10.11.2007

We Want Poems That Kill




ORNETTE COLEMAN - FREE JAZZ



Ich hatte mich eine ganze Zeitlang nicht an "Free Jazz" herangewagt, und dass ich das Album im Grunde erst in diesen Tagen für mich entdecke, spricht letztendlich nur für den schönen Satz "Alles zu seiner Zeit". Ornette Colemans Schaffen ist für mich noch weitgehend ein weißer Fleck auf der Jazz-Landkarte; zudem konnte mich sein "Live At The Golden Circle Vol.1" aus dem Jahr 1965, das ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal hörte, nur mäßig begeistern.

"Free Jazz" hingegen gilt als eines der wegweisendsten Alben der Musikgeschichte, und wer sich näher mit dem Werk beschäftigt, wird schnell feststellen, dass es diesen Status nicht umsonst innehat. "Free Jazz" besteht aus einer 38-minütigen, frei improvisierten Session, gespielt von gleich 2 vollständigen Quartetten. Neben Coleman (Altsaxophon) spielen der Klarinettist Eric Dolphy, die Trompeter Don Cherry und Freddie Hubbard, die Bassisten Scott La Faro und Charlie Haden, sowie die Schlagzeuger Billy Higgins und Ed Blackwell. Sie einigten sich vor der Aufnahme lediglich auf ein Tempo und ein kurzes musikalisches Thema und ließen sich ansonsten durch nichts weiter beirren. Mal spielen sie alle gemeinsam, mal tauchen Solosequenzen auf, in denen die übrigen Musiker pausieren, oder das Thema eines Solos in ihr eigenes Spiel integrieren.

Das für mich faszinierendste an "Free Jazz" ist jedoch einerseits der sich in diesen 38 Minuten manifestierende, tongewordene Ausbruch eines neuen Bewusstseins der afro-amerikanischen Bevölkerung Nordamerikas, die sich angesichts des allgegenwärtigen Rassismus zunehmend radikalisierte, sowie andererseits die Zäsur, die es hinsichtlich der Darstellung des Jazz einleitete und die in den nächsten Jahren den Weg in eine neue Ära führen sollte. Dass diese beiden Bewegungen Hand in Hand gingen, beschreibt der Autor und Aktivist Wolfgang Sterneck in einem Aufsatz wie folgt:"In einem fließenden Prozeß lösten sich immer mehr afro-amerikanische Jazz-MusikerInnen von den ihnen zugewiesenen Rollen und dem vorgegebenen Musikverständnis. Sie suchten nach neuen Wegen der Entfaltung und stellten dabei die Traditionen des Jazz grundsätzlich in Frage,(...)". "Free Jazz" legte den Grundstein zur Abkehr vom Jazz als Unterhaltungsmusik, hin zu einer eigenen musikalischen Sprache von systemkritischen, politisierten schwarzen Musikern, die den Jazz forthin als Kommunikationsmittel ihrer eigenen Kultur begriffen.

Musikalisch gilt für "Free Jazz" ähnliches wie für die Musik von Cecil Taylor: ich bin ob des Spiels mit Geräuschen und Klängen, mit Stimmungen und einer Grenzenlosigkeit und schieren Lust an der Improvisation und der Freiheit immer noch sehr beeindruckt und gebe durchaus freiwillig zu, dass ich immer noch nicht wirklich fassen kann, was in dieser Musik mitschwingt, was sie über den reinen Klang imstande ist zu transportieren.

Aber es ist einfach ungeheuer spannend.


"Free Jazz" ist im Jahre 1960 auf Atlantic Records erschienen.

Der im Text erwähnte, sehr lesenswerte Aufsatz von Wolfgang Sterneck ist HIER zu finden.


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