26.11.2011

Verlassen


AMPLIFIER MACHINE - HER MOUTH IS AN OUTLAW

Es kehrt wieder Ruhe ein. Viel Ruhe.

"Her Mouth Is An Outlaw" steht seit nunmehr zwei Jahren fast ohne Unterbrechung in meinem CD-Wechsler. Manchmal entnehme ich die CD und verschiebe sie in den im Bad befindlichen CD-Spieler, wenn die Badewanne ruft und sich die Dunkelheit über die Stadt legt. Kommt jetzt noch das "Winter"-Klischee hinzu, ist wohl alles zu spät, aber dafür müsste ich lügen: ihr Breitband-Ambient funktioniert sowohl bei schwül-heißen Temperaturen nebst nach Sommer schmeckender Luft, als auch bei drei Metern Schnee in der Garageneinfahrt.

Die vereinzelten Saitentupfer zu Beginn breiten sich über tief brummelndes Bassgetöse aus, der Schlagzeugbesen rutscht im Blickkontakt mit den endlosen Synthieschleifen weg und verirrt sich danach ins Nirgendwo. Dieses Dahingleiten Postrock zu nennen benötigt angesichts des ausgemergelten Arrangements durchaus Chuzpe, die Improvisationen erschlagen jedes sich entwickelnde Kalkül in diese Richtung sowieso schon, noch bevor der erste Ton des Trios ausgehaucht ist. Ihre im Laufe zahlloser Improvisationsjams aufgestellte Regel, wonach sich die dritte Person den anderen beiden anschließt, sollten letztere sich musikalisch gefunden haben, mag dogmatisch klingen, gibt aber nur einen kleinen Rahmen vor, der einen ständigen Austausch untereinander voraussetzt. Das ist in einem Moment kaum hörbar, weil sich die Band so weit herunterdimmt, bis nur noch die Verstärker surren, im anderen Moment bricht es zaghaft aus dem leisen Klangknäuel heraus und ein rastloses Piano schubbert sich an einer sauer sägenden Violine entlang.

Mich erinnern James Dixon, Seth Rees und Alex Jarvis in ihrem organischen Ansatz an die gleichfalls fantastischen Australier von Seaworthy, vor allem, wenn der Eindruck entsteht, Amplifier Machine tragen ihre Musik eigentlich nur in den Köpfen umher. Wenn es so leise und subtil wird, dass man ihnen schon sehr nahe kommen muss, um wenigstens zu erahnen, was hier vor sich geht.

"Her Mouth Is An Outlaw" ist wie ein Buch ohne Worte, wie ein Gemälde ohne Farbe und Motiv. Es existiert ohne Inhalt - und ist in der Ansprache lauter als der Urknall.

Erschienen auf 12k, 2008

24.11.2011

Face Down Heroes



FORBIDDEN - GREEN

Es wird mal wieder Zeit, die Metal-Vergangenheit zu besuchen - aus erfreulichem Anlass, wie ich anfügen möchte. Ich lese nun seit fast zehn Jahren keine Metal-Magazine mehr, Moment: eigentlich lese ich grundlegend nicht mehr, jedenfalls: dass sich das kleine Nischenlabel Night Of The Vinyl Dead dazu entschlossen hat, die beiden Forbidden-Sternstunden "Distortion" aus dem Jahr 1994 und das drei Jahre später erschienene "Green" erstmals auf Vinyl zu pressen und in einer limitierten Auflage von je 500 Stück zu veröffentlichen, ging komplett an mir vorbei. Und es brauchte eine Filiale einer großen und gleichfalls überaus nervigen Warenhauskette, um mich darauf aufmerksam zu machen, die ein Exemplar des letztgenannten Werks also tatsächlich (zu horrendem Preis) im Sortiment führte. Ein paar Minuten mit dem Mitarbeiter auf dem eilig eröffneten Bazar - und ja: ich fühlte mich schlecht dabei - und die Scheibe lag im Körbchen. Ich freue mich riesig und sage artig "Danke!".

"Green" ist das vierte Studioalbum der Bay Area-Truppe und war gleichzeitig für über zehn Jahre ihr letztes Lebenszeichen. Die Metalszene war 1997 über derartige musikalische Kurskorrekturen von alten Helden alles andere als erfreut. Die Jahreszahl hätte ich mir gleichwohl schenken können, denn verändert hat sich seitdem nur wenig. Aber dazu gleich mehr.

Forbidden starteten Ende der 80er Jahre ausgesprochen vielversprechend in ihre Karriere. Das Debut "Forbidden Evil" und das kurze Zeit später folgende "Twisted Into Form" gelten längst als unsterbliche Klassiker des Bay Area-Thrash Metals. Wer die möglicherweise brilliantesten Riffs hören mag, die je eine Thrash Band geschrieben hat, empfehle ich dringends die rasenden Abrissbirnen "Through Eyes Of Glass" vom Debut und "Infinite" vom Nachfolger, die mir auch heute noch regelmäßig die Synapsen durchkokeln. Mit "Distortion" gelang der Truppe ein beeindruckendes Comeback in einer durch Grunge und Alternative-Sounds völlig veränderten Musikwelt. Forbidden emanzipierten sich damit früh vom Thrash, wurden grooviger und dunkler und klangen insgesamt viel moderner als auf "Twisted Into Form", dabei aber überraschenderweise noch härter. Das lag aus meiner Sicht an zwei ganz entscheidenden Faktoren: Erstens, Sänger Russ Anderson hatte im Gegensatz zu seinen Kollegen eine großartige Stimme, er klang geradwegs gemeingefährlich kraftvoll und klar. Andersson schrie nicht, er brüllte nicht - er sang. Und alles, was er sang, klang fantastisch. Period. Zweitens hatten Forbidden zwei überragende Gitarristen an Bord, die gleichzeitig die Hauptsongwriter der Band waren. Tim Calvert und Graig Locicero waren vielleicht das intelligenteste Gitarrenduo des Thrash Metal, wohlwissend, dass ich damit Slayers Hannemann/King- und Exodus' Holt/Hunolt-Duos auf die billigen Plätze verschiebe. Calvert und Locicero schüttelten sich Riffs aus den Handgelenken, an denen nicht nur mein damaliger Gitarrenlehrer schier verzweifelte, wenn Florian mal wieder etwas nachspielen wollte.
Ganz abgesehen von den komplexen Strukturen der Songs, die nicht selten Überlänge aufwiesen, dabei aber praktisch niemals langweilig wurden. Was ausdrücklich auch die Langzeitwirkung betraf.

In den Jahren nach "Distortion" machten immer wieder Gerüchte die Runde, die Band fordere zuviel Geld von Labels, um die nächste Platte aufzunehmen und stehe deshalb kurz vor dem Aus, weshalb ich sie ehrlich gesagt für eine lange Zeit bereits nicht mehr auf dem Zettel hatte. Als im Frühjahr 1997 dann tatsächlich und überraschend "Green" erschien, war ich wieder umgehend Feuer und Flamme. Was für ein Brocken das war! Und immer noch ist! Der just laufende Kopfhörertest verdeutlicht es mit Nachdruck.
Mir fliegt hier ja alles weg!


Diese Riffs sind monumental. Der Einfallsreichtum in den verschachtelten Arrangements und die zupackende Intensität, die von der Band über die gesamte Spielzeit am oberen Level gehalten wird, unabhängig vom Geschwindigkeitsniveau, machen "Green" zu einem sehr anstrengenden Vergnügen. Es ist, als stünde man 50 Minuten lang unter Strom, als müsste man die ganze Zeit in einer Übersprungshandlung mit dem Kopf voran gegen die Wand rennen, um die Energie loszuwerden. Forbidden klangen auf "Green" so modern wie nie zuvor, dabei aber auch so originell wie nie zuvor. Die in den damaligen Reviews oft herbeigezerrten Vergleiche in Richtung Machine Head, Pantera und Sepultura erscheinen heute lediglich als Ausdruck einer allgegenwärtigen Hilflosigkeit. Das war alles zuviel für die Metal-Gemeinde und das konnte man in der panischen Suche nach Schubladen nicht beschreiben. In diesem Zusammenhang sollte man aber durchaus nochmal den Hut (und die Hose) für die Besprechung des Albums von Rock Hard-Chefredakteur Götz Kühnemund lüften, dessen 9-Punkte-Review sich zwar seltsam blutleer und aufdiktiert liest, der aber wenigstens den Kopf für das hinhielt, was kommen sollte: Forbidden wurden von den so furchtbar loyalen Metal-Fans fallen gelassen wie ein aufgeschrecktes Hornissennest im August. Alles viel zu modern. Die klingen ja nicht mehr so wie früher. Wendehälse. Trendreiter.

Eine bereits bestätigte Europatournee wurde angesichts der drastischen Verkaufseinbrüche abgesagt - und das war's dann. So blieb es bis zum Jahr 2010 und dem müde und konstruiert klingenden "Omega Wave"-Comebackalbums dabei: Forbidden verschwanden mit einem der beeindruckendsten Metalalben aller Zeiten in der Versenkung. Und kamen mit einem Abklatsch wieder zurück. Ich verstehe das alles nicht.

Wer offene Ohren hat, der höre. Und zwar "Green". 



Erschienen auf G.U.N., 1997.
Wiederveröffentlicht (Vinyl) auf Night Of The Vinyl Dead, 2011.

18.11.2011

Paralleluniversum

"Nein, die Sahne steigt immer auf. Nur weil es 6 000 statt 600 Bands zu hören gibt, heißt das nicht, dass dabei die wichtigen Dinge verloren gehen. Ich glaube, die kommen immer durch. Das ist eben ein Teil dieser Pendelbewegung vom Rand zum Mainstream, so geht das."

Der Sänger der sogenannten Rockband R.E.M., Michael Stipe, im Interview mit irgendwem. Die Frankfurter Rundschau hat es veröffentlicht. 



12.11.2011

We Came As Lizards

ANTELOPE - REFLECTOR 

Das Dischord-Label ist in den letzten Jahren nicht unbedingt durch neue Signings in Erscheinung getreten. In erster Linie widmete sich das Team von Labelgründer Ian MacKaye um die konsequente Wiederveröffentlichung alter Dischord-Schätze, um die auf den betreffenden Platten verewigte Musik am Leben zu halten. Als MacKaye in einem Interview zum dreißigjährigen Jubiläum Dischords darauf angesprochen wurde, warum in den letzten Jahren nur wenige neue Bands aus seinem Stall eine Veröffentlichung vorweisen konnten, verwies er zum einen auf die Abwanderung vieler Washingtoner Bands nach New York, die dazu führte, dass die einheimische Szene sich fast vollständig auflöste. Zum anderen erwähnte er namentlich zwei Bands, die in den letzten zehn Jahren zur Familie gehörten, sich aber beide in die Ewigkeit verabschiedeten - wenn auch mit unterschiedlicher Motivation. Da waren zunächst die erst kürzlich hier vorgestellten Q And Not U, und des Weiteren Antelope; ein krudes und verschroben klingendes Trio, das sich aus den Überresten der Vertebrates und El Guapo zusammensetzte. MacKaye blieb in der Begründung kryptisch:"Die einen lösten sich auf, weil sie bekannter werden wollten - was wir Ihnen nicht bieten konnten. Die anderen lösten sich auf, weil sie eben nicht bekannter werden wollten.", was, so meine Vermutung, Dischord eben auch nicht uneingeschränkt super finden konnten. Ich nehme an, dass es sich in letztgenanntem Fall um Mike Andre (drums/bass/vocals), Bee Elvy (drums/bass/vocals) und Justin Moyer (guitar/vocals) von Antelope handelte - es wäre angesichts von "Reflector" keine große Überraschung.

Nach der Bandgründung im Jahr 2001 und zwei folgenden 7-Inch Singles veröffentlichten Antelope im Jahr 2007 ihr erstes und einziges Album - und konnten durchaus ein bisschen Staub aufwirbeln, im überschaubaren Rahmen zwar, aber man kann es schlechter treffen. "Reflector" ist die geordnete, nüchterne Version der Young Marble Giants und deren "Colossal Youth"-LP. Die Arrangements standen zweifellos monatelang auf dem Herd und sind am Ende des Tages fast bis zur Unkenntlichkeit eingekocht, geschrumpft und derart bröselig, dass ein einziger hinzugefügter Tropfen Wasser sie unweigerlich zum Einsturz bringen würde. Die Drums (HiHat, Snare, Bassdrum, ein Becken - fertig!) tackern den stoischsten Beat seit den frühen Trio und deren "dynamische Inkompetenzen" (Remmler) - sonst nichts. Der Bass ist der Baumeister für ein Haus ohne Wände, dafür sehen die nackten Stahlträger total prima aus. Und die Gitarre sucht händeringend nach Harmonien aus schwarzem Stoff, die die Stahlträger umhüllen können, und überraschenderweise findet sie sie auch. In weniger als 30 Minuten gibt es 10 kleine Songskizzen zu hören, die manchmal geradewegs verstörend spröde und kahl wirken, gleichzeitig aber auf eine ebenfalls verstörende Weise funky, tanzbar und beinahe euphorisch erscheinen. Bei den vollends durchlagenden Harmonien im Titelsong oder im Highlight "Flower", bei dem sogar ein bisschen der Post/Artrock aus Chicago durchschimmert (The Sea And Cake), fällt auf, wie diszipliniert die Band arbeitet. Wenn hier nur ein Ton nicht sitzt, kracht das ganze schöne Arrangement in sich zusammen.

"Reflector" klingt zunächst simpel und es ist eine wunderbare, ruhige Platte mit toller, positiver Ausstrahlung. Aber diese Architektur des Nichts ist alles andere als mal eben mit links auf die Festplatte genagelt. Der Gegensatz aus einer bis zur Komplettverweigerung getriebenen Lässigkeit oder gar Lethargie und der brettharten Aufgeräumtheit, die Konzentration und den Fokus einfordert - das macht "Reflector" zu einer selten schönen Eintagsfliege.

Erschienen auf Dischord, 2007.

11.11.2011

Werbepause

Eine Nachricht an die geschätzen 0,2 Menschen, die diesen Blog verfolgen und wie meine Wenigkeit mit der britischen und immer noch ziemlich lebhaften Prog-Legende Marillion sympathisieren: ihr im Jahr 2004 veröffentlichtes Meisterwerk "Marbles", unbestritten eines der besten Alben ihrer Karriere und darüber hinaus ein 3,40qm-zertifiziertes Jahrzehntwerk wurde im Mai 2011 tatsächlich auf blitzsauberem 180g Vinyl im Gatefold-Cover wiederveröffentlicht. Mir kamen bei entsprechender Entdeckung glatt die Tränen.

Ich sag's nur, aber ich sag's wegen mir auch nochmal: die kann man ruhig mal kaufen, ihr 0,2 Menschen da draußen.

Zum Beispiel unter:


Marillion.Com

Hoppala, was vergessen: der Internet-Buschfunk trommelt seit geraumer Zeit, dass allen Marillion-Alben eine (Wieder)Veröffentlichung auf Vinyl widerfahren soll, und ich erwähne es in diesem Zusammenhang explizitös: das schließt auch "Afraid Of Sunlight" aus dem Jahr 1995 ein. Tante EMI will offenbar noch ein paar Kröten verdienen. Im Laufe des Jahres 2012 soll es soweit sein. 

09.11.2011

Wenn Wasser Brennt...

"2011 untersuchten Wissenschaftler der Duke University in North Carolina das Trinkwasser von 60 Haushalten in der Umgebung von Schiefergasbohrungen. 13 von 26 Trinkwasserbrunnen in einem Umkreis von einem Kilometer der Bohrungen waren so stark mit Methan angereichert, dass das Wasser Feuer fangen konnte."(Quelle: Wikipedia)

ZDF Mediathek: Zoom - Gefährliche Gier - Video (28:59 Min)


"We're a virus with shoes - and that's all we are." (Bill Hicks)

07.11.2011

Dadrock Volume I

GARRY MULHOLLAND - FEAR OF MUSIC - THE 261 GREATEST ALBUMS SINCE PUNK AND DISCO

Wir lieben Listen. Listen sind toll. Musiklisten, Bestenlisten, zumal. Sie provozieren immer eine Reaktion - und in neun von zehn Fällen fällt ebenjene überaus kritisch aus, fällt sie nicht? Geradewegs vernichtend. Aufstellungen, die Alben oder Singles oder auch nur einzelne Songs präsentieren, sind grundlegend immer unvollständig. Sie listen immer (IMMER!) die falschen Platten auf. Und es gibt niemals ein anerkennendes Nicken, wenn der Autor mal ausnahmsweise ins richtige Töpfchen griff. Das sind schließlich Selbstverständlichkeiten. 

Der britische Musikjournalist Garry Mulholland hat nach seinem Mammutwerk "This Is Uncool - The 500 Greatest Singles Since Punk And Disco" aus dem Jahr 2002, ein vier Jahre später erschienenes weiteres Mammutwerk vorgelegt. "Fear Of Music" behandelt diesmal, wie bereits am Untertitel zu erkennen ist, das Albumformat - an dem sich Mulholland eigentlich nicht abarbeiten wollte. In der Einleitung zum vorliegenden Buch schreibt er, dass er Singles im Pop-Kontext schon immer wichtiger und spannender fand: sie mussten in ihrer kurzen Lebensdauer von drei oder vier Minuten das Langzeitgedächtnis mit ihrer einzigen Idee tapezieren. Die unmittelbare Auseinandersetzung und das Touch & Go-Prinzip können faszinieren, und sie stehen in direktem Widerspruch zur Kunstform "Album", die mit dem Vorhaben ins Rennen geht, man baue eine langfristige Verbindung auf, die im besten Fall ein ganzes Leben lang hält.

Mulholland geht chronologisch vor. Die Ramones stehen mit ihrem Debut aus dem Jahr 1976 an erster Stelle, am Ende steht das Hip Hop-Duo Outkast mit ihrem "Speakerboxxx/The Love Below"-Brocken von 2003. Das alleine reicht aus, um wenigstens die stilistische Bandbreite, aber auch besonders die Entwicklung über 27 Jahre hinweg zu verdeutlichen. Womit der aus meiner Sicht größte Pluspunkt von "Fear Of Music" bereits erwähnt ist. Denn auch wenn der Schwerpunkt deutlich auf den Jahren 1977 bis 1982 und dem damaligen Höhepunkt der Punk und Post Punk-Ära liegt - nicht weniger als 105 von den präsentierten 261 stammen alleine aus diesen 5 Jahren - ist es ausgesprochen erfrischend, wenn nach den erwähnten Ramones und den Modern Lovers plötzlich eine Stevie Wonder-Scheibe auftaucht. Oder dass nach dem Body Count-Debut (und da geht das eingangs erwähnte Diskutieren schon los, ne?!) und "Copper Blue" von Bob Moulds Sugar, die Country-Folk-Rock Truppe der Jayhawks auf der Matte steht. Talking about changes: Mulholland hat ein weiteres Steckenpferd. Spätestens ab 1988 entdeckt er den Hip Hop für sich und huldigt neben mehr oder minder bekannten Alben von Eric B. And Rakim, EPMD, Public Enemy, Cypress Hill, A Tribe Called Quest, De La Soul und den unvermeidbaren N.W.A. auch obskurem Stoff, beispielsweise "Bazerk, Bazerk, Bazerk" von Son Of Bazerk (Featuring No Self Control And The Band), "the greatest-ever hip hop album that no one's ever heard of", bevor in den späteren Jahren auch Stars wie Nas, 2 Pac, Dr.Dre und Eminem auf ihre Kosten kommen. Auch in späteren Zeiten tauchen immer wieder Werke auf, die schon lange vom Radar der Musikwelt verschwunden sind, wie zum Beispiel das vor allem in den USA völlig untergegangene "Kaleidoscope"-Album von Kelis. Gerade in diesen Momenten macht es großen Spaß, sich durch dieses Buch (= durch die eigene Sammlung = Ebay = Mailorderfirmen) zu tauchen, auch wenn Mulholland das weitverbreitete, nerdige Verhalten, das immer die unbekanntesten und ominösesten Alben in den Vordergrund stellt, entschieden ablehnt. Auf der anderen Seite: wir alle kennen "Thriller" oder "Ray Of Light" und wir alle sind immer auf der Suche. Immer auf der Suche. Suche. Immer. Alle. Wir. So.

Zu jedem Album gibt es Angaben über die Produzenten, die Schlüsselsongs, die Plattenfirma, das genaue Erscheinungsdatum, sowie die Chartpositionen in England und den USA. Letztere sind im ein oder anderen Fall beeindruckend, verdeutlichen sie doch die kulturelle Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Wo Hip Hop- und R'n'B-Alben jenseits des Atlantiks regelmäßig große Erfolge feiern konnten, verbuchen dieselben Scheiben in England deutlich niedrigere Chartplätze. Entgegengesetzt sind Punk und Post Punk-Alben blanke Hits im Königreich, während die USA in vielen Fällen nicht mal Notiz von ihnen nahm. Das wird in den teils sehr persönlichen Anmerkungen, die Mulholland zu jedem Album abliefert garniert und liest sich dank der vielen Hintergrundinformationen und Querverweise runter wie Apfelsaft.

Unabhängig von meiner subjektiven Einschätzung hinsichtlich seiner Auwahl fällt es mir dennoch schwer, den verbindenden Faden zu finden - und ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass es zunächst unangemessen erscheint, überhaupt anzunehmen, dass es einen solchen per se geben muss. Vielleicht ist diese Zusammenstellung doch das beste Gegengift gegen ein solches Gerüst?! Und steht sie nicht für sich selbst? Erteilt sie mit ihren ganzen Stilbrüchen nicht automatisch eine Absage an all jene, die verzweifelt nach einer Struktur suchen? Andererseits erwähnt Mulholland selbst, dass er hofft, das Buch erzähle eine Geschichte und zeige die Entwicklung auf. Um verbotenerweise zu werten: ich kann der Hoffnung nur zur Hälfte entsprechen. Zwar verstehe ich sein Anliegen und ich kann der Geschichte und der Entwicklung auch folgen - aber sie hat Lücken. Und jetzt kann ich das Grinsen auf Euren Gesichtern erkennen.

Es geht mir allerdings weniger bis gar nicht um die ersten Absatz beschriebene "beleidigte Leberwurst", die kurz vor einem Fenstersprung aus der 34.Etage steht, weil das heilige Lieblingsalbum nicht genannt wird, sondern um die fehlende Konsequenz, das abgesteckte Terrain aus zu füllen. Einerseits fehlen Beispiele aus der elektronischen Musik bis auf die sicheren Standards von Kraftwerk, dem zumindest wegeweisenden "My Life In The Bush Of Ghosts" von Eno und Byrne und einer halben Handvoll Compilations vom Techno/House Urknall Ende der 80er Jahre komplett, ebenso lässt er Beispiele aus der Grunge-Ära völlig außen vor, Metal bis auf die leicht irritierende Auswahl von System Of A Downs "Toxicity" sowieso. Und vom Jazz ist nur in einigen Hip Hop Reviews die Rede. stattdessen müssen wir uns drei Mal durch Massive Attack, zwei Mal durch Portishead und immerhin nur ein Mal durch ein Tricky-Album kämpfen, also durch ein Genre-Phänomen namens Trip Hop, das zeitlich als auch künstlerisch arg limitiert war...und dummerweise weiterhin ist. Ich gebe zu, dass ich seinen Ansatz vor diesem Hintergrund nicht ganz verstehe. Aber möglicherweise geht es ihm eben auch gar nicht um das große, komplette Bild; wohlwissend, dass er es gar nicht zeichnen kann. Es geht nicht darum, den Komplettisten zu befriedigen. Es geht auch nicht um Konsens. Oder etwa doch?

Geht es um den großen, unausgesprochenen Konsens, der allen präsentierten Alben innewohnt? Der dafür sorgte, dass Michael Jackson vor 30 Jahren auch deswegen eine so große Karriere vor sich hatte, weil er auch von Punkern heimlich gehört wurde? Oder dass Hip Hop-Alben außerhalb der dafür vorgesehenen Community gehört und respektiert wurden? Irgendein verstecktes Noten-Gen, dass die Botschaft aussandte, dass man zusammen gehört? 

Am Ende ist's doch wieder pathetischer Mist, immer diese esoterische Idee von der verbindenden Kraft der Musik auf zu wärmen. Nur: man möcht's halt so sehr gerne glauben. Diese Einsamkeit macht auf Dauer eben doch mürbe.
...
Auf zwei der im Buch versteckten Hinweise möchte ich dann dennoch gerne, äh, hinweisen. 

Erstens hat er mich sofort mit der Nennung des letzten Afghan Whigs-Albums "1965" im Sack gehabt. Period. Darüber gibt es demnächst an dieser Stelle auch etwas zu lesen.

Zwotestensns: Prince! Prince! Großer Gott: PRINCE!!!


Erschienen bei Orion Book, 2007

30.10.2011

Ikonen & Legenden



GRACE JONES - HURRICANE

Mal kurz durchatmen. Ich müsste die folgenden Zeilen eigentlich Freund Eigenheim aus dem Jazzforum widmen, ohne den ich wohl niemals eine Platte von Grace Jones gekauft, geschweige denn angehört (Reihenfolge ist übrigens richtig) hätte. Für die Wahrnehmung ihrer Arbeiten aus den siebziger und achtziger Jahren war ich wohl einen Tacken zu jung und obwohl ich sie aus dem ein oder anderen Film kannte, und natürlich auch ihre fantastischen Coverartworks gesehen hatte, hatte ich nie den Drang, ihre Musik zu hören. Die 1948 auf Jamaika geborene Jones machte sich nach der Veröffentlichung ihres Albums "Bulletproof Heart" im Jahr 1989 rar, ich wäre sogar geneigt zu sagen, dass sie sich komplett unsichtbar machte - weshalb die Chancen, dass ich meine in den letzten Jahren erworbene Neugierde und Offenheit an und mit ihr ausleben konnten nicht allzu gut standen. Erst als das erwähnte Eigenheim angesichts der Ankündigung eines neuen Albums im Jahr 2008 in Jubelschreie ausbrach, wurde ich hellhörig. Auch wenn mein erster Gedanke mit "Grace Jones? What the fuck?" übersichtlich intelligent war und damit nicht unbedingt Einzug in die Ruhmeshalle erhalten sollte. Vielleicht reicht es für die Ruhmeshalle von Fußballerzitaten. Oder für das RTL II-Programm. So oder so nicht besonders schmeichelhaft. Belassen wir es dabei. Das sind so Sachen, die man bei Licht betrachtet vielleicht doch besser für sich behalten sollte.

Die große Einflugschneise muss ich übrigens fliegen, damit eines klar wird: was ich für ein ignoranter Hornochse war! Nur für den Fall, dass es noch nicht aufgefallen ist. Grace Jones veröffentlicht ihr erstes Album seit 1989 und ich stehe achselzuckend knietief im Gesabberten - die Sache war allerdings nach dem ersten Hören der ersten Single "Corporate Cannibal" gegessen, im Sinne von "erledigt". Was für ein Song! Was für eine Stimme! Was für eine Frau!

Und je länger ich hier vor diesem Text sitze, desto kleiner werde ich. Outing, Teil 2: ich wollte schon lange über "Hurricane" schreiben, aber ich traute mich einfach nicht ran. Zu groß erschien mir der Mensch Grace Jones zu sein, zu bizarr und unwirklich wirkt die Kunstfigur Grace Jones, und wo ziehe ich den Strich zwischen diesen beiden Charakteren - sind es überhaupt zwei? Über Grace Jones könnte man ein Buch schreiben, ohne ihr trotzdem jemals auch nur vage auf die Schliche gekommen zu sein. Zur Veröffentlichung von "Hurricane" gab sie der FAZ ein Interview, in dem sie auf die Frage, ob sie früher soviel verdient habe, dass sie zwanzig Jahre ohne Einnahmen leben konnte, antwortete:"„Ich hatte auch drei, vier Auftritte pro Woche. Auf Privatpartys. Bei Louis Vuitton in Japan, bei Cartier in Paris...Ich bin auch in Clubs aufgetreten, aber das lief immer unter der Hand. Ohne Presse. Meine Fans mussten mich finden. Ich würde mich lieber in Luft auflösen, als eine Celebrity zu sein." Von früheren Mitschülern wurde sie im Highschool-Jahrbuch als "socially sick" bezeichnet, später, nach Ihrer Zeit als Model mit Titelseiten der Vogue, der Muse von Andy Warhol und Hauptrollen in Hollywood-Blockbustern, sorgt sie mit Handgreiflichkeiten gegen Talkmaster Russell Harty für Schlagzeilen. Sie ist gefürchtet und unberechenbar - sie kokettiert mit Sex und lässt sich in freizügigen Posen fotografieren, gleichzeitig geriert sie sich als ultimativ unerreichbar. Mit Eiseskälte. Als Vamp. Als androgynes Wesen aus einem anderen Sonnensystem. Sie tritt Ende der siebziger Jahre in Schwulenbars und im New Yorker Studio 54 auf, einem Ort, an dem zur damaligen Zeit Sodom und Gomorra das Zepter in der Hand halten. Und die heute sagt:"'To be honest, my life is not really as way-out and myth-loaded as people like to portray it,' she says softly. 'A friend has a great quote about me which would make a great song: "I'm not a rock star, I'm a soft person." I think it's hilarious. In the Seventies and Eighties we all had our fun, and now and then we went really too far. But, ultimately, it required a certain amount of clear thinking, a lot of hard work and good make-up to be accepted as a freak.'"

Diese beeindruckende Frau, die "mit 60 noch besser aussieht als ich mit 40" (Jodeffes), hat also 2008 mit "Hurricane" ihr seit Jahren angekündigtes Comebackalbum endlich veröffentlicht - in der Zeit zwischen "Bulletproof Heart" und "Hurricane" hatte sie nach eigener Aussage zwei Alben fertiggestellt, sie aber in den Schredder geworfen, weil sie das Ergebnis nicht zufriedenstellte. Und jetzt, für "Hurricane", hat also alles gepasst. Sie arbeitete wie zu ihren großen Zeiten in den Achtzigern mit Sly Dunbar zusammen und holte sich neue, frische Produzenten und Ideengeber an Bord: Ivory Guest produzierte und komponierte, Tricky schrieb den Titeltrack mit ihr, und Brian Eno arbeitete am entstehenden Album ebenso mit wie ihr Sohn Paolo (aus Jones' Liaison mit dem Fotografen Jean-Paul Goude - von ihm stammt beispielsweise das berühmte "Island Life"-Artwork).



"Hurricane" ist ein beeindruckendes Werk. Irgendwo zwischen Dub, Reggae, Trip Hop, und Pop platziert sich Grace Jones mit ihrer nachwievor umwerfenden Stimme und entwickelt eine im Vergleich mit früheren Alben zwar in Teilen deutlich düsterere, gleichfalls aber offenere Musik, die überraschenderweise nicht mal im Ansatz anachronistisch, sondern taufrisch und zeitlos wirkt. Die Produktion ist trotz vereinzelter Trip Hop-Elemente im Titeltrack und bei "Devil In My Life" state-of-the-art, zu jeder Sekunde stimmungsvoll und milimetergenau in das künstlerische Konzept eingepasst. "Corporate Cannibal" ist schon jetzt ein Klassiker. "I consume my consumers" raunt die Ikone zu Beginn, während es im Hintergrund unheilvoll beginnt zu surren. Ein Stück wie eine Theaterinszenierung. Ein Tanz, vielleicht eine Jagd.

Ist sie wirklich so furchtlos und stark, wie sie wirkt?

„Ich bin eigentlich ein sehr privater Mensch“, sagt sie. „Es kostet mich Anstrengung, auf die Bühne zu gehen. Es ist jedes Mal wieder eine Überwindung.“

Wie hat man sich das vorzustellen - Sie stehen hinter der Bühne und atmen tief durch, und dann nehmen Sie die Schultern zurück und sind: Grace Jones?

„Genau so.“

Sind Sie in Wahrheit ein ängstlicher Mensch?

„Ja. Ich brauche immer sehr lange, meine Wohnung zu verlassen. Man weiß nie, was einen draußen erwartet. Manchmal bleibe ich einen ganzen Monat lang zu Hause. Ich gehe dann keinmal vor die Tür. Ich bestelle mir Essen, manchmal kommen Freunde vorbei, aber nicht viele, nur ausgewählte, wenige.“

"This is my voice, my weapon of choice." singt Grace Jones zu Beginn des Openers "This Is" und ich lasse mich von dieser Waffe seit Tagen regelmäßig und mit immer noch wachsender Begeisterung niederstrecken.

Ladies & Gentlemen, I don't want to say much more but....Grace Jones is in the house.

She is, indeed.

Erschienen auf PIAS, 2008

27.10.2011

It's Oh So Bright


Q AND NOT U - DIFFERENT DAMAGE

Ich bin ja grundlegend ein ziemlich begeisterungsfähiger Typ. Wenn mir beispielsweise Musik gefällt, dann gefällt sie mir meistens so gut, dass ich letztlich nur noch zu den mehr oder minder bekannten Fantasterbar-Formeln greifen kann. Ein inflationärer Gebrauch ist das Risiko, das es zu tragen gilt - da ich andererseits aber auch ein spießiger Vollmusiknazi bin, der (i) nur wenig eben so richtig gut findet und (ii) sich an kleinsten Nuancen stören kann (was oftmals sehr irritierend für Menschen in meinem Umfeld sein kann - verzeiht mir!), schätze ich die Gefahrenstufe nicht über Gebühr hinaus auf Stufe Rot ein.

Im Falle von Q And Not U, einer leider bereits aufgelösten Formation aus Washington DC, die drei Alben via Dischord veröffentlichte, sehe ich die Gefahr nicht, komplett am vielbeschworenen Rad zu drehen, aber my goodness: die waren gut. Dabei ist es eine seltsame Geschichte zwischen ihnen und mir. Ich hatte sie seit Jahren auf dem Schirm, selbst nach ihrer Auflösung hatte ich immer mindestens eine Platte auf irgendwelchen Mailorder-Wunschzetteln herumfliegen - aber ich habe bis vor einigen Monaten nie eine ihrer Platten gekauft. Ich startete dann endlich mit dem Abgesang "Power" aus dem Jahr 2004 und zog nun mit Album Nummer 2 nach. "Different Damage" litt anfangs unter meiner, durch Rezensionen von offenbar hörgeschädigten Pavianen, die zufällig auch mal über Musik schreiben durften, fehlgeleiteten Vorstellung über ihre Musik. Ich erwartete Ausbrüche, Geschrei, Kraft und Chaos - und bekam zunächst nichts von alledem. Gut, charmant war das schon, es war ein bisschen abgedreht, und dass die Jungs wussten, wie man die Arrangements schön verzwirbelt, konnte ich auch hören. Aber ich wollte doch etwas ganz anderes. Wollte ich nicht?

Nach vier Durchläufen war alles vergessen, und ich wollte gar kein Geschrei und Chaos mehr. Viel mehr sah ich mich wie in alten Tagen zu den Füßen meiner Lautsprecher sitzen, ich hielt das Textblatt in den Händen - ich muss zugeben, dass die meisten Platten, die ich mir heute so kaufe, gar keine Texte mehr haben, weshalb das beschriebene Vorgehen (leider) eine Seltenheit geworden ist - und verfolgte also jedes gesungene Wort mit den Augen und jede gespielte Note mit den Ohren und scheißrein: das ist Indie/Postcore im ALLERbesten Sinne, das ist so losgelöst, dabei kein bisschen abgehoben, in seiner Schieflage ungeheuer kraftvoll und inspirierend. Hier und da liegen noch ein paar Überbleibsel von Vater Punk und Mutter Hardcore herum, aber im Vordergrund stehen einfallsreich gestrickte Gitarrenspielereien, das alles nach vorne treibende Schlagzeug und ein toll arrangierter Gesang. Und:
es ist viel schwieriger und in der Folge lohnender, das Chaos derart transparent darzustellen, als es von einer Wand aus Lärm überdecken zu lassen. Hier gibt es viel zu Entdecken.

Es wäre total super gewesen, hätte ich mir schon früher einen Ruck gegeben und sie kennengelernt. Wieder mal ein "Fail!" aus dem Hause Florian. Sei's drum.

Erschienen auf Dischord, 2002

23.10.2011

Sperrfeuer am Kaffeekränzchen


edIT - CRYING OVER PROS FOR NO REASON

"N'aaaaach, das ist mir jetzt zu zerrissen."

Es war während einer letztjährigen Busfahrt durch das indische Hinterland, auf der Fahrt von Bangalore ins 200 Kilometer entfernte Mysore, als ich meinem britischen Arbeitskollegen zunächst meinen selbstfabrizierten Krach und vor allem die großfantastischen Propagandhi via MP3-Abspielgerät näher brachte, bevor er mir zwei Alben empfahl, die zu wenigstens seinen Lieblingsscheiben gehören. Beide stammen aus ein und demselben Elektrofuddelhirn, jenem des US-amerikanischen Produzenten und DJs Edward Ma, besser bekannt unter seinem Künstlernamen edIT. "Certified Air Raid Material" erschien im Jahr 2007 und hatte einige echte Wahnsinnsmomente zur Folge, als ich bei 30°C, etwa 1300% Luftfeutigkeit und in einem Gefährt, in dem man hierzlande nicht mal einen Sack Kartoffeln spazieren fahren würde, aus Angst, die ein oder andere Knolle könnte auf problematische Weise zu unschönen Druckstellen kommen, durch die dunkle Nacht kutschiert wurde. Ich erinnere mich heute nicht mehr vollständig daran, was letzten Endes blieb war ob der Texte und der leichten, versteckten Macho-Attitüde ein fader Beigeschmack. Zumal "Certified Air Raid Material" schon im Ansatz deutlich mehr im Hip Hop steckt, als der Vorgänger. Was grundlegend nichts Schlechtes sein muss, aber ich bin gegenüber Hip Hop etwas etepetete.

Aber dann kam "Crying Over Pros For No Reason" und hier erledigte sich zunächst mal das Problem hinsichtlich der Texte. Es gibt schlicht keine. edITs Debutalbum erschien im Jahr 2004 und ist bis auf vereinzelte, dubiose Sprachsamples komplett frei von mutmaßlichem Unsinn. Letzteres gilt für mehr als nur eine Ebene. Der Engländer (an sich) würde wohl "This is serious shit!" dazu sagen und ich antwortete mit einem saftigen "Hell Yeah". Mir fiel es just in den letzten Tagen wie Schuppen von den Boxershorts: sie kratzen vielleicht am Anfang ein bisschen, "aber später will man gar nicht mehr raus."(Garth Algar). Die Platte mag auf den ersten Blick nicht das sein, was gemeinhin unter "leichtverdaulich" oder "komplikationslos" verstanden werden dürfte. Die Lücke zwischen ihren zwei zentralen Elementen, anschmiegsame, flächige und melodisch sorgsam ausgearbeitete Wohlklänge zum einen und harte Beats, alles zerschneidende Clicks und die Harmonie durchschneidende Brüche auf der anderen Seite sind zunächst zu groß und wer den Song hinter den ganzen Cuts nicht sieht, wird eh auf dem falschen Fuß erwischt. Ähnlich erging es mir zu Beginn. Ich war eingenommen von der Zartheit und Zerbrechlichkeit der Soundscapes, aber ich war gleichzeitig irritiert von dieser mutwilligen Zerstörung.

Und nun hat es endlich "Bim-Bam" gemacht. edIT, unter anderem auch Mitglied der in Los Angeles-beheimateten Band The Glitch Mob, hat mit Elementen des Hip Hop, aus Teilen des Ambients und der elektronischen Musik ein Album zusammengepuzzelt, das in Sachen Perfektion fast an die Irren von Autechre heranreicht, dabei aber deutlich beatlastiger und schmutziger, aber gleichzeitig auch aufgräumter und fokussierter erscheint.

Ich finde es immer noch schwierig, in der richtigen Stimmung zu sein, um "Crying Over Pros For No Reason" wirklich genießen zu können, aber wenn's denn mal soweit ist, trifft es mich wie ein Blitz und ich erkenne: das ist fantastischer Kram.

Noch ein Wort zur Verbreitung, weil's dann doch überrascht: die CDs (!) der "Crying Over Pros For No Reason" und "Certified Air Raid Material"-Alben gibt's entweder gar nicht mehr (!!), oder für einen schlappen dreistelligen (!!!) Eurobetrag. Irgendwas läuft hier echt ziemlich schief. Wie dem auch sei, dann kauf' halt die doofen MP3s...

Erschienen auf Planet-Mu, 2004.

03.10.2011

Fast richtige Wikipedia-Artikel (2)

"Michelle Bachmann besitzt ein zentrales Nervensystem bzw. ein diffuses Nervennetz, jedoch konnte noch kein Organ identifiziert werden, das man als Gehirn bezeichnen könnte."

02.10.2011

Newermind

VARIOUS ARTISTS - NEWERMIND

Es ist nicht so, dass ich keinen Grund hätte, über Nirvanas "Nevermind" zu schreiben. Nachdem die Elogen zum zwanzigjährigen Jubiläum im Spiegel, in der TAZ, in der Süddeutschen sowie im Metzgerfachblatt "Tanz, Du Sau!" an uns vorbeigezogen sind, natürlich immer mit einer kaum bis extrem stark auffälligen Vermischung von redaktionellem Inhalt ("Sprachrohr einer Generation", "Verzweiflung", "So jung kommen wir nicht mehr zusammen!") mit plump und clever platzierter Werbung ("DIE DICKE JUBILÄUMSBOX ZUM JUBILÄUM! JUBILÄUM! JUBILÄUM! NUR 800 EURO! JUBILÄUM!"), könnte ich ja mal so tun, als ob sich irgendeine alte Sau noch dafür interessiert, was ich über "Nevermind" zu sagen hätte. Das Problem ist jedoch, dass ich mich nach zwanzig Jahren selbst nicht mehr dafür interessiere, wie ich über "Nevermind" denke.

"Nevermind" ist längst in meinen Knochen verbaut. Ich muss das nicht mehr mit allen verfügbaren Floskeln analysieren, zumal niemand, der die Explosion (zuerst) und die Implosion (später) live und in Farbe miterlebte, es jemals analysieren wollte. Es war einfach da, und es war überwältigend. Und das war mehr als ausreichend. Wir wären vermutlich alle wahnsinnig geworden, hätten wir wie vom Teufel getrieben unsere Gedanken und Gefühle reflektieren und erklären müssen. Es fühlt sich falsch an, über "Nevermind" heute noch mehr Worte zu verlieren.

Was allerdings durchaus klappt: ein Song-für-Song Live-Review des "Newermind" Tributalbums vom SPIN-Magazin.

Den Download findet ihr HIER


MEAT PUPPETS
"Smells Like Teen Spirit"


Der halbwegs erfahrene 90er Jahre Alternative-Fan könnte hinter eine Nirvana-Coverversion der Meat Puppets wohl einen Haken setzen, ohne auch nur einen Ton davon gehört zu haben. Und so kann man sich täuschen: die Kirkwood-Brüder igeln sich unter dem Druck der zugegebenermaßen schwierigen Songauswahl ein und brechen saft- und kraftlos zusammen. Ratlosigkeit schon nach knappen fünf Minuten. Das geht ja gut los.

BUTCH WALKER & THE BLACK WIDOWS
"In Bloom"


Die hauen tatsächlich eine knallbunte, beschwingte und sonnige Indiepop-Version raus. Einfach so. Tsehe! Der Mann von heute trägt dazu einen 50-Tage-Bart, eine Latzhose und einen Strohhut. Als Duft wählt er "Harte Arbeit auf dem Feld und Wasser ist mir fremd", dazu gibt's einen Löwenzahn-Knoblauch-Tee. Das ist super, ich bin Fan.


MIDNIGHT JUGGERNAUTS
"Come As You Are"


Die Chipmunks lassen sich neuerdings auch ein Holzfällerhemd stehen. Und ich meine nicht Scott Stapp. Diese Elektronikfummler aus Melbourne setzen sich mit einem Space Shuttle ins Weltall ab und schweben an funkelnden Sternen (Zimt, Kokos) vorbei. Problem: die Reise dauert mir definitiv zu lange und ich habe außerdem Höhenangst. Grundsätzlich schöne Idee, aber ich beginne mich zu langweilen. Jetzt schon.


TITUS ANDRONICUS
"Breed"


Huppsi! Die Quasi-Punkrock-Stylos halten sich sehr eng an das Original - und fahren damit gar nicht so schlecht. Eine ordentliche Wand aus Bass, Bass und einem Spritzer Bass, dazu noch etwas Muskeln aus und auf dem Gesangschor ans kreisrunde Riffing genagelt - fertig ist die Kopie. Nicht besonders kreativ, aber hey - funktioniert! "No small mercies these days."(L.Turin)


THE VASELINES
"Lithium"


Kurt hätte sich vielleicht bis über alle Maßen geehrt gefühlt, dass die Vaselines einen seiner Songs covern - etwas, das die beiden Schotten jahrelang kategorisch ausschlossen. Jetzt spielten sie schlussendlich doch mit - und hätten es von mir aus auch lassen können. Ein sakraler Orgel-Fistelvoice-Langweiler, so spannend wie tiefgefrorene Dosenravioli. Warum macht man sowas?


AMANDA PALMER
"Polly"


Palmers Amanda besuchte den VHS-Kurs "Wie soll man "Polly" covern, ohne dabei zu verlieren (Würde, Ehre, Klingelbeutel)?" und hat nicht schlecht aufgepasst: Ihre Version hat etwas geheimnisvolles und furchteinflößendes, was ja zum Text so schlecht nicht passt. Ich werde das vermutlich nie wieder hören, aber das hat sie gut gemacht. Wenn ich es mir recht überlege, hat sie es sogar sehr gut gemacht.


SURFER BLOOD
"Territorial Pissings"


Originalversion, Teil 2: die Blutsurfer (aus dramaturgischen Gründen frei übersetzt) spielen "Territorial Pissings" nach, die Aufnahme kostete etwa soviel wie ein ÖPNV-Fahrkarte von Stuttgart HBF nach Bietigheim-Bissingen. Kann man machen, man kann sich aber auch was Schönes einfallen lassen. So was anderes. Was anderes Schönes.


FOXY SHAZAM
"Drain You"


Spätestens jetzt beginnt auf "Nevermind" der wenig abgenudelte Teil der Platte, mit also Songs, die man nicht blind und betrunken auf einem Xylophon nachspielen könnte (First Take!). Foxy Shazam machen aus "Drain You" eine durchgeknallte "Bohemian Rhapsody"-trifft-auf-die-Tequila-Blasehasen"-Version. Das war beim ersten Durchgang, äh...nennen wir es gewöhnungsbedürftig. Also ganz schön kacke. Mittlerweile ist es zu einem prächtigen Pimmelwurz gewachsen. Wenn der Yeti onaniert hört er diesen Track.


JESSICA LEA MAYFIELD
"Lounge Act"


Das Original ist mein heimlicher Lieblingssong auf "Nevermind" und da spitze ich mal extra streng die Ohren. Jessicas "Lounge Act" schlurft müde durch eine verlassene Stadt, es ist dunkel, und eine leicht neben der Spur liegende Stimme aus Monthy Pythons Mäuseorgel durchschneidet sanft Stromkabel am Aquädukt. Wenn Scarlett Johannson wenigstens ansatzweise so singen könnte - ich würde mir ihr Tom Waits-Coveralbum sogar ohne die sonst üblichen schweren neurologischen Ausfälle anhören können.


CHARLES BRADLEY & THE MENAHAN STREET BAND
"Stay Away"


Krass. Und das auf vielen Ebenen. Erstens: die Version des wiedergeborenen James Brown ist das beste Cover dieser Compilation. Zwotens: es verwundert nicht, sein "No Time For Dreaming"-Album ist schon eine Wucht in Soul-Tüten. Das geht einfach in einer Linie so weiter, ein glatter Durchschuss. Drittens: ich habe den Song nicht erkannt. Ich musste mir tatsächlich nochmal "Nevermind" auflegen und hören, wie "Stay Away" klingt. So kirre hat mich der Scheiß gemacht. Groß!


TELEKINESIS
"On a Plain"


Originalversion, Teil 3. Sind wir nicht alle Schwiegermütter? Michael Benjamin Lerner wäre unser aller Liebling. Guter, sauberer Spaß. Fühle mich gerade wie 1994. Verfluchte Axt. Ach, stimmt gar nicht, eher wie 1990. Lemonheads, Weltmeister, Pickel im Schritt. Und sowas halt.

JEFF THE BROTHERHOOD
"Something in the Way"


Erinnert entfernt an die legendären Nirvana-Liveversionen, ist aber am Ende nur eine ziemlich ungut klingende Studioaufnahme fast komplett ohne einen Funken Intensität. Dass die angeblichen Doomjünger am Ende ein verschwirbeltes Gitarrengebratze anhängen ist zwar charmant, aber mir fällt gerade kein Grund an, warum ich das nochmal hören sollte. Vielleicht beim Staubsaugen.


EMA
"Endless Nameless"


EMA bekommt die gelbgetönte Butch Vig-Sonnenbrille für den engagierten Zweitplatzierten überreicht. Ich bin ja grundlegend großer Freund der beiden Nirvana Reprise-Songs - "Endless Nameless" auf "Nevermind", sowie "Gallons Of Rubbing Alcohol Flow Through The Strip" auf "In Utero". Dieser Krach, dieser Lärm. Diese Freiheit. Diese Kraft. Viel davon erkenne ich in dieser Version wieder. Bratziger Feedback-Schnarz mit Chaos, Wut und Rebellion in jeder Note. Ich kenne EMAs sonstige Werke nicht, aber ich könnte wetten, dass er eigentlich so rebellisch wie 'ne Fußmatte ist. Was er dann immerhin mit mir gemeinsam hätte, und ich stehe auf Gemeinsamkeiten.


Famous last words: Ich weiß nicht, wem es nützt. Aber wer vielleicht ein letztes Mal hinter seine Songs und diese Wand aus Gitarren und einem donnernden Schlagzeug blicken will, der kann selbst in schwachen Momenten dieser Zusammenstellung viele beeindruckende und verbindende Elemente in "Nevermind" finden, die jede Veränderung und jede Lage aushalten. Eine Art universeller Aura, die in jedem Song mit glühender Leidenschaft erstrahlt.

Ich schalte die Floskelmaschine jetzt auch aus, is' ja schon gut.