23.03.2009

Platz 2


Bill Dixon With Exploding Star Orchestra

Take your time, there is no time
Power and beauty 
You only have to open your life 
And listen.

The tension and tightness of now
He put horn to lips 
Played the most sublime 
Powerful sound. 

The church was going to crack 
Open and a million white birds 
Fly from his chest, leaving traces 
Gold and silver in the light-blasted sky. 

Eternity, in fact
One minute of sound 
Sound had penetrated the granite pillars 
For all of eternity.



Ein majestätischer Orkan, ein alles entwurzelndes Monster mit Stimmen so stark, dass sie den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie rumpelt und rempelt; eine Urgewalt, die sich rücksichtlos wie eine Gerölllawine ihren Weg bahnt. Ein unterirdisches Brodeln, feuerspuckende Lava-Zungen, Ascheregen.  

Und wenn der tosende Sturm vorüber scheint, sei auf der Hut. Bill Dixon holt sicher nur mal eben kurz Luft...For all of eternity.

17.03.2009

Platz 3


Move D & Benjamin Brunn - Songs For The Beehive

Nichts schwebte schöner im abgelaufenen Jahr. Nichts pumpte soviel Frohsinn und Mystik, nichts anderes solch geil-grelle Farben und Strukturen in die Welt. Ich habe keine Ahnung, was es ist, but it's fuckin' beautiful.

Techno, House, Ambient, Glitches, Clicks, Pop. Alles auf einem Haufen. Alles deep wie Hulle, vor Ergriffenheit schwer atmend, sich die schönsten Melodien aus den Rippen schnitzend, ist "Songs For The Beehive" das schönste Electronica-Album des Jahres. Alleine für den überlangen Abschlusstrack "Radar" könnte ich vor Freude in ein Gewässer Deiner Wahl pullern: kommt niemals nicht aus den Puschen, wabert wie einst der Trockeneisnebel um die dürren Storchenbeinchen von Nena (Musikladen 1983), wie von den Russenchinesenamieskimos abgefeuert und Richtung Uranus paddelnd, frei im Raum, entrückt, verrückt und ständig auf der Suche. 

Dann! Das Signal ist da. Gefunden, entdeckt, bezaubernd entzaubert. 

13.03.2009

Platz 4


Sonargemeinschaft & Fred Frith - Drift

Meine Meinung zu "Drift" hat sich seit dem September des vergangenen Jahres nicht grundlegend geändert; eher fielen mir im Rückblick und bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit den 70 Minuten improvisierter Musik einige neue Blickwinkel und Betrachtungen auf, die bislang (fast) verborgen blieben. 

Ich glaube, ich bin tatsächlich zu einem Fan von Dirk Raulfs Saxofon geworden. Er sorgt mit seiner Präsenz jederzeit für eine erstaunliche Opulenz einer eigentlich dürren Ausgangslage: gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Frank Schulte und dem britischen Gitarristen tastet er sich durch eine karge Landschaft mit kühlen Nebelschwaden und kräftezehrenden Treibsand. Egal wie leise Raulf auch spielen mag: wenn sein Ton erklingt, bekommen die Bilder einen Rahmen. 

Schultes Spiel mit Field Recordings und schleifenden Sounds, einer teils furchteinflößenden Klangcollage aus einem Nachtspaziergang am verlassenen Weiher, bietet jederzeit den passenden Boden für zunächst Raulfs aus brüllenden Wildtieren und kristallklaren, schwebenden Eiszapfen bestehenden Eskapaden, sowie später für die freie und brodelnde Gitarre eines Fred Frith. Als jener für das zweite Stück "All Aboard" zu dem Duo dazustößt, benötigt die Truppe spürbar einige Momente, bis sie sich gefunden haben, nur um nach wenigen Minuten ihren Spielplatz nicht nur in Beschlag genommen, sondern ihn schon in leuchtenden Farben angemalt und damit verschönert haben. 

Ein sehr buntes und spannendes Album, das sich bei jedem Hören an so mancher Stelle neu entfaltet, ja: neu erfindet.

"Abends, am See..."

02.03.2009

Platz 5


Warrior Soul - Chinese Democracy

Lange Blogeinträge interessieren kein Schwein. Okay, kurze auch nicht, aber sie sind unauffälliger.

Ich bin bekennender Reunion-Dooffinder. Das behauptet zwar auch jeder zweite Bloghonk, aber ich meine es ernst. Und ich bin natürlich der einzige, der es ernst meint. Weltweit. Dabei ist es mir egal, welche Band "es nochmal wissen" will, oder welche Kapelle von versoffenen Journalisten mit "Endlich mal eine Reunion, die Sinn macht!" geadelt (also beleidigt) wird. In glatten 10 von 10 Fällen handelt es sich bei dem Ergebnis der Bemühungen um unfassbaren Schrott. Man möge mir meine Direktheit verzeihen. Und bevor der erste Zwischenrufer sich ein Herz fasst: nein, es gibt keine Ausnahmen. "Stop your internal dialogue, you're wrong, get over it!" (B.Hicks). Im Vorfeld getätigte diesbezügliche Äußerungen auf diesem Blog verlieren damit übrigens ab sofort ihre Gültigkeit. 

Wenn nun also ein kleiner Hutzelzwerg namens Kory Clarke meint, er müsse unbedingt die in meinen Augen vielleicht größte Rockband aller Zeiten mit einer Handvoll schwedischer, schottischer oder mecklenburg-vorpommerscher Volln00bs reaktivieren, nachdem er seine Stimme nachweislich zwischen Tennessee, Bogotá und Marlboro-Country an einen rostigen Nagel gehängt hat, wenn also dieser uffgestummte Gaddezwersch wirklich der Meinung ist, die eh schon schwer gebeutelte Mutter Erde muss 12 Jahre nach der Auflösung des klassischen Line-Ups mit Johnny Ricco, Pete McClanahan und Mark Evans ein weiteres Warrior Soul-Studioalbum aushalten können, einer, der sich neben all dem Suff seinen Punkspirit (bitte was?! - Anm.d.Redaktion), seine Rebellion, seine Aufrichtigkeit bewahrt hat, und dem es allein schon aus diesem Grund doch unmöglich sein dürfte, dieses, pardon, Scheißprogramm tatsächlich und unter diesen Umständen (s.o.) durch zu ziehen, anstatt es halt auch mal einsehen zu können, dass einerseits alles eben ein Ende hat, und es andererseits und sowieso doch total schnafte ist, ein Vermächtnis in Form eines Backkatalogs im stillen Kämmerlein zu lagern, das nicht einen, aber auch nicht mal einen halben oder dreiviertlen schwachen Song beziehungsweise Ton ausweist, und der all dies schöne Lauschgold mit einer vermeintlichen und gemäß meiner obigen Ausführungen hundertprozentig vollends durchgeknallt-beknackten, lustlos hingestümperten und vor allem -geröchelten, sowie darüber hinaus quadratbekloppten Mistplatte mit einem Schlag zunichte machen will, dann sage ich ein klares und deutliches: scheißrein, warum eigentlich nicht?

Auf einer Skala von 0 bis 10 lagen meine persönlichen Erwartungen an ein neues Warrior Soul-Album folgerichtig bei einer eiskalten und letztlich optimistischen -7 mit sechs anhängenden Nullen. Wer noch ganz bei Trost war, machte sich spätestens nach dem 2007er Livealbum "Live In London" in atemberaubender Geschwindigkeit aus dem Staub. Und ich war glücklicherweise noch ganz doll bei Trost, sodass ich die Ankündigung von "Chinese Democracy" zwar ob des Titels kichernd, aber insgesamt mit noch weniger als einem Achselzucken kommentieren konnte. Zugegeben, der Absatz klingt ganz schwer nach "Mimimimi!", aber ich muss das so schreiben. Nicht aus einem popkulturellen Zwang heraus, ich meine das ernst. Warrior Soul sind und waren die größten für mich. Aber noch vor fünf Monaten hätte ich mir lieber die Ohren mit Flüssigbeton ausgegossen, als hiervon auch nur einen Ton zu hören.

Ab jetzt kann ich es jedoch "kurz" im Sinne von "nicht-ganz-so-lang" machen: ich muss Abbitte leisten. Ich habe mich geirrt. Ich könnte den Social Distortion-Altenheim-Schunkler "I Was Wrong" auflegen und mich dazu nackich ans Kreuz nageln lassen. Ich habe es nicht für möglich gehalten und bekam dafür eine halbstündige Tracht Prügel. "Chinese Democracy" ist die Wutz in Dosen. Dem Warrior Soul Klassiker-Oevre wurden mit links sieben Songs plus eine Coverversion des Stooges-Hits "Knocking 'Em Down (In The City)" hinzugefügt, und ich kann beruhigt durchatmen, denn es bleibt dabei: Warrior Soul haben in ihrer Karriere noch niemals einen schlechten Song aufgenommen, egal mit welchem Line-Up. Die größte und gleichermaßen schönste Überraschung neben den energiegeladenen, arschfrischen und sautighten Punk'n'Rollern und der Tatsache, dass Clarke tatsächlich noch eine erkennbare Stimme besitzt und sie sogar wie in goldenen Zeiten einsetzen kann ("Don't Believe") ist sicherlich das deutliche Lebenszeichen der alten Warrior Soul-Vibes. Es fällt schwer, sie umgehend mit einem Fingerzeig zu dechiffrieren, aber sie sind spürbar, das Feeling ist wahrnehmbar; sei es in der Auferstehung des typisch-hypnotischen, Soul'schen Gitarrenriffs ("The Fourth Reich", "Don't Believe") oder in Clarkes weiterhin zynischen und humorvollen Texten und seinen klassischen Vocallines. 

Es freut mich wirklich sehr...ach was, ich springe hier im Dreieck, verdammt!,...dass Clarke es geschafft hat, dem eigentlich insolventen Laden nochmal derart beeindruckend Leben ein zu hauchen. Er wusste offensichtlich, dass die Fußstapfen verflucht groß sind, und dass einige Anstrengungen vonnöten sein werden, um den einst großen Namen nicht vollends zu ruinieren. Es ist ihm geglückt. Mehr als das, sogar: "Chinese Democracy" ist die beste Rockplatte des Jahres 2008. 

24.02.2009

Platz 6


Kris Davis - Rye Eclipse

Sie winden sich, und sie schlagen sich, sie lachen, und sie küssen sich, sie vergraben sich, und sie brechen wieder aus. 

Sie kämpfen. Um jeden Ton. 

Ein schier endloses Auf und Ab. Die harten, perkussiven Hammerschläge auf das Klavier wirken wie vom Irrsinn getrieben. Repetitiv schlängelt sich Davis' Piano durch ein manchmal gar undurchdringbares Geäst, einem Wirrwarr von Sounds, die ihre Musiker Tony Malaby am Saxofon, Bassist Eivind Opsvik und Drummer Jeff Davis wie entfesselt aus ihren Instrumenten locken. Es brodelt, es ist unheimlich, es schleicht und springt wie der Tasmanische Teufel. Dann kommen sie zur Ruhe, ohne dabei ihre Rastlosigkeit ab zu legen. 

Die unkonventionellen Kompositionen der jungen kanadischen Pianistin Kris Davis wirken wie künftige Monumente. In den gewalt(tät)igen Augenblicken wie vom Erdboden aufgerissener Asphalt, wie Beton und Stahl, der sich aus dem Untergrund streng blitzend in die Höhe schraubt, und wie ein angeschossenes Raubtier, wenn die Stille kommt. Malabys Anblasen fliegt wie ein verirrter Schleier in die Nacht. Sein Solospiel ist expressiv und aufwühlend, seine melodischen Improvisationen wie in "Prairie Eyes" anmutig. Davis' Pianofiguren dominieren weite Teile von "Rye Eclipse", ordnen sich aber nach der werweißwievielten Drehung unter Hypnose in den Klangdunst ein. 
 
"Sie kämpfen. Um jeden Ton." Und sie tun es tatsächlich. Keine martialische Schlacht im Sinne einer Anstrengung, die vonnöten wäre, um den korrekten Ton zu finden. Viel mehr ist es das Streben, im allumfassenden Kontext von "Rye Eclipse" zu bleiben. Das Gespür, den Fokus nicht nur auf das eigene Instrument, die Mitmusiker und den exakten, gegenwärtigen Moment zu lenken, sondern instinktiv zu spüren, was diese Musik wirklich benötigt. Im Klang. Im Ursprung. In der Wirkung. Dieses große, letzte Verständnis wird von diesen vier Musikern geradewegs atemberaubend gelebt: sophisticated, urban und himmlisch frei. 

31.01.2009

Platz 7




RYOJU IKEDA - TEST PATTERN



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30.01.2009

Platz 8




Matana Roberts - The Chicago Project

Charme. Charisma. Tiefe. Soul. Matana Roberts' drittes Soloalbum ist ihrer Heimatstadt gewidmet, der "root inspiration for this record".

Es ist eine einzige geerdete, melancholische Stimme, die sich aus vielen Stimmen zusammen setzt: Roberts am Altsaxofon, Jeff Parker an der Gitarre, Josh Abrams am Bass und Drummer Frank Rosaly. In den wunderbaren Saxofon-Improvisationen "Birdhouse 1", "Birdhouse 2" und "Birdhouse 3" kommt als Counterpart Fred Anderson am Tenor hinzu. Egal, wer gerade am Geschehen teilnimmt: es ist Roberts' integrierendes Talent, das die Stimmen bündelt. Ihr Ton ist warm und klar, ihre Kompositionen erinnern bisweilen gar an die spirituelle Königsklasse eines John Coltrane ("South By West"). Die variantenreichen Stücke sind dabei in ihrer Wirkung ein nahezu perfekter Brückenschlag aus Tradition und Moderne, aus den wärmenden Umarmungen der großen, alten Meister und der Distanz, des Designs der windigen Großstadt. Die Band wird dafür zum großen Farbkasten des Jazz geführt und erhält genau die Inspirationen, die sie für das Jetzt brauchen. Der Grundton schimmert allgegenwärtig durch die vielen Pinselstriche, es ist der Blues und der Soul. Ein abstrakter Free Jazz setzt sich auch immer wieder durch, gewinnt aber nie die Oberhand. Vor allem, wenn Parkers Gitarrenspiel einsetzt, balancieren die Stücke immer am Rand des Abdriftens in freie Gefilde, bevor sie vom eingewurzelten Ton der Bandleaderin wieder eingefangen werden.

Hervor zu heben ist auch unbedingt die sensationelle Produktion (aufgenommen von John McEntire in - na klar - Chicago, gemixt von Scotty Hard und Vijay Iyer in Roberts' Arbeitsstätte in New York) des Albums. Sie unterstützt die Musiker bei ihrer Stimmfindung, obgleich sie alles andere als 'perfekt' oder gar 'modern' ist. Insgesamt erscheint das Klangbild gar zart dumpf, ist aber in der Lage, jedes einzelne Instrument glasklar auf die Leinwand zu bringen.

"The Chicago Project" ist dank seines unaufgeregten und gleichzeitig mitreißenden Charmes eines der unwiderstehlichsten und verführerischsten Jazzalben des abgelaufenen Jahres.

27.01.2009

Platz 9




Jud - Sufferboy

2009 war sicherlich nicht das Jahr der Rockmusik, wenigstens nicht in meiner Wahrnehmung. Entweder gab ich mich den bekannten Gassenhauern aus meiner Jugend hin, oder ich fand am Wegesrand das ein oder andere hübsche Gerocke und Gerolle, wenn auch meistens eher durch blanken Zufall. JUD zählen im Grunde zu der ersten Kategorie. Dass meine übergroße Skepsis gegenüber Reunions im Allgemeinen und der JUD-Reunion im Speziellen dazu führte, dass ich "Sufferboy" zunächst mal gar nicht hören wollte, funkt darüber hinaus ein paar wenige Signale an das Modell "Zufall". An anderer Stelle dieses Blogs durfte ich aber bereits mit wehenden Fahnen Entwarnung geben: "Sufferboy" ist eine überraschend starke Scheibe geworden.

Vier Monate nach dieser Einschätzung hat das Comeback-Album keinen Funken Ausstrahlung verloren, das Gegenteil ist der Fall. So sind mittlerweile nicht mehr nur die offensichtlicheren Hits wie "Bright White Light" oder das unglaubliche "Drained" die tragenden Säulen, viel mehr haben sich die teils extrem heftigen Doom-Kathedralen im hinteren Drittel der Platte zu echten Juwelen gemausert. Nach dem Quartett "What Are You Made For", "Asylum", "That's Life" und dem tonnenschwermütigen Blues-Doomer "Chasing The Pain Away" ist der Kiefer praktisch erstmal ausgerenkt. Denn auch wenn JUD noch nie leicht-beschwingte Kost spielten, überrascht es, dass der "Sufferboy"-Punch derart heavy und geradewegs zerstörerisch ausfällt.

Die Nachlese zeigt darüber hinaus, dass es nur diesen Weg für die Band geben konnte. Im Ergebnis klingen Clemmons, Schmitt und Hampicke nicht nur erfreulich frisch, zeitgemäß und einfach knüppelhart. Das vermutlich größte Kompliment, das man der Band mit ihrer Musik machen kann ist außerdem, dass sie völlig einzigartig klingt. Vor zehn Jahren, als JUD mit anderem Line-Up die beiden Klassiker "Chasing California" und "Perfect Life" veröffentlichten, war dieser Eindruck möglicherweise noch nicht so präsent. Heute jedoch, mit etwas Abstand zum Frühwerk und zum aktuellen Album, kann man im Hinblick auf das weitere Fortbestehen der Band nur hoffen, dass die Originalität Ihnen in Zeiten von gesichts- und niveaulosen Copycats und Styleopfern nicht erneut zum Verhängnis wird.

Lang lebe das Riff.

26.01.2009

Platz 10




Madteo - Memoria

Mit einem wahrhaft obskuren Schätzchen steigen wir in die Top-Ten des vergangenen Jahres ein: Madteos "Memoria" hat sich diesen Platz an der Sonne redlich verdient.

Der zweite Release von Matteo Ruzzon beeindruckt dabei in erster Linie durch die völlig eigenständige und schlicht abgedrehte Anlage seines Sounds. Madteo bleibt über die ganze Spieldauer geradezu schmerzhaft unkonkret. Wer mit dem Finger in eine Richtung zeigen will, kann nur in eine dunkle Nebelwolke deuten und wird dabei lieb narkotisiert spüren, dass die Wände näher kommen. Dann beginnt der Spaß erst so richtig: wie Madteo mit den Ängsten des Hörers spielt, macht erst im zweiten Schritt Laune. Zunächst einmal kann "Memoria" nämlich recht furchteinflößend klingen. Die dunklen, dumpfen, skurril-ziellosen Beats hämmern mit einer autistischen Wucht direkt ins Angstzentrum, Abteilung Klaustrophobie. Dazu hagelt es unheilverkündende Klicks und Kratzer. Melodien, zu denen das feierwütige Volk tanzen kann? Allerhöchstens auf schweren Drogen zu entdecken. Ein mitreißender Happysound, der die Sonne aufgehen lässt? Hier geht alles unter. Techno? House? Viel zu simpel. "Avenidia Liberdade"? Wahnsinnige, irrwitzige, kranke, Avantgarde-Electronica für Menschen, die sich vor dem Einschlafen gerne ein Tässchen Wick VapoRup mit frischem Stechapfeltee aufbrühen.

Clubmusik, Noise, Disco und Jazz aus den unterirdischen Höhlen von Romulus. Fremd und einzigartig.

21.01.2009

Platz 11




M.B. +E.D.A. - Regolelettroniche

In neun von zehn Fällen sind Blindkäufe, die ich aufgrund der Geräuschmusik-Kolumne von Freund Kai tätige, schlicht ein großes und spannendes Lauschglück. Es fällt mir daher leicht, immer wieder ganz entspannt die auf den ersten Blick interessantesten Titel heraus zu picken. Im Falle von "Regolelettroniche", der Kollaboration des italienischen Avantgardisten Maurizio Bianchi mit der früheren Sängerin & Gitarristin von Joyce Whore Not, Emanuela De Angelis, lohnte sich fast schon traditionsgemäß das in seine Tipps gesetzte Vertrauen: bereits nach dem ersten Durchlauf war ich kneedeep in love.

Die Kenntniss über Bianchis bewegte Biografie (inklusive einer gänzlich unbeweglichen, weil schlicht stummen Phase von 1984 bis 1998) mag dabei helfen, eine vollständige Sicht auf dieses Album zu erhalten. Bianchi veröffentlichte zu Beginn der achtziger Jahre zum einen unzählige Tapes, zum anderen aber, mit Unterstützung von Whitehouse-Gründer William Bennett und dessen Come-Org-Label auch LPs mit solch malerischen Titeln wie "Symphony For A Genocide" und geriet durch die teils sehr kleinen Auflagen seiner Werke über die Jahre zum Kult in der Industrial-Szene. 1984 schloss er sich von Depressionen geplagt den Zeugen Jehovas an und seine Musik aus. Erst 1998 erschien er wieder auf der Bildfläche und veröffentlicht seine Musik seitdem mit einem beeindruckenden Tempo.

Auf "Regolelettroniche" wird man von Wellen und Vibrationen erfasst. Bianchi und De Angelis errichten mit schier niemals enden wollenden Drones und Layers eine nervöse Wall Of Sound, die trotz der vergleichsweisen stillen, fließenden Komponenten nicht so recht beruhigen will. Minimale Verschiebungen der Metrik und des Klangs reißen Mikrofrakturen auf und lassen immer wieder neue Melodiefetzen an die Oberfläche schnappen. Die darin zu beschreitenden Wege sind so diffus und verzerrt, dass es erst nach einiger Zeit gelingen mag, sich allein auf die Möglichkeiten ein zu lassen, die diese monotone und mystische Arbeit bietet. Vor allem die langgezogenen Ausläufer der vier Tracks öffnen den Blick auf den entfachten Strudel aus Melodien, Motiven und Labyrinten. Und es macht einfach einen Riesenspaß, auf die große Entdeckungsreise zu gehen.

Außerdem und nicht zu unterschätzen: "Regolelettroniche" hat das schönste Artwork dieses Jahres geschenkt bekommen.

19.01.2009

Platz 12




Sten - The Essence

Und dann sprang der Lautstärkeregler von ganz alleine auf das Maximum. Ich habe ihn überhaupt nicht angerührt. Ehrlich nicht. Ich liege eingemümmelt auf, wo nicht in meiner Wohnlandschaft herum und starre in die große Breisuppe aus öligem Rot. Mit den dicksten Kissen werde ich Eins, es ist, wasweißich, um die vier Uhr am Morgen und draußen schneit es.

Ich habe das Gefühl, "The Essence" wird automatisch mit jedem Track lauter.

Detroit und Chicago, darum geht es. Techno und House, eingekocht auf das, was im wahrsten Sinne des Wortes bewegt. Der Titel von Stens zweitem Album wurde schließlich nicht umsonst gewählt. Das straighte Treiben des Hamburgers "amorphelt" (G.Polt) mit köchelnden Beats und einem dunklen Schleier zarter Melancholie in die Nacht. Mal funktionale, mal raumgreifende Melodien weben sich in ultradeepe Tracks und spüren mit irren Lichtblitzen in sich verschlungene Leiber auf.

Zu all dem wunderbaren Wahnsinn, in dem es sich so vortrefflich versinken lässt, ist der Abschlusstrack "Way To The Stars" dann die tatsächliche Krönung: die Nacht ist vorbei. Das Licht darf zurück in unser Leben schwappen und den Körper heilen. Schon wieder eine Schlacht geschlagen. Eine sanfte Schlacht.

16.01.2009

Platz 13




Flying Lotus - Los Angeles

Möglicherweise wird die Obskurität von Musik ein gutes Stück neutralisiert, wenn sie eine Saison als der heiße Scheiß gilt, und wenn die Entdeckung desselben nicht mehr nur hinsichtlich des Obskuritätengrades mindestens ebenbürtigen Giganerds vorbehalten bleibt. Steve Ellisons Flying Lotus fliegt nicht nur auf WARP, er flatterte im Jahr 2008 geradewegs in die offenen Arme einer gierigen Szene (Vorschläge um welche Szene es sich tatsächlich handelte bitte an die bekannte Adresse), die vermutlich immer noch nicht mal den blassen Hauch eines Schimmers hätte, was hier wirklich passiert, wenn das nicht alles im großen Jubelgeschrei glattpoliert worden wäre.

Wer genau hinhört, wird nach kurzer Zeit tatsächlich nicht mehr so genau wissen, wo ihm der Kopf steht. Zwar gelingt es hier und da einzelne Inspirationen heraus zu ziehen. Aber selbst das ist höllisch schwer: "Los Angeles" ist eine gigantische Brutstätte von Sounds, Layern, Beeps, Rauschen, Melodien und Stimmungen. Wer die dechiffrieren will, kommt an Schubladen wie Soul, Hip Hop, Jazz, Pop, elektronischem Gefummel und gar Punk nicht vorbei, aber wie das wilde Gschwerrl zusammengesetzt wurde, bleibt das Geheimnis dieser rätselhaften Platte. Ein schleifender Schleier legt sich über jede Sekunde von "Los Angeles", es wird schwül und lazy. Rauchig. Sexy. Die Beats verschwinden hinter einer diesigen Wolke. Schon wahrnehmbar, aber sie funktionieren auf einer völlig anderen Ebene als bei anderer Clubmusik. Sie drücken, ziehen und bremsen gleichzeitig, sie sind wichtig und im selben Moment völlig irrelevant.

Die Faszination, die von diesem zu gleichen Teilen futuristischen wie hippieartigen '68er Psychosound ausgeht ist nachwievor ungebrochen. So landet "Los Angeles" immer wieder und in regelmäßigen Abständen auf dem Plattenteller. Immer auf der Suche nach einem weiteren Haken, einem weiteren Trip, einer weiteren Idee, eines neuen Sounds...nach einem neuen Blick.

14.01.2009

Platz 14




By Any Means - Live At Crescendo

Bass William Parker. Schlagzeug Rashied Ali. Saxofon Charles Gayle. "We are By Any Means."

Was im Juni 2006 mit einer Aufnahme in New York begann und nicht vollendet wurde, kommt mit "Live At Crescendo" und einem umjubelten Auftritt in Schweden nun doch zu einem vorläufigen Abschluss. Charles Gayle bat nach dem Durchhören der New Yorker Aufnahme darum, sie nicht zu veröffentlichen: er spürte, dass seine Soloparts nicht die gewünschte Struktur aufwiesen. Sein Anspruch war damit nicht erfüllt. Ein gutes Jahr später stiegen die drei Musiker erneut gemeinsam auf die Bühne, diesmal im schwedischen Crescendo-Club. Das Ergebnis ist die möglicherweise undurchdringlichste Platte des Jahres. Und Charles Gayle scheint zufrieden.

Ich werde vielleicht erst in ein paar Jahren wirklich erfassen können, was mich in diesen gut einhundert Minuten Jazz förmlich überrollt. Gerät der Einstieg mit "Zero Blues" und "Hearts Joy" noch etwas hölzern, haben sich Parker, Gayle und Ali spätestens im fantastischen "We Three" gefunden. Das Brodeln beginnt. Schwere Geschütze. Blues. Roots. Schmerz, Euphorie, Leid. Jeder spannt die Fäden zum nächsten, lässt sie unterwegs ins Leere laufen und vom anderen wieder aufnehmen. Diese Verstrickungen machen wahnsinnig: was spielt Rashied Ali da eigentlich GENAU? Lenkt man die eigene Aufmerksamkeit ausschließlich auf ihn, stellt man zwei Dinge fest. Erstens: er kann unmöglich alleine erfasst werden; Parker und er scheinen das Hase und Igel-Spiel zu spielen. Zweitens: sein Drum-Dickicht ist die schleierhafteste Nebelsuppe seit Langem. Er dröhnt, reißt Töne der anderen Musiker auseinander und platziert sich selbst in einer scheinbar willkürlichen Zeit, an einem scheinbar willkürlichen Ort. Ali strickt sich ein ganzes Universum an Hauptquartieren, unterirdischen Kommunikationsleitungen, überirdischen Stromkabeln (Strom!) und Zentren außerkörperlicher Erfahrung.

Darüber improvisieren Parker und Gayle, letztgenannter mit zerfetztem Ton und erstaunlicher Wendigkeit. Er klingt chaotisch, wild, suchend, manchmal gar verzweifelt. Parker hingegen lebt die Offenheit in seinem Spiel. Er errichtet in seinen weitläufigen Soli die Infrastruktur zu Rashied Alis Nervenzentren.

"Live At Crescendo" ist damit zweifellos ein schwerer Brocken. Die Glücksgefühle, die bei der Arbeit mit Hammer und Meißel zu erfahren sind, entschädigen für die Mühe. Es lohnt sich.