30.11.2007

The Ruling Class Are Penguins



Mindestens einmal im Jahr erinnere ich mich daran, dass Warrior Soul die vielleicht großartigste Rockband aller Zeiten waren, und ich komme tagelang nicht ohne ihre Musik aus. Was meine Wenigkeit von ihren insgesamt fünf Studioalben hält, kann man getrost an anderer Stelle nachlesen, deshalb soll es hier und heute in erster Linie um ein Album gehen, das meine "Best of 2003"-Liste souverän anführte.

"Opium Hotel" ist das Solodebut des ehemaligen Warrior Soul-Frontmanns Kory Clarke und bevor der ein oder andere alte Fan der Band vor Überraschung ob der Existenz dieser Platte die Augenbrauen hochzieht und sich auf die Suche nach Downloadlinks macht: vielleicht vorher einen großen Schluck "Raffnix" trinken, oder eben gleich an den großen Schmerzmitteltabletten lutschen. "Opium Hotel" ist wahrhaft kaputt, ein schmieriger Putzlumpen, der mit einer Ladung Schrot durchlöchert wurde. Clarke lässt seinem Talent für Spoken Word-Performances und seiner Liebe zur Poesie alle Freiheiten, arbeitet mit zerfledderten Loops, wild herumwütenden, entrückten Beats, und nur auf den ersten Blick dilettantisch anmutenden Sounds, auf die er seine immer noch faszinierende Lyrik setzt. Gegen einen Brocken wie "Boom Ka Boom" klingt "Four More Years" von Warrior Souls Debutalbum "Last Decade, Dead Century" wie ein Kinderlied aus der Sesamstraße:

We are tortured by retardation
Lost freedom becomes Pepsi
broke
Raining smoke oil cloak
Elite walk on your corpses
enjoy
Nothing on corporate drugs
Folks farm sold no cash
for unconnected
Suspected terrorist soldiers
blind enemy


In meinem Interview mit Clarke aus dem Jahr 2006 fragte ich ihn, in welcher Stimmung er eigentlich gewesen sei, als er "Opium Hotel" aufnahm, und er antwortete:"Weißt du, es war so seltsam und verrückt in dieser Stadt [New York] zu sein, kurz nachdem die Anschläge von 11.September geschahen, und viele Songs von "Opium Hotel" wurden genau zu diesem Zeitpunkt geschrieben. Eine sehr furchteinflößende, schreckliche Zeit."

Ein ratlos machendes Album, das zwischen narkotisierter Resignation und verwirrter Wut umhertaumelt.


"Opium Hotel" von Kory Clarke ist im Jahre 2003 auf Cargo Records erschienen.

25.11.2007

Rebirthing


Die außergewöhnlichste Musik stammt nicht selten von Musikern, die abseits ihrer Homezone musizieren. Die sich nach einer möglicherweise erfolgreichen Karriere in einer großen, bekannten Band zurückzogen und ihren kreativen Geist in Gefilden Gassi führten, in denen sie sich (und vermutlich auch den alten Fans...) fremd waren. Als ich im Sommer des Jahres 2000 "Music To Be Born By" kennenlernte, verband ich mit dem Namen Mickey Hart nichts Außergewöhnliches. Mit großem Erstaunen fand ich erst viele Jahre später heraus, dass Hart einer der beiden Schlagzeuger von The Grateful Dead war, und "Music To Be Born By" ist nun alles andere als eine Platte, die man von einem ehemaligen Mitglied einer rocken- und rollenden Hippiekommune erwartet. Und gerade, als ich diese letzten Worte schrieb, fiel mir auf: vielleicht ist es EXAKT die Platte, die man von einem ehemaligen Mitglied einer rocken- und rollenden...

Um "Music To Be Born By" auf wenigstens einer Ebene in Gänze zu beschreiben, reicht das Zitat eines Amazon.com-Käufers, der seinem Unmut über das 1989 veröffentlichte Album mit folgenden Worten Ausdruck verlieh:"Pure crap! It's the same 10 notes over and over and over and over and over again for over an hour." Für so manchen dürfte das allein als Kaufanreiz ausreichen, aber ich bin so frei, noch einige Worte an zu fügen. Das tatsächlich über 70-minütige Stück wurde von Hart anlässlich der Geburt seines Sohnes Taro produziert und sollte dazu beitragen, die sterile Atmosphäre eines Krankenhauszimmers angenehmer, ruhiger und wärmer zu gestalten. Dazu nahm er den Herzschlag Taros im Mutterleib auf und fertigte daraus zusammen mit Bass, Flöte und einem brasilianischen Surdo einen hypnotischen, pulsierenden Dauer-Loop, der sich mit zunehmender Spielzeit immer tiefer in das Bewusstsein schleicht und von dort Geborgenheit und Sicherheit signalisiert. Ich selbst verwendete "Music To Be Born By" schon oft als Meditations- und Heilungsmusik und genieße die Kraft und die rot-strahlende Wärme, die von ihr ausgeht. Für mich sicherlich eine der wichtigsten Platten der letzten zehn Jahre.





"Music To Be Born By" von Mickey Hart ist im Jahre 1989 auf Rykodisc erschienen.

17.11.2007

MUSIKJOURNALISTEN!!!



Verarschen kann ich mich alleine!!!


"†" von Justice ist im Jahre 2007 auf Barf Records erschienen.

P.S.: Mailt an dreikommaviernull@yahoo.de und teilt mir mit, warum ihr dieses Album haben wollt. Der beste Grund gewinnt und erhält die Platte als vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Von mir. Für Dich, Euch und unsere Muttis.

Einsendeschluss ist der kommende Mittwoch, 21.11.2007, 12:00 Uhr

16.11.2007

"Das kannst du deiner Oma vorspielen!" -"Die is' tot." -"Ja, eben."


Wozu doch ein durchgegammeltes Wochenende gut sein kann. Ich hatte Ryoji Ikedas "dataplex" nun schon einige Zeit auf dem Schirm, stellte die Beschäftigung mit der auf das erste Gehör sehr eigenwilligen und scheinbar undurchdringbaren Produktion des Japaners aber immer hinten an. Bis ich mir tief in der Nacht ein Herz fasste und den Laser auf die Reise und mich damit ins Wunderland schickte. Schon wieder so ein Fall von "Auf den perfekten Moment gewartet".

Ikeda ist seit Mitte der neunziger Jahre eine feste Größe hinsichtlich der Verbindung von Visualisierung und Klang. Mit seinen Aufnahmen "+/-" (1996), "0?" (1998), "Matrix" (2001) und "op." (2003, alle auf Touch), erarbeitete er sich den Ruf als einen der radikalsten Klangkünstler, der Grenzen konsequent überspringt, und ständig nach neuen Ausdrucksformen forscht, um an einen neuen Ort zu gelangen. Sein derzeit aktuelles Projekt "datamatics" "is an art project that explores the potential to perceive the invisible multi-substance of data that permeates our world."(R.Ikeda)

Im Zuge dieses Konzepts erschien im Jahre 2005 sein bis dato letztes Album "dataplex". Es sind Miniaturen von Schall- und Sinuswellen, white noise, Ruinen von Basslinien und Pulsschlägen, die unentwegt Türe in immer kleiner wirkende akustische Räume öffnen. Trotz des auffressenden Minimalismus', der vor nichts außer einem wo auch immer herrührenden Groove halt macht, trotz einer Geräuschkulisse, die so mancher als britzelnde, kokelnde Störung eines Atomkraftwerks bezeichnen würde, bleibt Ikeda immer fokussiert und hintergründig, belebt starre Zahlen- und Softwarecodes mit einem dieser Musik im Grunde diametral gegenüberstehenden Reichtum. Eine Musik, die Daten und den Sog derselben als schwingendes Fundament für eine Betrachtung der Postmoderne, des damit einhergehenden Absurden und Mystischen benutzt und sich der Gefahren des Wandels und des möglichen Abgleitens in eine verlorene Welt gänzlich bewusst ist.

"dataplex" von Ryoji Ikeda ist im Jahre 2005 auf Raster Noton erschienen.


10.11.2007

We Want Poems That Kill




ORNETTE COLEMAN - FREE JAZZ



Ich hatte mich eine ganze Zeitlang nicht an "Free Jazz" herangewagt, und dass ich das Album im Grunde erst in diesen Tagen für mich entdecke, spricht letztendlich nur für den schönen Satz "Alles zu seiner Zeit". Ornette Colemans Schaffen ist für mich noch weitgehend ein weißer Fleck auf der Jazz-Landkarte; zudem konnte mich sein "Live At The Golden Circle Vol.1" aus dem Jahr 1965, das ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal hörte, nur mäßig begeistern.

"Free Jazz" hingegen gilt als eines der wegweisendsten Alben der Musikgeschichte, und wer sich näher mit dem Werk beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es diesen Status nicht umsonst innehat. "Free Jazz" besteht aus einer 38-minütigen, frei improvisierten Session, gespielt von gleich 2 vollständigen Quartetten. Neben Coleman (Altsaxophon) spielen der Klarinettist Eric Dolphy, die Trompeter Don Cherry und Freddie Hubbard, die Bassisten Scott La Faro und Charlie Haden, sowie die Schlagzeuger Billy Higgins und Ed Blackwell. Sie einigten sich vor der Aufnahme lediglich auf ein Tempo und ein kurzes musikalisches Thema und ließen sich ansonsten durch nichts weiter beirren. Mal spielen sie alle gemeinsam, mal tauchen Solosequenzen auf, in denen die übrigen Musiker pausieren, oder das Thema eines Solos in ihr eigenes Spiel integrieren.

Das für mich faszinierendste an "Free Jazz" ist jedoch einerseits der sich in diesen 38 Minuten manifestierende, tongewordene Ausbruch eines neuen Bewusstseins der afro-amerikanischen Bevölkerung Nordamerikas, die sich angesichts des allgegenwärtigen Rassismus zunehmend radikalisierte, sowie andererseits die Zäsur, die es hinsichtlich der Darstellung des Jazz einleitete und die in den nächsten Jahren den Weg in eine neue Ära führen sollte. Dass diese beiden Bewegungen Hand in Hand gingen, beschreibt der Autor und Aktivist Wolfgang Sterneck in einem Aufsatz wie folgt:"In einem fließenden Prozeß lösten sich immer mehr afro-amerikanische Jazz-MusikerInnen von den ihnen zugewiesenen Rollen und dem vorgegebenen Musikverständnis. Sie suchten nach neuen Wegen der Entfaltung und stellten dabei die Traditionen des Jazz grundsätzlich in Frage,(...)". "Free Jazz" legte den Grundstein zur Abkehr vom Jazz als Unterhaltungsmusik, hin zu einer eigenen musikalischen Sprache von systemkritischen, politisierten schwarzen Musikern, die den Jazz forthin als Kommunikationsmittel ihrer eigenen Kultur begriffen.

Musikalisch gilt für "Free Jazz" ähnliches wie für die Musik von Cecil Taylor: ich bin ob des Spiels mit Geräuschen und Klängen, mit Stimmungen und einer Grenzenlosigkeit und schieren Lust an der Improvisation und der Freiheit immer noch sehr beeindruckt und gebe durchaus freiwillig zu, dass ich immer noch nicht wirklich fassen kann, was in dieser Musik mitschwingt, was sie über den reinen Klang imstande ist zu transportieren.

Aber es ist einfach ungeheuer spannend.


"Free Jazz" ist im Jahre 1960 auf Atlantic Records erschienen.

Der im Text erwähnte, sehr lesenswerte Aufsatz von Wolfgang Sterneck ist HIER zu finden.


09.11.2007

Playlist 8.11.07

Es war ein lauter, harter, schneller und vor allem langer Abend. Ich entschuldige mich vorab für diese elendig lange Playlist, aber da müssen wir jetzt gemeinsam nochmal schnell durch.

01 Megadeth - Into The Lungs Of Hell
02 Sacred Reich - Blue Suit, Brown Shirt
03 Nuclear Assault - Cold Steel
04 Cyclone Temple - Public Enemy
05 Acrophet - Corrupt Minds
06 Napalm Death - I Abstain
07 Coroner - Grin (Nails Hurt)
08 Voivod - Chaosmöngers
09 Holy Terror - Christian Resistance
10 Invocator - From My Skull It Rains
11 Atheist - And The Psychic Saw
12 Whiplash - Dementia Thirteen
13 Forbidden - Infinite
14 Flotsam&Jetsam - Hard On You (live)
15 Exhorder - Homicide
16 Holy Moses - Current Of Death
17 Hirax - Defeat Of Amalek
18 Obituary - Find The Arise
19 Heathen - Opiate Of The Masses
20 Blessed Death - You Are Nothing
21 Wargasm - Revenge
22 Demolition Hammer - Neanderthal
23 Dark Angel - The Promise Of Agony
24 Exumer - Journey To Oblivion
25 Overkill - Birth Of Tension
26 Xentrix - For Whose Advantage?
27 Venom - Manitou
28 Celtic Frost - The Usurper
29 Morbid Angel - Thy Kingdom Come
30 Cerebral Fix - Enter The Turmoil
31 Devastation - Freewill
32 Realm - Energetic Discontent
33 Believer - Sanity Obscure
34 Nocturnus - Neolithic
35 Evildead - Annihilation Of Civilization
36 Exodus - Strike Of The Beast (live)

Herrlich, ist es nicht?

06.11.2007

In Eigener Sache, Vol.3: Getrümmerradio

Nach meinen Radiosessions zur elektronischen Musik und zum Jazz steht für kommenden Donnerstag, 8.11.2007 ab 20:30 Uhr nun der Themenabend "Reise in Florians Jugend" auf dem Programm. Unter dem unten stehenden Link gibt es ausschließlich oldschooliges Thrash Metal-Gerumpel von etwa 1982 bis 1994 zu hören, darunter Großartiges, Vergessenes, Obskures und zum auf die Knie fallen Wunderbares.

Wie immer ist alles, was Sie dafür benötigen eine aktuelle Version des Winamp-Players, den Sie HIER kostenlos herunterladen können.

Ab circa 20:00 Uhr wird bereits ein unkommentiertes Vorprogramm zu hören sein.

Viel Spaß bem Hören!

Thrash Metal-Radio

One Voice, One Quetschkommode


Wie an dieser Stelle kürzlich erwähnt, stand Vor einer Woche das Kammerflimmer Kollektief auf der Studiobühne des Frankfurter Mousonturms, und ich, der tapfer sämtliche Warnungen ob der grenzenlosen Langeweile, die das Trio verursache, in den Wind schlug, saß gemütlich in der letzten Reihe und beobachtete Johannes Frisch (Bass), Heike Aumüller (Harmonium, Stimme) und Thomas Weber (Gitarre, Elektronik) bei ihrem Rundgang durch das aktuelle Album "Jinx".

Es war gut, dort gewesen zu sein und grundsätzlich bin ich ihrer Musik und ihrem Ansatz sogar sehr zugeneigt. Trotzdem konnte mich die Band an diesem Abend nicht überzeuen. So blieb es Johannes Frisch mit seiner Experimentierfreudigkeit und seinem mutigen Spiel vorbehalten, die Blicke und die Ohren auf sich zu ziehen. Allein ihm zuzuschauen ist ein Erlebnis, wie er sich immer weiter vorantastet, auf der Suche nach dem perfekt unperfekten Ton. Im krassen Gegensatz dazu das Harmonium von Heike Aumüller, das über die komplette Spelzeit im ewiggleichen Soundbrei stecken blieb und der Musik sämtliche Spitzen nach oben und unten nahm. Ähnliches kann man über die Gitarre von Thomas Weber sagen, die fatalerweise oft mit dem Sound des Aumüllerschen Instruments verwischte und somit weitgehend ohne Identität und eigenen Ausdruck in einer undifferenzierten, vom Harmonium unschön dominierten Klangwolke verschwand. Ein eindimensionales Erlebnis, das zudem noch mit drei Zugaben wirklich unnötig in die Länge gezogen wurde.

Bringe das nächste Mal übrigens ein "Bitte nicht applaudieren!"-Schild mit.

04.11.2007

Im Steinbruch


Eine echte Entdeckung der letzten Wochen sind die Arbeiten des US-amerikanischen Pianisten Cecil Taylor. Sein "Conquistador!" aus dem Jahre 1966 begleitet mich nun schon einige Tage und fasziniert vor allem wegen des immensen Weitblicks, den Taylor seiner Musik in knapp 40 Minuten so selbstverständlich verleiht. Mich würde wirklich interessieren, wie viele Künstler der elektronischen Musik von Taylor im Speziellen, aber auch der zahlreichen Free Jazz-Musiker der sechziger Jahre im Allgemeinen beeinflusst wurden. Denn nicht nur auf "Conquistador!" hört man Strukturen und vor allem Klänge, die man heute, zugegebenermaßen moderner und mittels technischer Hilfsmittel weiterentwickelt, auf so mancher Veröffentlichung der elektronischen Musik wiederfindet. Auch auf folgendem Video, einer kurzen Sequenz aus dem Dokumentarfilm "CECIL TAYLOR: ALL THE NOTES" (USA 2004, Regie: Christopher Felver), lässt es sich gut nachvollziehen, welchen (überraschenderweise auch) klanglichen Einfluss diese Epoche auf die folgende Zeit hatte. Und mal ganz davon abgesehen ist es ein ungeheurer Genuss, diesen Mann bei seinem körperbetonten, ausufernden Spiel zu beobachten.


29.10.2007

*FlirR*



Man hört nichts Gutes aus dem Hause Kammerflimmer Kollektief. Die Karlsruher Gruppe soll auf der gerade laufenden Tournee einen Weg eingeschlagen haben, der jedes provozierende Potential ihrer Musik aussperrt und sich stattdessen tranceartig in ein stilistisches Niemandsland manöveriert. Wer die aktuelle Platte "Jinx" (Staubgold) bereits gehört hat, der kann sich vermutlich in Ansätzen vorstellen, was auf einen zukommt. Das möchte ich nicht als Bewertung von "Jinx" verstanden wissen, zumal die Platte auch einige bemerkenswerte Stücke wie beispielsweise "Subnarkotisch" bereit hält. Aber die Erörterungen passen zumindest hinsichtlich der Ausrichtung durchaus in das Bild, das "Jinx" vermittelt. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, wie sich das Kollektief präsentieren wird.

"Absencen" aus dem Jahre 2005 ist im Vergleich zu "Jinx" lebendiger und verspielter, und als ich sie zur Vorbereitung für das anstehende Konzert am 30.10.2007 nochmal auflegte passierte etwas Wundersames. Ich hatte "Absencen" als sehr angenehm und spannend in Erinnerung und war während der ersten Minuten etwas verstört, weil mir die Musik eine ganze Ecke zu angenehm, wenn nicht konventionell erschien. Aber plötzlich wuchsen sie, die Bilder. Vor allem ab dem eigentlich unscheinbaren Füllstück "Hausen" ging es sogar richtig rund. Sehr dicht inszeniert, lullt sich die Band um den Bassisten Johannes Frisch immer tiefer in einen grenzenlosen Sound ein und vergräbt sich regelrecht in den eigenen Nervenbahnen. "Shibboleth" darf diesbezüglich beruhigt als Höhepunkt genannt werden. Ihr Sound, eine Rundreise durch das weite Feld der elektronischen, improvisierten Musik, Ambient, Folk und Jazz, spielt dabei eigentlich eine gar nicht so wichtige Rolle. Es ist das Zusammenspiel und das Vergessen des Hier und Jetzt, das ihre Musik treibt und wie einen DNA-Strang immer wieder auseinander- und zusammenführt.

"Absencen" von Kammerflimmer Kollektief ist im Jahre 2005 auf Staubgold erschienen.

27.10.2007

Beautiful



Ein Skandal, dass ich nicht früher auf die Idee kam, einige Zeilen einem meiner erklärten Lieblingskünstler zu widmen. David Judson Clemmons wurde für mich besonders Ende der Neunziger Jahre zu einem ganz wichtigen Musiker. Der Grund hieß "Chasing California", und obgleich ich zu jener Zeit noch knietief im Metal watete und dort allmählich versauerte (was durchaus wörtlich zu nehmen ist), wuchs die Bedeutung dieser Platte langsam aber sicher - wahrscheinlich aufgrund der vorbildlich Metal-fernen Ausrichtung - ins Unermessliche. Die dazugehörige Band hörte auf den Namen Jud, veröffentlichte zwischen 1996 und 2001 insgesamt vier fantastische Platten und spielte lauten, dunklen, schrammelnden Independent Rock. Nach der letzten Platte "Perfect Life" brach das Trio wohl wegen chronischer Erfolglosigkeit auseinander und Clemmons beschloss auf Solopfaden weiter zu machen. Zunächst stampfte er das Projekt The Fullbliss aus dem Boden, das 2001 das großartige, folkige Debut "Fools And Their Splendor" und 2002 die ungleich rockigere, von einer unfassbar intensiven Stimmung geprägte, untergegangene Perle "This Temple Is Haunted" veröffentlichte. 2004 folgte das erste offizielle Soloalbum "Life In The Kingdom Of Agreement", ein überlanges Monumentalwerk, das nicht nur mir schwer im Magen lag. Clemmons zeigte sich hier frustrierter und verbitterter als in der Vergangenheit, sodass die Platte einem großen Brocken glich, an den sich nur Hartgesottene herantrauten, die in der Folge aber von einem einzigartigen Album sprachen.

Im Januar 2007 erschien mit "Yes Sir" ein neues Album des Wahlberliners, das (gottlob bei Weitem nicht überall) für einige fast schon skandalöse Fehleinschätzungen sorgte, die mich ob ihrer blanken Gedankenlosigkeit im Subtotal (wtf?) daran erinnerten, dass nicht jeder vom hilflosen Gestammel ins Journalistenfach wechseln muss.

"Yes Sir" ist das bis zum heutigen Tag schönste, ausgeglichenste Album von David Judson Clemmons, ist in der Grundstimmung viel heller, freundlicher und vielseitiger als seine früheren Arbeiten und genau deshalb völlig einzigartig. Auch wenn Songs wie das poppige "Someday" zunächst verwirren: sein dunkles Timbre ist immer noch unnachahmlich, bekommt auf "Yes Sir" aber so viele Sonnenscheinmelodien auf den Leib geschneidert, sodass daraus eine interessante, gegensätzliche Stimmung entsteht. Wie Clemmons im Interview aus dem Februar 2007 erklärte, ist sein Vater in erster Linie für diese Veränderung verantwortlich, der ihn praktisch auf dem Sterbebett darum bat, doch mal eine Platte zu machen, zu der er tanzen kann. Ich weiß nicht, ob man zu "Yes Sir" tanzen kann, dass diese Platte in ihrer Gesamtheit ein wichtiges Statement eines immer wieder unterschätzten Künstlers ist, steht außer Frage. "The Miranda Song", "Our Houses" (!!!), "Red Hot Soul", "Shine" und "The Sweet Hereafter" sind Sternstunden eines Mannes, der hoffentlich noch viel zu sagen haben wird.

"Yes Sir" von David Judson Clemmons ist im Januar 2007 auf Village Slut erschienen und kann unter der Mailadresse cds@fullbliss.com bestellt werden.



22.10.2007

Dings Milchglasgitarre



Eine Platte, die auf einem ganz schmalen, gefährlichen Grat balanciert. "Daydreaming" ist das Debut des Musikers Rafael Anton Irisarri aus Seattle. So klingt heute also Musik aus der einstigen Grunge-Hochburg: Ambientflächen, Synthesizerflecken, Knacken und Zirpen im Hintergrund, vorne arbeitet sich ein Piano durch teils diffuse Strukturen, die mal zusammenhanglos und verloren, mal hauchfein zu offensichtlich erscheinen. Das ist er, der gewagte Ritt zwischen den Welten. Dass man sich an die Gefälligere im Nachhinein mehr erinnert (und im schlimmsten Fall von ihr abgeschreckt wird), liegt in unserer Natur. Aber man sollte nicht überhören, dass neben eingängigeren Stücken wie "Lumberton" auch viele sehr interessante, traumhaft-schwebende Songs ("Voigt-Kampf") den Weg auf diese erfreulich kurzweilige Platte gefunden haben, die die Balance wieder herstellen. "Daydreaming" ist bei aller Affinität zur Sanftheit überraschend rau produziert und entfaltet seine Stärken ironischweise zur Nacht. "Ich wählte den Titel schon, um so etwas wie die Sehnsucht nach besseren Dingen im Leben zu umschreiben. (...) Der Gedankenprozess, dieses Durchspielen der Möglichkeit, dass etwas passiert, passiert sein könnte, dann aber doch nicht passierte, aber vielleicht eines Tages doch … eine Art Selbstgeißelung der Gedanken." sagte Irisarri einmal in einem Interview mit der Zeitschrift De:Bug. Tatsächlich hat man das Gefühl, als würde man seinem eigenen Leben hinter von Wasserdampf beschlagenen Glasscheiben zuschauen und plötzlich jeden seiner Schritte zunächst vorausahnen und im Anschluss hinterfragen. Das kann wahnsinnig machen. But nevermind (!): "Daydreaming" ist als tröstender Begleiter an deiner Seite.

"Daydreaming" von Rafael Anton Irisarri ist im Jahre 2007 auf Miasmah erschienen

Innocence, I Fall Asleep


Wenn man in diesen Tagen darauf verzichtet, die Vorzüge des Internets hinsichtlich des Musikkonsums zu seinem Vorteil zu nutzen, darf man sich im Grunde nicht beschweren, wenn man hinterher etwas ratlos vor den Lautsprechern sitzt. Noch dazu, wenn das Label ACT oder ECM heißt und die Musik sowas ähnliches wie Jazz sein soll. Bitte nicht falsch verstehen: Nik Bärtschs "Stoa" oder Brahems "Le Voyage De Sahar" (beide ECM, beide 2006) sind auch heute noch gern gehörte Platten. Aber "Pasodoble", das Duo-Debut des schwedischen Bassisten Lars Danielsson und des polnischen Pianisten Leszek Mozdzer ist eben so ein Paradebeispiel dafür, was mir am heutigen, vor allem europäischen Jazz nicht gefällt. Bei der betont schlichten, künstlerischen Covergestaltung angefangen, zieht sich das Malheur über die Produktion, den Sound, das Artwork bis hin zu den Linernotes: es ist unsagbar fad'. Bei Danielssons "Melange Bleu" (2006, ACT) war nach dreißig Sekunden klar, dass hier nichts Neues zu hören sein wird und ich verzichtete auf einen Kauf. Es ist nämlich letztendlich immer der gleiche Schmu: verhaltene Pianotupfer, leises Vorantasten, meist im hinteren Albumdrittel dann kleinere Ausbrüche, nur um sich danach gleich wieder ins gemachte Nest zu legen, zurück in die Sicherheit des prasselnden Kaminfeuers und des dampfenden Kräutertees. "Pasodoble" ist furchtbar gefällig, tut keinem, aber auch wirklich so gar keinem weh, ist soundtechnisch ohne jede Herausforderung und prädestiniert für die Zuhörerschaft ab 65, die in kalten Winterabenden die passende Untermalung zur wöchentlichen Schachpartie suchen. Das ist okay, und es ist ja auch ganz schön, wenn eine Platte schmerzfrei an einem vorbeizieht.

Aber es darf mich sicher schon ein bisschen wurmen, dass sich hier vor allem in Skandinavien eine Szene entwickelt hat, die sich wohl angesichts immer noch turbulenter Verkaufszahlen in einer kreativen Sackgasse gigantischen Ausmaßes das Eigenheim mit Vorgarten eingerichtet hat und seitdem im Wachkoma-ähnlichen Zustand das Land mit mut-, risiko-, und leidenschaftslosen Arbeiten überzieht. Gerade bei Danielsson ist es schade, wo ich ihn an dieser Stelle noch so lobend für seine großartige Idee und den Mut zum Außergewöhnlichen erwähnte.

Was von "Pasodoble" bleibt, ist eine nette, schöne, feine, langweilige, nichtssagende Platte von betörender Schönheit und gähnender kreativer Leere. Und natürlich die traditionelle Speichelleckerei in den Linernotes. Fehlt nur noch, dass sich Lars offiziell ein Kind von Leszek wünscht. Mit diesem peinlichen Quatsch kann man doch auch so langsam mal aufhören. Oder muss man dem Hörer den Kram einfach schönlabern?

"Pasodoble" von Lars Danielsson und Leszek Mozdzer ist am 27.April 2007 auf ACT erschienen.