28.10.2012

Propaganda

"Ja, wenn einer mal sich in einen Gedanken förmlich hineinverrennt, dann ist er ja wie vernagelt!" (G.Polt)


Ich könnte mich wegen dieses nun folgenden Artikels zur Präventivbestrafung praktisch stundenlang auf ein Fahrrad ohne Sattel setzen, und ich möchte außerdem vehement darauf hinweisen, dass ich reflektiert genug bin, um alleine den Gedanken an eine Bearbeitung meinerseits im Rahmen eines Blogartikels als vollverblödeten Quadratquatsch abzustrafen. Andererseits sind wir alle viel zu schnell mit Bewertungen bei der Hand und im schnellen Internetdiskurs zählt neben der Lautstärke auch die Provokation und eben die Geschwindigkeit zum Kriterienkatalog der Kommentatoren, der Blogger und der Journalisten. In diesem Zusammenhang stieß ich also kürzlich auf die Seite Scienceblogs.de und auf den dort hinterlegten Artikel "Homöopathen ohne Grenzen helfen jetzt AIDS zu heilen". Mein Lieblingsabsatz geht übrigens so:

"Da mag ich nicht mehr viele Worte verlieren. Das ist einfach nur noch kriminell. Und daher will ich auch nur noch fragen, WIE man am besten vorgeht, wo man am besten hinschreibt, um das zu stoppen, und nicht mehr OB man das sollte. Und warum ein solch menschenverachtender Verein gemeinnützig sein darf. Vorschläge?
Die Kommentare hierzu dienen ausschließlich der Diskussion dieser Frage. Andere Kommentare und Antworten auf andere Kommentare, vor allem welche die Homöopathie oder diesen verein verteidigen, werden gelöscht, genauso wie solche die diese Regeln diskutieren."


Man fragt sich, von welcher Konsistenz der Schaum vor dem Mund sein muss.

Nun habe ich mit der Homöopathie und vergleichbaren alternativmedizinischen Ansätzen seit über zwanzig Jahren meine Erfahrungen gemacht - manche verliefen positiv, manche negativ, einige andere bleiben in der Nachbetrachtung indifferent. In meiner aktiven Sportlerzeit als Roll- und Eiskunstläufer war ich in manchen Monaten Kunde des Monats bei meiner damaligen Heilpraktikerin, die es nicht selten schaffte, mich innerhalb von ein, zwei Tagen von sturzverursachten Schmerzen zu befreien oder meine beinahe chronischen Knieprobleme in den Griff zu bekommen. Es gab aber auch Momente, in denen sich trotz einer Behandlung einfach gar nichts tat. So ist's halt mit diesem Wunderwerk Körper: mal will er, mal will er nicht, das muss man hin und wieder entspannt sehen und einordnen. Mein Körper wollte im Jahr 2000 offensichtlich nicht mehr und züchtete mir eine schöne Tumorerkrankung heran, und mir war von Anfang an klar, dass ich mehr als nur eine Möglichkeit der Behandlung in Erwägung ziehen werde, was meine Ärzte allesamt natürlich total prima fanden. Die zogen in den nächsten Jahren - der ganze Kladderadatsch zog sich bis Ende 2002 hin - alle Register: Einschüchterungen, Beschimpfungen, Bedrohungen und irgendwann saß auch mal ein Psychiater an meinem Krankenbett und hatte die Aufgabe, meine "Geschäftstüchtigkeit" zu überprüfen. Die Betreiber des Scienceblogs dürften spätestens jetzt Hirnkonfetti schmeißen und "Richtig so!" ausrufen, aber ich muss sie in zweierlei Hinsicht enttäuschen: weder war und/oder bin ich verrückt, durchgeknallt und gefährlich und wurde also zwangstherapiert, noch habe ich mich eingemauert und die schulmedizinische Behandlung abgelehnt - zugegebenermaßen hat die Entscheidung hierfür einige Zeit in Anspruch genommen und es lief auch alles nicht ohne Schmerzen, Verluste und seelische Narben ab, aber auf was ich hinaus will: es spricht gar nichts dagegen, die Emotionalität, mit der die Diskussionen geführt werden, mit dem ein oder anderen Meter Abstand zu betrachten und die Brandstifter und Hetzer da stehen zu lassen, wo sie hingehören: in der Ecke, im Sumpf, im Abseits. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass sich die letztgenannte Gruppe in dramatischer Mehrheit aus der Gruppe der Schulmediziner rekrutierte, aber das möchte ich als persönliche Erfahrung und nicht als Pauschalisierung verstanden wissen. Ausgenommen sind Urologen, zu denen fällt mir tatsächlich wenig ein, was nicht rechtlich relevant sein könnte.

Die Gründe für diesen skizzierten Umstand sind vielfältig und worüber manch kluger Kopf ganze Bücher geschrieben hat, kann ein Hobbyblogger mit Hobbygedanken natürlich nicht in zwanzig Zeilen erläutern. Will ich auch gar nicht. Was angesichts des oben verlinkten Artikels allerdings auffällt und mich zur Raserei bringt, ist die totale Einseitigkeit, die zu keiner Sekunde die Strukturen der eigenen Welt hinterfragt, der Duktus, der in seiner Betriebsblindheit und mit seinem Vokabular gleichfalls von religiösen Fundamentalisten oder den Minderbemittelten von Politically Incorrect stammen könnte, die unerträgliche Bevormundung, das Infragestellen der freien Behandlungswahl und des freien Willens. Niemand hinterfragt die kriminellen Praktiken der Pharmaindustrie, niemand hinterfragt die allgegenwärtige Korruption, die wirtschaftliche Antriebsfeder, niemand hinterfragt die Kollateralschäden der Schulmedizin. Wenn im Wikipediaeintrag zur Homöopathie unter dem Absatz "Risiken der Homöopathie" geschrieben steht:

"2005 starb, ebenfalls in Australien, eine 45-jährige Frau an den Folgen einer Darmkrebserkrankung, die auch ausschließlich homöopathisch behandelt wurde."

dann muss das doch als im besten Fall tendenziös, im weniger guten Fall als kriminelle Propaganda und quatschdumme Irreführung bezeichnet werden, oder darf derselbe Artikel gleichfalls auf die schulmedizinischen Krebsopfer Bezug nehmen, die trotz, oder schlimmer noch: wegen der schulmedizinischen Behandlung verstarben? Ach so, die gibt es ja gar nicht. In unseren Krankenhäusern fließt Milch und Honig. Wie konnte ich es nur vergessen.

Es ist letzten Endes ein auf Angst und Panik aufgebauter Mechanismus, der um jeden Preis die eigenen Pfründe sichern und die Zentrierung auf das Ego und die damit einhergehenden Allmachtphantasien von so manchem Arzt und der Hände, die ihn füttern, am Leben erhalten muss. Das ist das Fundament, auf deren Basis die Argumentation geführt werden muss und nicht etwa auf der zynischen Betonung, es ginge um Recht, Wissenschaft und Menschenleben. Die Deutungshoheit liegt immer dort, wo das Geld wächst.

Meine Ärztin ist übrigens Allgemeinmedizinerin mit homöopathischer Zusatzausbildung. Sie nimmt sich das beste aus beiden Welten und hat es nicht nötig, die Angstmaschine auf Touren zu bringen. Genau deshalb hat sich mich in ihrer Patientenkartei.

Nachtrag um 21:30 Uhr: Meine liebgemeinte Nachfrage, ob die Netiquette des Blogs hinsichtlich der Propagandaregelung ("Jede Form von Propaganda (...) führt zur umgehenden Löschung des Kommentars und zur Sperrung des Accounts.") denn nicht auf Autoren der Seite zuträfe, wurde leider nicht beantwortet. Mein Kommentar wurde kommentarlos gelöscht. Die Jungs haben eine seltsame Auffassung von Kommunikation, freier Meinungsäußerung und Diskussion.

Tout Nouveau Tout Beau (6)


FLYING LOTUS -UNTIL THE QUIET COMES

Zugegeben: schon die drei vorangegangenen Alben des Kaliforniers Steven Ellison brachten mich ob ihrer musikalisch geschnitzten Falltüren und aufgestellten Beat-Bärenfallen in so manche Erklärungsnot - was übrigens hier und hier nachzulesen ist. "Cosmogramma" aus dem Jahr 2010 bekam den "Space Opera"-Sticker aufgeklebt, mit dessen Hilfe so mancher die komplette Ahnungslosigkeit hinsichtlich der Musik ganz gut überspielen und -schreiben konnte. Aber unabhängig von der Frage, ob die Musik von Flying Lotus an der ein oder anderen Stelle nicht vielleicht ein ganz kleines bisschen, nasagenwirmal: überambitioniert bewertet wird, ist "Cosmogramma" für mich, auch wenn ich es selten aufgelegt habe, ein großes Gesamtkunstwerk, eine irre Achterbahnfahrt durch 60 Jahre Musikgeschichte, elektronischer Free Jazz, spiritueller Post-Funk für eine Zeit, die wir alle nicht mehr erleben werden. Talking about "überambitionierte Bewertung".

"Until The Quiet Comes" stellt mich vor bedeutend größere Probleme, weil hier einerseits ein spiritueller, meinetwegen ideologischer, Überbau fehlt, der die Sache mit dem Verständnis (wenigstens für mich) vereinfachen könnte. Andererseits werkelt Ellison immer noch in der großen Kiste aus Sounds, Beats, Strukturen, Ideen, Varianten und Farben, dieses Mal aber deutlich entspannter und nokturner als in der Vergangenheit. Die Tunes sind zurückgezogener als auf dem Durchbruchsalbum "Los Angeles", sie wirken noch detaillierter und tiefer als die Schwestern und Brüder auf "Cosmogramma" - und wenn ich es mir recht überlege, ist das ein durchaus mutiger Schritt: Ellison rückt das grelle Blinken und Zischeln, den Krach, den Irrsinn in den Hintergrund, um möglicherweise erstmals den Blick auf das Wesentliche zu werfen. Ellisons Gespür für die akurate Darstellung hochkomplexer Momentaufnahmen seines Musikuniversums wurde vielleicht noch nie so glasklar auf eine schwarze Plastikscheibe gepresst, wie auf "Until The Quiet Comes". Paradoxerweise bedeutet das für mich bislang Kapitulation. Ich befürchte, dass ich diesen Brocken noch lange nicht verstanden habe. Und ich zweifle seit einigen Tagen, ob es mir jemals gelingen wird. Halten wir's mit den ollen Rochen von Asia: only time will tell.

Hoppala, das wichtigste hätte ich um ein Haar vergessen: wenn ich noch einmal die Rezension der Spex zu dieser Platte lesen muss, pisse ich mich ein. Schönen guten Abend.

Erschienen auf Warp Records, 2012.





HOLY OTHER - HELD

Die Debut-EP "With U" war eine der Sternstunden des Jahres 2011, und es ist geradeheraus ein Skandal mittelstrahligem Ausmaßes, dass ich bis heute noch kein Wort darüber verloren habe. Heute, im Oktober 2012, ist es angesichts des mittlerweile veröffentlichten ersten vollständigen Albums des britischen Produzenten auch schon eine Nussecke zu spät, aber dann soll nun wenigstens ebenjenes "Held" eine Handvoll Lob einfahren. Das Tri Angle Label dürfte meinen zweikommavierneun Lesern indes bekannt sein, denn immerhin fand Balam Acabs Debut den Weg in meine Jahresbestenliste 2011: Tri Angle wird in einschlägigen Kreisen seit der Musik von oOoOO, dem erwähnten Balam Acab oder auch Clams Casino als der heißeste Scheiß der neuen Elektronik gefeiert, was insofern verwundert, weil der ganze Beatsalat auf das erste Hören neu- und fremdartig erscheinen mag, er es sich aber Dank des flott einsetzenden Gewöhnungseffekts mittlerweile in der Sackgasse namens "Burial" gemütlich gemacht hat und dort langsam vor sich hinwelkt. "Held" leidet zu Beginn etwas an dieser Entwicklung, vor allem, weil sich "With U" zu dolle über die Gnade der frühen Geburt freuen darf. Was 2011 neu und aufregend war, ist 2012 eben weniger neu und weniger aufregend. Folglich bietet "Held" schlicht die Weiterführung des auf "With U" bereits ausgerollten Konzepts: dunkel verästelte Beats pumpen zwischen weiten Synthieflächen und verhallten Sprachfetzen das Blut der Finsternis durch brüchige Strukturen und opulente Arrangements, die trotz der Fülle an Winkeln und Schauplätzen nie überladen, sondern durchaus fokussiert und straff wirken.

"Held" ist zwar keine Überraschung mehr, aber wer einen Nachschlag zu "With U" braucht, wird hier bestens versorgt. Wenn es in diesem Stil aber weitergeht, bin ich bei der nächsten Scheibe raus. Was wir alle überleben werden, schätze ich.

Erschienen auf Tri Angle, 2012.





MONOPHONICS / DESTRUMENTS - LIKE YESTERDAY / FREEDOM

Das Konzert der Monophonics in Frankfurt wurde aufgrund des miesen Vorverkaufs ersatzlos gestrichen, was mich doppelt ärgert. Erstens grenzt es beinahe an ein Wunder, dass die Kalifornier bereits ein paar Monate nach Veröffentlichung des Debuts überhaupt eine Headlinertournee durch Europa durchziehen, und ich glaube nicht, dass die Band so schnell nochmal in die alte Welt übersetzen wird. Zweitens sah ich die Monophonics vor wenigen Wochen im Rahmen eines US-amerikanischen Festivals in dessen Livestream und war begeistert von ihrer Präsenz und ihrem Soul. Ein großes Ensemble mit fantastischen Musikern, die die Tracks des Debuts "In Your Brain" ausgesprochen lebendig und kraftvoll interpretierten. Das wäre sicherlich ein großartiger Abend im Frankfurter Zoom geworden. Es sollte aber nicht sein, weshalb ich aus Trotz die neu erschienene Splitsingle mit den Destruments einkaufen musste. Ein kleines, simples und doch authentisches Juwel aus Soul und Funk, das sich die Plattenladengräber sicherlich schon gesichert haben. Vielleicht wird man sich in 20, 30 Jahren an die Monophonics erinnern und "Mensch, das war auch eine arschcoole Band!" sagen. Meine anfängliche Reserviertheit bezüglich des Albums hat sich jedenfalls und mittlerweile fast in Luft aufgelöst. Ein echter Grower. Weitermachen, bitte. Und irgendwann mit den fantastischen Orgone nochmal auf Europatournee kommen. 

Erschienen auf Colemine, 2012.



03.10.2012

Von Autos und Menschen

Einen ganz wunderbaren Artikel habe ich gestern Nacht im Blog der Tageszeitung entdeckt, und ich möchte an dieser Stelle gerne darauf hinweisen.

Der Autor Karim El-Gawhary lebt in Kairo und schreibt in seiner Kolumne "Arabesken" über das Leben im Nahen Osten. In diesem speziellen Fall berichtet er über sein Erlebnis, als er mit seinem Auto im Halbschlaf ein anderen Auto beim Ausparken schrammte und wie sich der Dialog zwischen dem Geschädigten und dem Täter in der Folge weiterentwickelte.

Es ist nicht ausschließlich dieser Text, der wieder etwas Hoffnung in mir keimen lässt, dass die Welt eben doch nicht dieser kalte, hasszerfressene Ort ist, den ich manchmal am liebsten in rosafarbenen Watteplüsch einmümmeln würde. Es sind auch die vier Kommentare, in denen die Leser ihre Erlebnisse mit dem Kairo'schen Verkehrsgewusel erzählen, die ähnlich viel Herzlichkeit und Offenheit ausstrahlen, wie der Haupttext.

Ich find's jedenfalls total super.

“Wer anderen Autos eine Schramme zufügt”. Eine Liebeserklärung an Kairo