen "Sacred Cowboys" - darüber hinaus ist "Balls To Picasso" ein frisches, mit zahlreichen Hits gespicktes und in Teilen ungewöhnliches Rockalbum mit eigenem Sound und einer eigenen, ganz besonderen Stimmung. Auch wenn das Boot eigentlich in eine andere, weitaus experimentellere Richtung hätte fahren sollen, bevor das Label den Notanker auswarf, muss Dickinson hoch angerechnet werden, das Boot überhaupt betreten und den Kompass richtig eingestellt zu haben. 

Dass die Mär von "genau dem Album, das ich zu 100% machen wollte" für zehn Jahre Aufrecht erhalten wurde, bis Keith Olsen und Shay Baby den Einfluss und die Intervention des Labels, beziehungsweise des Managements öffentlich machten, spricht erneut Bände über das Musikbusiness einerseits und den gemeinen Rockfan andererseits - eine Symbiose, die jede Kreativität und jeden Fortschritt im Keim erstickt. Es lebe der Stillstand. 
  




Erschienen auf EMI, 1994.

05.11.2017

Bruce Dickinson - Soloworks



BRUCE DICKINSON - SOLOWORKS


Bruce Dickinson, der Mann mit einer Lebensenergie, die selbst ein Eichhörnchen auf Speed wie ein sediertes Faultier aussehen lässt, veröffentlicht dieser Tage seine insgesamt sechs Soloalben auf Vinyl, die sowohl als einzelne Exemplare, als auch zusammengefasst in einem Boxset "Soloworks" erhältlich sind. Das sind fantastische Neuigkeiten, womit "Soloworks" am Ende des Jahres ziemlich sicher mit den (Wieder)Veröffentlichungen der beiden Großtaten von King's X "Dogman" und "Ear Candy" um den Titel "Re-Release des Jahres" kämpfen wird. 

Wie bei King's X gibt es auch bei Bruce einen besonderen Clou für alle Vinyljunkies: zwei der sechs Studioalben - "The Chemical Wedding" und das vorerst letzte Werk "Tyranny Of Souls" - sind bislang ausschließlich auf CD erschienen und kommen nun also erstmalig auf den schwarzen Scheiben in den Handel. Von den übrigen vieren ist lediglich das Debut "Tattooed Millionaire" noch immer zu fairen Kursen erhältlich, für "Balls To Picasso", "Skunkworks" und "Accident Of Birth" muss bisweilen sehr tief in die Tasche gegriffen werden - sofern man nicht den "Accident Of Birth"-Bootleg aus den Jahren 2013/2014 erwischt, für den man zwar trotz verändertem Artwork, unbedruckter Innersleeves und eines kolportierten absoluten Scheißsounds immer noch mindestens gesalzene 40 Tacken überweisen muss - was aber nur etwa 40% dessen ist, was die Originalausgabe von Raw Power Records aktuell kostet. Auch hier darf also getrost die Konfettikanone gezündet werden. 

Weil ich erstens hoffnungslos verblenderter Fanboi und zweitens auch mit aller aufgesetzter Objektivität (es ist und bleibt einfach eine Lüge) Dickinsons Oevre ausgesprochen positiv gegenüberstehe, nehmen wir doch "Soloworks" zum Anlass, seine sechs Studioalben Revue passieren zu lassen. 

Startschuss in 3...2...1....*peng*





TATTOOED MILLIONAIRE (1990)

Gemäß des Gerüchts aus dem Maiden-Camp, Dickinson hätte bereits nach der auszehrenden "World Slavery Tour", die die Band über ein komplettes Jahr durch die ganze Welt führte, und also als Vorbereitung auf das nächste Studioalbum "Somewhere In Time" Songs geschrieben, die insbesondere von Maiden-Boss Steve Harris allesamt mit der Vermutung abgelehnt wurden, bei Dickinson hätte der Post-Tour Burn Out wohl am härtesten zugeschlagen, weil sie den Einsatz von im Metal ungewöhnlichen Instrumenten wie Flöten, Tamburine und Mandolinen notwendig gemacht hätten, wäre es beinahe zu erwarten gewesen, das zwischen den beiden Maidenalben "Seventh Son Of A Seventh Son" und "No Prayer For The Dying" aufgenommene und erschienene Solodebut des Sängers könne zu einer sehr unrockigen und ruhigen Angelegenheit werden. 

Stimmt aber nicht: "Tattooed Millionaire", eingespielt vom damals neuen Maiden-Gitarristen Janick Gers und der Rhythmusfraktion der britischen Hardrockband Jagged Edge (*), liegt auf ziemlich klassischer Rock'n'Roll-Linie. Neben einigen Highlights wie dem satten und großartig gesungenen Opener "Son Of A Gun", den swingenden Titelsong und der guten Ballade "Gypsy Road", lassen sich jedoch auch Peinlichkeiten wie "Lickin' The Gun" oder "Zulu Lulu" finden, die ein wenig die Aura der künftigen Maiden-Gammelsongs des kommenden Studioalbums wie "Hooks In You" und "Bring Your Daughter To The Slaughter" versprühen - und das besonders letztgenannter einer der schlimmsten Geschmacksaussetzer Dickinsons ist, muss hier nicht besonders erwähnt werden; die goldene Himbeere für den schlechtesten Soundtrack-Song ist völlig verdient. Trotzdem hinterlässt "Tattooed Millionaire", nicht zuletzt wegen der guten A-Seite und des versöhnlichen Abschlusses mit "No Lies", einen positiven Gesamteindruck. 

Viel wichtiger als die schnöde Songaufzählung über gut, schlecht, tralala: Ich habe viele schöne Erinnerungen an diese Platte. Das erste Rockkonzert meines Lebens erlebte ich mit meinem Bruder und seiner damaligen Freundin in der Frankfurter Batschkapp im Sommer 1990. Auf der Bühne stand Bruce Dickinson. Und das werde ich nicht nur wegen des wenige Jahre später gekauften und an diesem Abend mitgeschnittenen Bootlegs nie vergessen. 





Zum Re-Release selbst: Wie alle sechs Vinylveröffentlichungen erscheint auch "Tattooed Millionaire" im Gatefold Cover mit bedruckten Innenhüllen nebst kleiner Geschichte zur Entstehung des Albums - und darüber hinaus. 
Die Pressqualität ist gut, aufgrund eines leichten Kratzens in den Songpausen aber nicht perfekt, der Sound klingt wuchtiger und voller als mein zugegebenermaßen sehr abgenudeltes Original. 

Für Fans von absolut verstörenden Videoclips zwischen Klimbim und Monthy Python:






(*): Zusätzliche Plattentipps für Menschen, die klassischen AOR zu schätzen wissen: Jagged Edges erstes und einziges Studioalbum "Fuel For The Soul" erschien 1990 gar auf einem Majorlabel und bietet exzellenten, melodischen Hardrock aus England, das vor allem produktionstechnisch offensichtlich auf den amerikanischen Markt zugeschnitten war. Wer zu den ersten beiden Alben von Thunder gerechtermaßen auf die Knie sinkt und dazu das Debut der Amirocker Skid Row (zugegebenermaßen ohne deren Energie und Rebellion) goutiert, sollte sich "Fuel For The Soul" unbedingt auf den Einkaufszettel kritzeln. Jagged Edge Sänger Matt Alfonzetti sang später beim Alternative-Outfit Skintrade und veröffentlichte Mitte der neunziger Jahre zwei ebenfalls gar nicht so üble, wenngleich heute womöglich etwas angestaubt klingende Platten. Jagged Edge Gitarrist Myke Gray gründete übrigens später Skin, die sich mit ihrem etwas moderner ausgerichteten Hardrock bis zu ihrer Auflösung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in England eine durchaus große Fanbase erspielen konnten und sogar bei den ersten Sessions zu Dickinsons zweitem Streich als Backing Band engagiert wurden.