Ich weiß nicht, welchen Erfahrungen meine geneigten Leser Jahr für Jahr gegenüberstehen, aber zumindest in den hangargroßen Redaktionshallen von 3,40qm gilt im Rückblick auf die vergangenen musikalischen Jahre: wenn's ganz prima lief, bleiben etwa drei bis fünf Alben eines Jahrgangs übrig, die fortan irgendwie zu einem gehören. Mit denen man eine spezielle Verbindung hat. Die man künftig in der Denkmurmel unter "Woah, was für eine Platte!" abgespeichert hat. Die man Freunden (wenn man welche hat) ehrfürchtig unter die Nase hält, mit einem Blitzen in Augen. So mache ich das jedenfalls (hätte ich Freunde). Und so mache ich das seit einem guten Jahr mit "I'm New Here", dem ersten Studioalbum der US-amerikanischen Legende Gil Scott-Heron seit seinem 1994er Werk "Spirits".
Dieser Gil Scott-Heron sang schon im Jahre 1970 in seinem Klassiker "The Revolution Will Not Be Televised":
You will not be able to stay home, brother.
You will not be able to plug in, turn on and cop out.
You will not be able to lose yourself on skag and skip,
Skip out for beer during commercials,
Because the revolution will not be televised.
(...)
There will be no highlights on the eleven o'clock
news and no pictures of hairy armed women
liberationists and Jackie Onassis blowing her nose.
The theme song will not be written by Jim Webb,
Francis Scott Key, nor sung by Glen Campbell, Tom
Jones, Johnny Cash, Englebert Humperdink, or the Rare Earth.
The revolution will not be televised.
Dieser Gil Scott-Heron agitierte Anfang der 80er Jahre gegen die Politik Ronald Reagans und besang 1974 den "Winter In America":
And now it's winter
It's winter in America
And all of the healers have been killed
Or been betrayed
Yeah, but the people know, people know
It's winter, Lord knows
It's winter in America
And ain't nobody fighting
Cause nobody knows what to save
Save your souls
From Winter in America
Und in einem Interview mit der Berliner Tageszeitung aus dem Jahr 2005 erklärte er dazu:
"Am Tag, als John F. Kennedy ermordet wurde, begann der Winter, und Amerika hat sich davon immer noch nicht erholt, es gab zu viele Verluste."
Er widerspricht (im selben Interview) Archie Shepp, wenn jener sagt, dass den Black People Leadership fehle:
"Nein, nein, nein! Wir hatten Leadership. Unsere Leader sind hingerichtet worden. Wir hatten das doch alles schon. Heute ist es Zeit, sich selbst an die Arbeit zu machen. Leader können einen nur bis zu einem bestimmten Punkt führen. Irgendwann ist man dann auch selbst gefordert zu handeln. Die Leader haben bereits alles thematisiert. Wir sollten nicht so tun, als hätten wir nichts. Wir haben viel erreicht, das ist aufzuarbeiten, zu würdigen, auszuwerten und den Kids zu vermitteln. Denen hilft Leadership nicht mehr."
Das hat zunächst nicht viel mit "I'm New Here" zu tun, aber vielleicht fällt es leichter, hinter die Kulissen dieses Albums zu blicken, wenn das ein oder andere gesagt oder geschrieben wurde. Das Titelstück, eine Coverversion von Smog, beinhaltet zum Beispiel die Textzeile:
"No matter how far wrong you've gone you can always turn around"
Und im Anschluss sinniert Heron in einem der kurzen Zwischenspiele, die zwischen die Songs gepackt wurden, über seine große Rechnung, die auf ihn zukommt, sollte man irgendwann mal dafür bezahlen müssen, wenn man in seinem Leben etwas falsch gemacht hat.
At the end of the day...
Auf der musikalischen Seite winken einige Überraschungen: Produzent Richard Russell hat dem Sänger hier und da einen schweren, dunkeln und tief-brummelnden Trip Hop-Bass mit regennassen Melodiefragmenten unter die Mütze geschummelt, einen swingenden und orchestralen Düsterblues in "Me And The Devil" und folk-jazziges im fantastischen "New York Is Killing Me", während das erwähnte Titelstück das Arrangement eines aufgeriebenen Nick Drake auf den Leib geschneidert bekam.
Ich trage "I'm New Here" nun schon seit langer Zeit sehr nah bei mir und ich hoffe inständig, dass sie mich nicht verlässt. Das wäre mal ein Verlust.
Erschienen auf XL Recordings, 2010.
P.S.: Wie schon bei dem Album von Silver Mt.Zion gilt auch hier: wer die Finger noch an die Vinylausgabe bekommen sollte, dem ist hiermit dringend geraten, umgehend zuzuschlagen, denn die Aufmachung ist nah an einer Sensation. Ein dicker Cover-Karton, zwei großformatige Bilder des Meisters, 180g Doppel-Vinyl und auf der beigelegten Bonus-LP gibt's noch zusätzlich bisher unveröffentlichte Studio-Sessions und Soloaufnahmen zu hören. Das ist gar so schön, dass ich mich manchmal gar nicht traue, die Platte überhaupt nur anzufassen. In echt.