17.07.2010

On A Single Page


Mia Doi Todd - Sleepless Nights


Einer kleiner Hinweis an die Folk-Fraktion, ein bisschen überraschend aus dem Hause Kindred Spirits. Das Amsterdamer Label überzeugt für gewöhnlich mit Soul, Funk, Jazz und Electronica im Katalog, während die Kalifornierin Mia Doi Todd auf dieser kleinen 7-Inch-Single mit zwei folkigem Singer/Songwriter-Perlen ihrer acht Alben und zwei EPs umfassenden Diskografie ein weiteres Mosaiksteinchen hinzufügt. 

"Sleepless Nights" ist ein mediterraner Pflaumenkuchen mit Früchten aus dem Garten Joni Mitchells, eingenommen um 3:11 Uhr morgens, in einer Hollywoodschaukel über den Hügeln L.A.s, dazu wird ein unkomplizierter Rotwein gereicht. "Night Of A Thousand Kisses" auf der Flip versprüht einen leicht schrägen Stimmungsfond und erscheint, ganz dem Titel entsprechend, ein bisschen sexy, schwül und entrückt. Mir kommt hier und da - und spätestens beim Gesangseinsatz - sogar kurz Dead Can Dance als mögliche Verbindung in den Kopf - eine Low Budget Version von Dead Can Dance, aber immerhin. Selbst das bekommt man schließlich nicht mal so mit links hin. Todd arrangiert schnörkellos, ihre einzigen Begleiter sind ein Bass/Cello (gespielt von Joshua Schwartz), hier und da eine schwerelose Percussion-Streichholzarmee von Andres Renteria und eben ihre mollig rollende Gitarre. No big deal, könnte ich jetzt sagen, aber mich haben die beiden Titel sofort gepackt. Das ist weit vom Kitsch entfernt und somit keine watteweiche Allerweltsmusik für "naive Allesgutfinder"(Peter Weihnacht). Die steht ja sowieso seit Jahren immerwährend an der Spitze der Indie-Charts, Mia Doi Todd ist also unschuldig.

Andererseits ist es angesichts der Tiefe der beiden Tracks dann auch kein Wunder mehr, dass Kindred Spirits den Zuschlag erhielten (und vor 2 Jahren auch das passende Album "GEA" zu dieser Single veröffentlichten), richtet sich ihre Message doch an ein Publikum, "that appreciates a wide range of soulful, spiritual music.".

Passt. Ganzes Album auch prima, also los da. 




Erschienen auf Kindred Spirits, 2008

10.07.2010

Die Verdammten

Keine Bange, 3,40qm wird kein politischer Blog. Dass mir dennoch von Zeit zu Zeit ob der unsagbarsten Schweinereien die Galle überschwappt und ich meinem Ärger irgendwie Luft machen muss ohne gleich einen Passanten zu verprügeln, bitte ich zu entschuldigen.

Heute auf dem Speiseplan der Schildbürger: die SPD, nicht erst seit gestern so in etwa das sinnentleerteste und trostloseste Häufchen Elend in der an sinnentleerten und trostlosen Häufchen, ach was: ganzen Haufen nicht so ganz armen politischen Szene, möchte die Zuschüsse seitens deutscher Krankenkassen an homöopathischen Behandlungen streichen.

"Richtig so!" kräht's aus dem obenrum nicht so reich beschenkten Kleingeist. Alles nicht erwiesen, ein Placebo tut's doch auch, die Kassen sind pleite, wir werden alle sterben. Es tut so gut, wenn man den eigenen Minderwertigskomplex mit dem Getöse der großen Politik spazieren tragen darf - das fühlt sich wichtig an und man gehört ja dann doch auch irgendwie dazu.

In einer Zeit, in der unser Gesundheitsministerium, das übrigens seit jeher reich von der Pharmalobby mit Spendengeldern im lockeren zweistelligen Millionenbereich bedacht wird - selbstverständlich ohne jegliche Einflussnahme, unsere gewählten Volksvertreter sind fraglos der Fels in der Brandung namens Korruption, eine Gesundheitsreform plant, die eben nicht den schmierigen Verbrechersumpf aus Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Pharmaunternehmen, Apothekern und Ärzten wenigstens sachte beginnt aus zu trocknen, sondern sich nicht anders zu helfen weiß - eine Überraschung jagt die nächste! - als die Gesundheitsabgaben für Arbeitsnehmer zu erhöhen, bei gleichzeitiger Festsetzung des Arbeitgeberanteils sowie einem Persilschein an Krankenkassen hinsichtlich eines Zusatzbeitrags ausstellt und damit die "mafiösen Strukturen im Deutschen Gesundheitswesen"(Bundeskriminalamt Wiesbaden) weiter zementiert und sogar einen Markus Söder (CSU) zu der Aussage verleitet, es sei "politisch schwer vermittelbar (...) unbegrenzt Kosten auf die Versicherten [zu] übertragen", in einer Zeit, in der es eine Zusammenrottung aus menschlichen Wildschweinen im Rahmen einer veritablen Verschwörungsszenerie schafft, den Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Peter Sawicki, ab zu setzen (Link 1, Link 2) und mit einem industriefreundlichen Taugenichts namens Jürgen Windeler zu ersetzen, der zum 1. September die Nachfolge antritt und der nun im Spiegelbericht die Homöopathie als "spekulatives, widerlegtes Konzept" bezeichnen darf/muss, in einer Zeit also, in der das Geklüngel und die Korruption sich geradewegs explosionsartig vermehren, soll an der Homöopathie gespart werden.

Ich muss nur eine stinkesimple Wikipedia-Recherche bemühen, um folgendes heraus zu finden:

"2007 betrug der Anteil homöopathischer Arzneimittel im deutschen Apothekenmarkt am Umsatz 1,09 %, an der Zahl der verkauften Einheiten 3,26 % (3,16 % im Vorjahr).[52] Im Jahr 2008 lag der Anteil homöopathischer Mittel an verkauften rezeptfreien Arzneien bei rund 7 %, was einem Verkaufswert von 399 Mio. Euro entspricht. Dabei war der Anteil der Selbstkäufe weitaus höher als der Anteil der Käufe auf Verordnungen durch Therapeuten."

Außerdem:

"Weltweit liegt der Umsatz mit homöopathischen Arzneimitteln geschätzt in einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro. Das sind weniger als ein Prozent des gesamten Arzneimittelmarkts."

Des Weiteren:

"Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen unter bestimmten Bedingungen homöopathische Behandlungen bei Ärzten mit der Zusatzbezeichnung „Homöopathie“, beispielsweise im Rahmen von Verträgen zur Integrierten Versorgung, an denen allerdings nur ca. 1 Prozent der Kassenärzte beteiligt sind."


Weltweiter Umsatz in Höhe von 2 (in Worten: ZWEI!) Milliarden Euro? Weniger als 1 (EIN!!) Prozent des gesamten Arzneimittelmarktes? "Können wir den Witz nochmal in Farbe hören?" (Volker Pispers). Schon wieder quallt es aus den Vakuumköpfen hervor:"Diese Kosten dürfen auf gar keinen Fall auf die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land abgewälzt werden" - von den MILLIARDEN, die uns dieses korrupte Schweinesystem jährlich kostet, redet kein Mensch - stattdessen füttern wir es die ganze Zeit fett. Bin ich der einzige, dem das alles komplett absurd vorkommt?

Dem ganzen Schlamassel liegt übrigens dasselbe Prinzip wie beim Umgang mit Hartz 4-Beziehern zu Grunde: die, die keine Lobby haben, die, die es sich nicht leisten können, sich zu beschweren, die, die von der Politik schon lange aufgegeben wurden und damit mit allem gedemütigt werden können, weil's uns halt allen sowieso am Arsch vorbeigeht, die, deren Stimme niemals Gehör finden wird - die können wir schön in einem selbstgemachten Sud aus Hochmut, Gier und Demütigung weichkochen und sie hinterher als die armen Opfer, die nützlichen Idioten einer seit Jahrzehnten fehlgeleiteten Politik einerseits und einer außer Kontrolle geratenen Wirtschaft auf dem Silbertablett eines ebenfalls von Lobbyisten und Heuchlern unterminierten politischen Feuilletons präsentieren, und auf die herunter zu schauen uns soviel eigenen Stolz und einen prächtig geäderten, dicken Pimmel beschert. 

Wir müssen es echt nötig haben.

27.06.2010

Blues And Beyond

Joëlle Léandre & Akosh S. - Kor

"Jazz is taught now in conservatoires along the same lines as classical music, with concours [competitive exams] at the end of the year and all that.. We're producing a generation of old young people who know it all at age 27. It's sterile, antiseptic; there's no danger, no experimentation. I'm completely against it."
Leandre ist wütend. Wütend über eine verkrustete, unbewegliche Szene, die einerseits jede Sekunde den Non-Mainstream feiert, weil's halt so schön anspruchsvoll und unangepasst wirkt, andererseits aber all das, was sie nicht versteht, als "schwierig" und "abgehoben" verdammt. Über Konzertveranstalter, die Musik wie jene auf "Kor" am liebsten in 10qm großen Toiletten live präsentieren würden, weil sie es ihrem "geliebten Publikum", ergo: der goldenen Kuh, die man 24/7 melken muss, zur Primetime nicht zumuten können.

Die französische Bassistin, deren eindrucksvoll umfangreiche Diskografie ein Buch füllen würde, und die bereits mit Größen wie Hamid Drake, Marilyn Crispell, Anthony Braxton, John Zorn oder Evan Parker zusammen spielte, zelebriert auf "Kor" mit dem ungarischen Saxofonisten und Multiinstrumentalisten Szelevényi Akos ein gut 50-minütiges, improvisiertes Set, live aufgenommen im Olympic Cafe in Paris. Ich wurde durch den großartigen Freejazz-Blog auf dieses Album aufmerksam, das ebendort die Höchstwertung erhielt. Die Zusammenstellung Bass/Saxofon fand ich darüber hinaus ebenfalls sehr spannend, womit für genügend Kaufanreize gesorgt war. Ich habe es nie bereut und hätte, ehrlich gesagt, schon sehr viel früher über "Kor" schreiben sollen, wo nicht müssen. Genau genommen hätte "Kor" ohne Zweifel in meine "Best Of 2008"-Liste gehört. Ich glaube, Lloyds "Rabo De Nube" hat ihm in letzter Sekunde den Rang abgelaufen. Sei's drum.

Allein die Ausgangssituation bringt Begriffe wie "spröde", "rissig" oder "Zerfasert" in die Diskussion, und das, ohne vorab auch nur einen Ton gehört zu haben. Dabei ist es mitnichten ausschließlich der knarzende Bass, der für die Breite und den unbeweglichen Krunsch (wtf?) sorgt und der außerdem in so manchem Moment klingt, als würde er mit Leandre spielen und nicht umgekehrt. Das Ding lebt doch?! Leandre zieht alle Register: mal schmeckt es nach Mutterboden, nach rauchigem Holz, nach porösem Lavagestein, mal nach einem indischen Spiritual oder den Eislandschaften eines Thomas Köner. Auch Akoshs Spiel nimmt Leandres Grundmotive dankbar auf, ohne nicht auch hier und da in ein sattes Grasgrün zu tauchen und es Melodien regnen zu lassen. Ihre Kommunikation ist beeindruckend zu verfolgen, sie sind Seite an Seite und mit unsichtbaren Seidenfäden miteinander verbunden. Selbst wenn sie sich voneinander entfernen, treffen sich ihre Wege in dem großen Synapsen-Schaltkasten. Weil sich jeder auf den anderen einlassen kann, weil sie sich blind vertrauen können. Das hört man tatsächlich, und das gibt über die Musik hinaus einfach ein sehr starkes, positives und helles, leichtes Gefühl.

Besonders beeindruckend: Leandres tiefes Gebrüll über Akoshs in Fetzen fliegendes Saxofon in "Part 2". Ist das schon Avant-Blues? Es zieht einem die Kehle zu, man ist angewidert und fasziniert in einem. Katharsis ist ein Scheiß dagegen. Und trotzdem: "Kor" ist zu keiner Zeit abgehoben oder verkopft, ich empfinde es im Gegenteil als sehr geerdet und verwurzelt.

"People are there, they listen, they're moved. Who says this is difficult music?!" - Ja, wer eigentlich?

Erschienen auf Leo Records, 2008

23.06.2010

Viel tiefer wird's nicht mehr gehen, Junge!


FLYING LOTUS - Cosmogramma

Ich begreife es nicht. Ich begreife eigentlich gar nichts.

Da mal ein Fetzen, der vertraut erscheint, danach wieder into the void. Die Kombinationen sind's, die orientierungslos machen, wie Netzschwankungen beim örtlichen Stromdienstleister die Heliumlampe - quatsch - die Halogenlampen durcheinander wirbeln. "Cosmogramma" soll Steve Ellingtons "Space Opera" sein und die Aufsätze, die seit Erscheinen dieser Platte erschienen sind, dokumentieren natürlich genau jene Assoziationen, die ein solcher Begriff eben mit naturgemäß mit sich bringt - vor allem in der jungen, hippen, unangepassten Szene, die in der Spex die verlorengegangenene "bohemistische Geste" des Rauchens beklagen darf, wenn der Glimmstengel zwischen Mittel- und Ringfinger vor sich hin qualmt, beziehungsweise eben nicht (mehr). Wo raucht eigentlich Annett Louisan, wenn man sie mal braucht?

Herr, vergib' mir, denn ich trank White Russian und bin jetzt mindestens genauso unangepasst wie Karl Dall oder Kader Loth. 

Okay, okay..."Cosmogramma" ist ein Koloss. Viel monumentaler als das Durchbruchsalbum "Los Angeles" aus dem Jahr 2007, das auch nicht gerade arm an monumentalen Entwürfen war - wenn auch viel futuristischer. "Cosmogramma" ist des Weiteren viel anspruchsvoller als der Erstling "1983", der, Sie ahnen es bereits, jetzt auch nicht so super anspruchslos war. Ich kann die Durchläufe mittlerweile nicht mal mehr erahnen und so langsam, so ganz langsam steckt Herr Sinn den Kopf aus den Lautsprechern und zeigt mir den ein oder anderen Weg. Wobei das nicht angemessen formuliert ist: er zeigt mir keinen Weg, er zeigt mir immer öfter das Große.

Das Ganze. 

Wenn nach den gefühlten zwei Stunden die finale Auslaufrille erreicht ist, und ich zurückgelehnt und mit einem Gesichtsausdruck, der "Hatte ich eben einen Orgasmus, Baby?" fragt, versuche rückblickend und aus der hohen Ferne des Walsertals das saturngroße Zirkuszelt zu überblicken, das all diesen Irrsin einfängt und umspannt, luftdicht verpackt und dokumentieren will, dann wird mir immer öfter eine Idee geschenkt, die "Cosmogramma" zu etwas sehr Bedeutsamen und Epochalem werden lässt. Weil es da Nanofunken gibt, die mir aufgeregt und hektisch gestikulierend beweisen wollen, dass das alles tatsächlich zusammenhängt. Dass da eine Methode existiert, die nicht "Zufall" oder "Glück", sondern "Disziplin", "Märchen", "Respekt" oder "Demut" heißt. Vielleicht heißt sie auch "Rebellion" und "Aufruhr" - vielleicht erging es den Menschen 1960 ähnlich, als sie "Free Jazz" hörten und nicht wussten, was da gerade über sie hineinbricht. Wird "Cosmogramma" denn überhaupt von einer politischen oder gesellschaftlichen Message getragen, die mit den großen Meilensteinen des Jazz zu vergleichen ist? Natürlich nicht direkt, wir haben heute 2010 und die Welt wird von Tag zu Tag zynischer und obszöner - auch wenn wir gerne darüber diskutieren können, wie zynisch und obszön sie 1960 für Afro-Amerikaner in den USA ausgesehen haben mag. 


Aber gibt es hier ein vergleichbares Brodeln, dass Dir ohne Worte zeigt, aus welchem Wahnsinn es sich speist? Oder ist es am Ende gar kein Brodeln, ist es nicht viel mehr eine Umarmung, ein sanftes und gütiges Lächeln, dass Dir im tiefstem Innern versichern will, dass alles gut ist und noch besser wird? Oder ist "Cosmogramma" doch eher ein simpler Hedonismus, der eitel und selbstgefällig alle vierzehn Sekunden nachschauen muss, ob die Frisur sitzt, weil er es sich leisten kann?

Und jetzt, wo ich all das schreibe, kommt mir das doch wieder alles viel zu groß und viel zu pathetisch vor - wir reden schließlich immer noch und nur von Musik. Andererseits - und das glaube ich wirklich: ich könnte mich "Cosmogramma" gar nicht anders nähern, als über die Frage nach der Vision und dem Motiv. Und ich könnte mir "Cosmogramma" nicht anders erklären, als über die Frage nach der Einheit und nach der Spritualität, der Erhabenheit und der Ergebenheit.

Das ist keine banale Sammlung von Noise und Beats, keine wahllose Aneinanderreihung und Überhäufung von Schichten und Ebenen. Das ist das große Lexikon der Musik, der Spiritualität und des Lebens. Im Zeitraffer und in Milliarden kleiner Splitterfragmente ausgebrütet und dargelegt von einem, der dieses ganze Scheißspiel offenbar verstanden hat.

Und ich darf zum Ende und in diesem Zusammenhang den unvergessenen Bill Hicks zitieren:
"How about a positive LSD story, that would be news-worthy. Don't you think...? Anybody think that...? Just once, to hear a positive LSD story...? Today a young man on acid realized that all matter is merely energy condensed to a slow vibration, that we are all one consciousness experiencing itself subjectively, there is no such thing as death, life is only a dream, and we are the imagination of ourselves... Here's Tom with the weather.
"

Kapitulation? Niemals!

Erschienen auf Warp, 2010

20.06.2010

Neunziger (4)


ROLLINS BAND - Weight


Rollins Band-Alben sind für gewöhnlich nicht die schlechteste Wahl, mag man es sophisticated, kraftvoll, und ungewöhnlich genug, um nicht nach nur einem Durchlauf in den Dornröschenschlaf zu fallen. Vor diesem Hintergrund erscheint es etwas schade, dass sich Rollins zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts und mit Scheiben wie "Get Some Go Again" und "Nice" für den schnörkellosen und vergleichsweise banalen Rotzrock anstelle des groovigen, leicht verfrickelten und nie so richtig klar zu bestimmenden Sounds entschieden hat, der insbesondere zwischen 1993 und 1998 das klangliche Bild seiner Band ausmachte. "The End Of Silence" (1992), "Weight"(1994) und "Come In And Burn" aus dem Jahr 1997, alle eingespielt mit einer beeindruckenden Truppe von großartigen Musikern, zählen zu den von mir unterbewertesten Scheiben - und ich kann es nicht so recht erklären, woran das liegen mag. 

Rollins steht nie so wirklich auf meiner Agenda, dennoch lege ich die drei genannten Werke immer noch regelmäßig auf und bin jedes Mal auf's Neue erstaunt, wie gut sie sich anhören - bei Musik aus den neunziger Jahren alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Besonders erfreut werde ich vom 1994er Album "Weight", dank der Singleauskopplung "Liar", deren Video es in die Heavy Rotation bei MTV schaffte, vermutlich das erfolgreichste und bekannteste seiner Karriere. Und natürlich ist "Liar" die Krönung eines aber auch ansonsten nahezu makellosen Albums: die angejazzten Gitarrenakkorde, die ganz dem Songinhalt entsprechend den Boden doppelt und dreifach auslegen, Rollins' fantastisch arrangierte Sprechstimme, die funkigen Bassläufe - und dann der brachiale Übergang in ein Meer aus Blitz und Donner, aus Pech und Schwefel. Als würden Fugazi mit Motörhead Nirvanas "In Utero" hören und sich dabei gegenseitig an die Gurgel gehen. Ein großartiges Stück mit einem ebenso großartigen Video. Aber "Weight" ist alles andere als ein One-Hit-Wonder-Album:"Disconnect", "Fool", "Civilized" und "Volume 4" sind erfreulich unkonventionelle Musikgranaten, die von den Fähigkeiten jedes Musikers getragen und geprägt werden. Vom ungeheuer vielseitigen Gitarrenspiel eines Chris Haskett beispielsweise, der funky und jazzy Licks ganz selbstverständlich zwischen dampfenden Riffkeulen unterbringt, der es federleicht vor sich hin wedelnd kann und im nächsten Augenblick tiefergelegtes Bratzenschrot auf der gerifften Riffgitarre anschmort. Oder der mit massivem Punch ausgestattete Melvin Gibbs am Bass, der sich mit Drummer Sim Cain die wie improvisiert wirkenden, federnden Groovewolken und supertighten Megabreaks zuspielt, als sei es so einfach und unbeschwert wie Erdbeerkuchen. Und Eisenheinrich? Der presst sich sympatische Lyrik zum empathischen Weltuntergang aus dem baumstammdicken Halsgeschwulst:

now. what the fuck is going through your tiny little mind?
I'm gonna show ya how fragile you really are... yah.
yeah! I think I'm gonna fuck with you, I think I'm gonna fuck with you
yeah you, yeah you! yeah you, motherfucker!


Und ein wenig differenzierter in "Disconnect":

all the things that they're saying & doing
when they pass me by it just fills me up with noise
it overloads me
I wanna disconnected myself
pull my brains damn out, unplug myself
I want nothing right now, I want to pull it out


Das hat alles eine enorme Wucht und Durchschlagskraft, die sogar soweit geht, dass man meint, Henry singe ausschließlich mit Schaum vorm Mund. Aber es hat eben auch Ausdruck, es hat Charme, im besten Fall. Im weniger guten Fall schreit die blanke Verbitterung aus ihm heraus, eine große Enttäuschung, die Wut - liest man das eine oder andere Interview mit Rollins, könnte man zu dem Schluss kommen, er sei über sich selbst am meisten wütend. Einerseits erscheint er als überzeugt und überzeugend, tough und diszipliniert, andererseits grollt ihm auch immer unterschwellig der Ekel vor sich selbst aus seinen Worten - der Mann kämpft nicht nur gegen die anderen, er stellt sich auch mit Vorliebe gegen sich selbst. Dennoch: kann mir bitte jemand seine "Support The Troops"-Scheiße erklären? 

Ich bin jetzt etwas "abgeschwiffen" (Urban Priol), komme aber hier und jetzt zum eigentlichen Thema zurück:"Weight" ist ein verdammt starkes Album.

Erschienen auf Imago Records, 1994

14.06.2010

Zwischenruf (4)

Einen ganz wunderbaren Northern Shore-Mix mit dem Titel "Lost In Smallville" gibt es bei Soundcloud zum Anhören und sogar zum Downloaden. Für Sommernächte und bekifft-sedierte Balkonabende nach dem Tanzrausch. Es fließt und wabbert - und das immerhin über 90 Minuten lang. Und es geht mir trotz der Länge noch nicht mal auf den Keks. 

Walk this way --> *KLICK*

03.06.2010

Denkt denn niemand an die Kinder??? (1)

Dreikommaviernull und Christian "Pogromstimmung" Wulff präsentieren: den (hoffentlich) regelmäßigen 7-Inch/Single/45rpm-Rundumschlag mit den besten Singles der letzten Wochen, Stunden, Jahre. Wir beginnen, schön aufpassen. 


Nice Nice - Sea Waves

Die "Chrome"-LP aus dem Jahr 2003 (damals noch via Temporary Residence erschienen) brachte mich auf dieses sympatisch angeschrägte Duo aus Portland - mittlerweile sind Jason Buehler und Mark Shirazi auf Warp gelandet und legten vor wenigen Wochen mit "Extra Wow" ihr dortiges Debut vor. "Sea Waves" ist die erste Singleauskoppelung und klingt, als hätten die Einstürzenden Neubauten 80er Jahre Discofuzz mit einem Sack Aufputschmittel gemampft. Es brizzelt, es fiept, es groovt wie Drecksau - und ist trotz aller oberflächlicher Zerissenheit wunderbar eingängig. "We Stayed" auf der Flip ist großer, schwebender Elektrofiep-Ätherpop. Etwas gemäßigter in der Anlage, aber unverkennbar clubtauglich.

"Sea Waves" gibt es hier zum offiziellen Download.




Year Future - The Hidden Hand

Geiles, politisches Postcore-Brett mit manischem Sänger (Sonny Kay, u.a. Angel Hair) irgendwo zwischen Fugazi und früh 80er Hardcore mit seltsam sublimer Wave/Goth-Schlagseite und depressiver Wut- und Verzweiflungskante.

Ziemlich apokalyptisches und verdrehtes Gestampfe in "Police Yourself" trifft auf intensiven, mit leichten Screamo-Elementen angereichterten Zappendustercore im Titeltrack. Textlich kommt intellektuelles Futter für Menschen hinzu, die nicht wissen, wo sie mit ihrer Wut noch hinsollen, ohne sich gleich strafbar zu machen (obwohl...). Hat durchaus etwas Versöhnendes, im Sinne von "Verbindendes". Nix für Sonnenanbeter. 



Bullion - Say Goodbye To What

Manch einer wird sich dunkel erinnern: Bullions "Get Familiar" war 2008 einer meiner Lieblingssongs und man kann nicht sagen, dass Nathan Jenkins seither untätig gewesen wäre. Seine Remixfinger sind immer da, wo die Musik spielt. Ich entschied mich für die aktuelle "Say Goodbye To What"-Single, die dank der Vocalsamples deutlich freundlicher erscheint, als das etwas nokturne "Get Familiar". Die Kinderchor-Hookline ist brilliant, der Beat lässt Köpfe und Gliedmaßen (sch)nicken. "Crazy Over You" ist dagegen fast schon bierernst, gar traurig, mit wunderbarer Soul-Verzierung und der verhallt-verzerrten Aura dunkler Dubstep-Produktionen. Erinnert mich brutal an irgendwas, respektive irgendwen und ich komme zum Fick nicht auf den Namen. Tipps und Vorschläge bitte an Horst Köhler, Erdloch 17, 49983 Woderpfefferwächst.

"Say Goodbye To What" kann man hier hören.

23.05.2010

The Beard Is Out There! - V


Das fünfte Studioalbum der "Locker wie Frischkäse"-Buben aus Kalifornien sorgte für die ersten Haarrisskratzer auf der bis dahin strahlenden Fassade, ist allerdings in meinen Augen lediglich um Nanopartikelchen schwächer als die vier Vorgänger.

Hatte die Band bis dato nicht einen nur-beinahe-perfekten Song geschrieben, gab es auf "V" das erste ganz, ganz kleine Stirnrunzeln. Gewohnt-geniale Tracks wie das mit massiven Hooklines ausgestattete "At The End Of The Day", das einem schon nach erstmaligem Hören schon nicht mehr aus dem Kopf fallen will oder der 26-Minuten-Klumpen "The Great Nothing", der locker in einer Reihe mit "The Water" oder "The Light" steht, hätten gleichfalls auf den Vorgängern für Begeisterung gesorgt. Die Problemchen beginnen hingegen mit dem für Beard-Verhältnisse tonnenschweren "Revelations" und dem "Thoughts"-Nachglüher "Thoughts Part 2", die beide erstmals etwas im Klischee festgeleimt wirken. Besonders "Thoughts Part 2" wirkt wie eine bloße Frickel-Schau, die Spock's Beard bis dahin niemals nötig hatten. Fraglos waren sie technisch immer mehr als nur state-of-the-art, aber sie mussten nie die Muskeln spielen lassen, sie überdeckten ihre brillianten Fähigkeiten eben lieber mit überlebensgroßen Songs. 

"Revelation" andererseits ist in der Stimmung und Anlage fast schon zu sehr Metal, zwangsläufig zu deutlich und offensichtlich und damit in der Wirkung einfach zu plump. Das kannte man bisher nicht von Morse - aber andererseits: da sich die Anhängerschaft, zumindest in Europa, fast ausnahmslos aus der Metalszene rekrutierte, wollte man dem Mob eben ein bisschen Fresschen hinwerfen, das weitgehend problemlos verarbeitet werden konnte. Die beiden Beard-typischen Ohrenschmeichler "All On A Sunday" und "Say Goodbye To Yesterday", die das Album komplettieren, sind solides, wenn auch nicht überragendes Futter für die Fangemeinde.  

Was sich im Vergleich mit den Vorgängern wie ein Verriss liest, ist bei Licht betrachtet ein immer noch sehr, sehr starkes Album mit einigen echten Höhepunkten und eineinhalb minimalen Absackern. Heißt in Gänze: Mein fünftliebstes Spock's Beard-Album. 

Den Verriss könnte ich für den überambitionierten und deswegen ganz schön in die Hose gegangenen Nachfolger "Snow" schreiben, nach dessen Erscheinen Neal Morse seinen Hut nahm und die Band verließ. Da Verrisse aber stinklangweilig sind, lass ich's bleiben. Lieber die ersten fünf Sahnealben in Endlosschleife hören. 

Erschienen auf InsideOut, 2000

19.05.2010

The Beard Is Out There! - Day For Night

Den Durchbruch auf breiterer Front erreichten Spock's Beard mit ihrem vierten Studioalbum "Day For Night". Die Verkäufe zogen nochmals an, die Konzerthallen wurden größer, waren immer öfter ausverkauft und entließen nicht selten ein freudentrunkenes Publikum in die Nacht.

"Day For Night" ist im Rückblick das wohl ausgereifteste Werk des Fünfers, das hier wirklich alle Stärken bündeln und in vollem Umfang ausspielen konnte. Mit dem Titeltrack gelang es Morse sogar, das Thema des Iron Maiden-Klassikers "Caught Somewhere In Time" unter zu bringen, "Gibberish" bot irrwitzigen Satzgesang der Marke Gentle Giant, "Distance To The Sun" ist nach "June" auf dem Vorgängeralbum eine weitere Megaballade, "Crack The Big Sky" ein typischer Beard-Track im Stile von "Walking On The Wind" mit unfassbarem Drumming von Nick D'Virgilio, während "The Gypsy" mit seiner schrägen Stimmung und ungewohnter Härte etwas aus dem Rahmen fällt. Bis dahin also alles wie gehabt: sieben Übersongs, mal eben mit links aus dem Handgelenk geschüttelt. 

Das dicke Ende sollte aber erst noch kommen: das knapp 25-minütige "The Healing Colors Of Sound" ist der wohl beste Longtrack, den die Band jemals geschrieben hat, auch wenn sich die Zutaten im Grunde nicht wesentlich von den anderen Göttergaben wie "The Water" oder "Time Will Come" unterscheiden. Morse flitzt durch all das, was sein Hirn in über 30 Jahren Musikverrücktheit aufgesaugt hat, perfekt ausgearbeitet, perfekt arrangiert, alles bis zum Ende und noch darüber hinaus gedacht. Hier sitzt einfach jede Note, jedes Wort, jedes Luftholen, jeder Klavier-, Bass-, und Gitarrenanschlag, jeder Beat. Jedes Umschalten von schleppenden Passagen in ein federndes "Sunny-California-Feeling" gelingt wie in Trance, jede Melodie berührt so tief, jede Akzentuierung löst Freudenschreie aus.

Gekrönt wird dieser Brecher von dem - ich lege mich fest - ergreifendsten und genialsten Gitarrensolo aller Zeiten: Alan Morse, der vor 20 Jahren mit seinem Bruder Neal wettete, ohne Plektrum schneller spielen zu können, als Neal mit Plektrum (und die Wette natürlich gewann), dieser Feeling-Gott mit seiner halb zerstörten Fender Stratocaster, grundsätzlich bis unter die Dachhaube zugekifft und im wahren Leben CEO einer amerikanischen IT-Firma, zeigt innerhalb von drei Minuten wie zum Heulen schön Musik sein kann. Die Luft vibriert, der Boden bebt, die Töne schweben, die Feedbacks lassen Felsmassive erzittern.

Oliver Klemm vergab vor 20 Jahren mal 8 von 7 Punkten für Aerosmiths "Pump"-Album und schloss seine Review mit den Worten "Was also tun? 8 Punkte geben? 'Pump' hat diese Ausnahmenote verdient.". Ich tue es ihm zumindest in der Sache gleich:"Day For Night" hat sich zweifellos die 11/10 verdient.

Erschienen auf InsideOut, 1999.

17.05.2010

Ronnie James Dio 1942 - 2010

Die ersten Jahre meiner Musikverrücktheit verbrachte ich Mitte der 80er Jahre mit Roland Kaiser und hessischen Lokalmatadoren wie den Rodgau Monotones oder Flatsch, bevor um 1986 herum die britische Metalband Iron Maiden den Thron der Florian'schen Nummer Eins erklommen konnten. Mein Bruder Dirk fungierte dabei als Plattenlieferant, und ich erinnere mich daran, dass ich in den folgenden Jahren eine Platte mindestens ebenso oft hörte, wie die ollen Maiden-Klassiker. Und das war Dirks Schuld. Es war "Holy Diver", das Solodebut des ehemaligen Rainbow- und Black Sabbath-Sängers Ronnie James Dio. 


Alleine das Cover hatte eine ungeheure Anziehungskraft auf mich (hier ist womöglich die Parallele zu Maiden zu ziehen) - ein Pfarrer, der unter dem gartig-glühenden Blick des kettenschwingenden Teufels, festgekettet in reißenden Fluten droht unter zu gehen. Es schockierte Mutti und wahrscheinlich eben auch mich selbst. Teufelsmusik. Das legendäre Intro zum Titelsong versetzte mich in Faszinationsstarre, die Hymne "Stand Up And Shout" oder das gigantische "Don't Talk To Strangers" - all diese Songs wurden zu völlig selbstverständlichen Begleitern für die nächsten Jahre. "The Last In Line", das zweite Album, reihte sich genauso ein wie das Drittwerk "Sacred Heart": diese drei Scheiben - wie soll ich's beschreiben - ich kann heute möglicherweise auf völlig anderen musikalischen Planeten aufhalten, mich in Jazz, Elektro und HipHop suhlen, aber diese Songs sind wie Heimkommen, mehr noch als alte Freunde, denn sie haben mich nie im Stich gelassen. Ich verbinde besonders die Songs des Debuts heute noch mit Gerüchen, wie ich sie damals in der Wohnung meiner Eltern wahrgenommen habe, als eben "Holy Diver" lief. Und es passiert bis heute regelmäßig, dass ich beispielsweise "Sacred Heart" aus dem Regal ziehe und nur die überragende erste Seite höre. Und ich schmunzle jedes Mal, wenn Dio seine beiden Lieblingswörter singt: Rainbow und Dragon. Und wer Dio-Platten kennt, der weiß: ich komme aus dem Schmunzeln im Grunde gar nicht mehr heraus.


Heute Morgen ist Ronnie James Dio gestorben. Ich wusste, dass er krank war, und als ich vor sieben, vielleicht acht Monaten die ersten Meldungen über seinen Kampf mit der Krankheit hörte - ich war...ist "besorgt" hier das richtige Wort? Es erscheint so distanziert, dabei schenkte ich dem schon mehr Aufmerksamkeit als anderen "besorgniserregenden" Nachrichten. Ich war vielleicht auch ängstlich - ich wünschte dem kleinen Mann einfach nur, dass er es packt, dass er dem Sensemann noch wenigstens ein paar Jahre entkommt. Nicht, weil ich unbedingt eine neue Platte brauchte oder eine neue Tournee - ich hatte Dios Schaffen in den letzten 10, wenn nicht gar 15 Jahren fast vollständig aus den Augen verloren. Aber ich wollte einfach, dass er noch bleibt - mein Gott, ich habe mit dem Typen mal mindestens meine Kindheit verbracht, verdammt.

Jetzt bin ich nicht mehr besorgt oder ängstlich, ich bin nur sehr traurig. Dio war ein herzensguter Mensch, ein Gentleman, ein bodenständiger, warmherziger Kerl. Keine Skandale, niemals. Gesegnet mit einer Stimme, die das Zeit-Raum-Kontinuum zusammenbrechen lassen konnte, eine der großartigsten Stimmen in der Geschichte der Rockmusik.

Das nimmt mich echt gerade ziemlich mit.

13.05.2010

The Beard Is Out There! - The Kindness Of Strangers

Das erste Album der Band, das die Ernte der überschwänglichen Berichterstattung des Rock Hard-Magazins einfahren konnte und Spock's Beard auf der Landkarte für deutsche Rockfans platzierte. Rock Hard-Schreiber Michael Rensen hatte seit "The Light" einen Narren an dem Quintett gefressen, schmiss (gerechterweise) mit 10-Punkte-Wertungen um sich und feierte Neal Morse schon zu jener Zeit in seiner Prog-Kolumne als den neuen Heiland. "The Kindness Of Strangers" wurde erstmals an exponierter Stelle präsentiert: auf den Dynamit-Seiten des Blattes nämlich, die bis heute die besten Alben eines Monats gesammelt präsentieren. Rensen schrieb und vergab, na klar, die Höchstnote.

Und hier geschah es (vielleicht): Metalfans verliebten sich in Spock's Beard. Und sie taten es in einem Ausmaß, das der Band für die nächsten Jahre ein gutes Stück Erfolg sicherte. Hinzu kamen weitere Lobeshymnen von Musikern, beispielsweise von Dream Theater-Schlagzeuger Mike Portnoy, der Spock's Beard als beste (Prog-)Band zur damaligen Zeit bezeichnete. Folgerichtig wurde die Kapelle von den New Yorkern gleich mehrfach als Supportact mit auf Tournee genommen, und Portnoy gründete etwas später mit Neal Morse, Pete Trawawas (Marillion) und Robin Stolt (The Flower Kings) das All-Star Projekt Transatlantic.

"The Kindness Of Strangers" bot wie gehabt die ergreifendste Musik aller Zeiten, es war manchmal schlicht zu schön, um wahr zu sein. "The Mouth Of Madness", ein durchgeknallter Song-Weirdo mit im warmen Sommerwind segelnden Schwerelospassagen, wurde gar zu einem kleinen Hit, die Monsterballade "June" bringt den nihilistischsten Black Metaller zum hemmungslosen Weinen, "Strange World" ist der vielleicht erste ernsthafte Versuch der Band in AOR-Fahrwassern nach einem Radio-Hit zu fischen, und die beiden Sternstunden "In Harms Way" und "Flow", beide jenseits der zehn Minuten Grenze, schenken dem Album wie schon auf dem Vorgänger dunklere Nuancen und damit ungeheuerlichen Tiefgang. Dazu gab's ungewohnte Riffhärte von Gitarrengott Alan Morse bei "Cakewalk On Easy Street" und dem genannten "The Mouth Of Madness".

"Perfekt" als Prädikat wäre wieder einmal eine bodenlose Frechheit.

Erschienen auf InsideOut, 1997

06.05.2010

The Beard Is Out There! - Beware Of Darkness


Eine Coverversion eines alten George Harrisson-Songs eröffnet Studioalbum Nummer Zwei und gibt ihm auch gleich noch den passenden Titel mit auf den Weg: mit "Beware Of Darkness" steigen Spock's Beard düsterer als zuvor in ein Album ein, das auch insgesamt mit einer dunkleren Aura schimmert. Der federleichte Stil ist angesichts von Songs wie "Walking On The Wind" oder dem Klassiker "The Doorway" natürlich immer noch durchgängig präsent, auf der anderen Seite stehen allerdings der Longtrack "Time Will Come", der erstmals sowas wie Frustration musikalisch transportiert oder das klassische, melancholische Gitarrenduo "Chatauqua". Auch "Thoughts", bekannt durch die Aufnahme beim 95er Progfest ("A song about a guy whose brain is on the fritz.") ist trotz des umwerfenden fünfstimmigen Satzgesangs nicht die pure Lebensfreude und der Hit "Waste Away" verströmt gleichfalls eher Melancholie als den Duft einer Sommerwiese, wobei das eine das andere in der Wirkung nicht ausschließen muss.

Trotzdem - oder gerade deshalb - ist "Beware Of Darkness" eines meiner Lieblingsalben der Band. Die oftmals subtil eingesetzten und im Untergrund dunklen Schattierungen der Songs helfen der Scheibe dabei, noch mehr Tiefe und noch mehr Dramatik zu entwickeln. Eine Platte, der man nur sehr schwer überdrüssig werden wird.

Erschienen auf InsideOut, 1996