30.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (4): Amanda Whiting - Lost In Abstraction




AMANDA WHITING - LOST IN ABSTRACTION


"What are they tuning, a harp?!" (Kurt Cobain)


Eine Harfe. Ich liebe Harfenmusik. Ich höre viel zu selten Harfenmusik. Ich sollte viel öfter Harfenmusik hören.

Als ich beim Stöbern im Frankfurter Plattenladen Tactile Records über "Lost In Abstraction" stolperte, fiel die Kaufentscheidung im selben Moment, als ich Amanda Whitings Instrument der Wahl erblickte. Dorothy Ashby, Alice Coltrane und, etwas aktueller, Joanna Newsom haben das engelsgleich klingende Rieseninstrument direkt in meine linke Herzkammer gerollt, jetzt ich bin bereit für einen neuen Namen, eine neue Idee, einen neuen Weg. 

Die Waliserin Amanda Whiting hat sich für ihr sechstes Soloalbum einen etwas missverständlichen Titel ausgesucht. "Abstrakt" klingt hier wenig. Das Album erschien im vergangenen Jahr auf Jazzman und da tanzt für gewöhnlich nicht gerade die Avantgarde auf den Tischen - und erwartbar bleiben die Geschwister "Dekonstruktion" und "Atonal" auch draußen vor der Tür. Im gleichen Atemzug muss ich aufpassen, es nicht gleich wieder ins Despektierliche abgleiten zu lassen, wenn ich das Bild vom "Drinnen" zeichne und von britischer Konfektionierung spreche, diesem doch sehr prosaischen Duktus des größeren Teils der der aktuellen britischen Jazzszene, der mehr Wert auf Versachlichung als auf das manische Erleben von Grenzerfahrungen legt. "Lost In Abstraction" kann bis auf ein, zwei Momente völlig problemlos als Hintergrundmusik für den sonntäglichen Brunch in der Alten Oper in meiner Heimatstadt verwendet werden. Das mag an sich schon eine Qualität sein, die es zu schätzen gilt - die Harfe ist ein leises Instrument, daher ordnet sich die Musik des Quartetts ihr ganz natürlich unter und wird grazil, elegant, zu gleichen Teilen subtil wie direkt und bietet viel Oberfläche zur räumlichen Entfaltung. Diese Vielfalt gibt es bei all der polierten Fassade tatsächlich auf "Lost In Abstraction", und es ist lohnenswert, auch besonders diese Räume zu besuchen.

Whiting verwendet ihre Harfe mal als Substitut für ein Piano zur Begleitung, als Grundierung für die melodischen Akzente, die Chip Wickham, ein alter bekannter der britischen Jazzszene, mit seinem Saxofon und seiner Flöte in den Mix einwirft. Tritt sie in Solopassagen oder in harmonisch stärker ausdifferenzierten Momenten mehr in den Vordergrund, erwächst aus ihr eine beinahe mystische Qualität, etwas Phantastisches. Zusammen mit dem Perkussionisten Baldo Verdú bereist sie in "Where Would We Be" die nächtliche Wüste, und besucht Oasen auf dem wackligen Rücken von Kamelen. Im Solostück "Discarded" perlen die Töne durch ein kaskadenförmiges Wasserspiel, frei beweglich, spielerisch - und es ist auch sechzig Jahre nach Alice Coltrane immer wieder verblüffend, wie viel Texturen dieses so liquide Instrument ausformulieren kann. In "Too Much", einem der Höhepunkte des Albums, duelliert sich Whiting gar mit dem Bassisten Aidan Thorne, der zunächst mit einem virtuosen Solo startet, bevor er mit der Band ein pulsierendes Rhythmusdickicht inszeniert, auf dem Whiting sich mit einem stilisierten Gitarrensolo austobt. 

Wie so oft liegen auch auf "Lost In Abstraction" die hocherfreulichen Entdeckungen der Musik unter der Oberfläche, sind etwas verborgen, ein bisschen Chiffre hier, ein bisschen Mystik da. In Zeiten, in denen wirklich alles am Exterieur verhandelt wird, weil Kapazitäten und Ressourcen als Folge von kompletten Verlust von Fokus so knapp sind, dass sie nur für die reine Existenz im Maschinenraum des Lebens die Notbeleuchtung aufrecht erhalten, sind Momente solchen Eintauchens Gold wert. 


Vinyl: Jazzman Pressungen sind selten fehlerfrei, und so ist es auch hier. Schlimmster Makel ist der Seitenschlag auf der B-Seite, das heißt: die Rillen sind nicht zentriert gepresst und je weiter der Tonarm in Richtung Plattenmitte wandert, desto mehr Raum bekommt der LSD-Trip des Leierkastenmanns. Darüber hinaus: non-fills und zahlreiche Klicks, vor allem auf der B-Seite. Ich höre mir die Platte trotzdem an, weil Streaming immer noch der hinterletzte Vollscheiß ist, aber gut ist ist das nicht. Das Frontcover ist toll. Das Foto der Musikerin auf dem Backcover ist hingegen diskussionswürdig. Welche*r halbwegs professionelle Fotograf*in schaut sich sowas an und denkt sich "Sieht prima aus, das nehmen wir!"?! Dafuq?! (+)


 



Erschienen auf Jazzman Records, 2022.

08.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (3): Jonathan Jeremiah - Horsepower For The Streets

 




JONATHAN JEREMIAH - HORSEPOWER FOR THE STREETS


Als meine Wenigkeit vor fast exakt vier Jahren einen halbsteifen Beschwerdebrief in die eigenen vier Wände sandte, weil es beinahe unerklärlich sei, dass "Good Day" des britischen Songwriters nicht in der Liste der damaligen besten Platten des Jahres 2018 auftauchte - wo doch vor allem die Herzallerliebste einen regelrechten Narren an den so markanten wie zwanglosen Songs Jeremiahs gefressen hatte und wir "Good Day" also überdurchschnittlich oft (und gerne) hörten - ließ sich gleichfalls eine gewisse Ratlosigkeit in meinen Ausführungen nieder. Immer diese Stilfragen. Was ist das denn hier eigentlich? Und wo kommt es her? 

Überzogen mit einer Patina aus den sechziger und siebziger Jahren, mit Orchester-Grandezza und manchmal gar einem Galabühnen-Vibe, aber andererseits unmittelbar, glänzend, frisch und modern. Irgendwie, und ich nehme jetzt allen Mut zusammen: hip! Wer nun obenrum möglicherwiese mit einer opulenteren Ausstattung protzen darf, wird derlei stilistische Lästigkeiten aus den tödlichen Fängen des Egos nicht weiter beachten und stattdessen einfach die Musik genießen. Aus welchen Gründen schreibt der Musikexpress denn auch sonst seine Rezensionen? Frage ich Sie!

Aber wir sind glücklicherweise nicht im mentalen Springer-Hochhaus und damit im Keller jeglicher Moral, sondern in fucking Sossenheim, bitches! Hier darf sich nach Herzenslust der gelbe Schmackes mit rostigen Nägeln aus der Hinrinde gekratzt und im Warum, Wieso, Weshalb regelrecht gebadet werden. 

Im Vergleich mit "Good Day" erscheint mir "Horsepower For The Streets" tatsächlich stärker amerikanisch geprägt zu sein. Die "europäische Eleganz", die ich auf dem Vorgänger  ausmachen (im Sinne von "identifizieren") konnte und die man auch als vornehme Zurückhaltung interpretieren darf, ist in meiner Wahrnehmung etwas in den Hintergrund getreten und hat jenem kalifornischen Weichzeichner mehr Raum überlassen, den ich gleichfalls bereits vor vier Jahren auf "Good Day" zu entdecken glaubte. Ein bisschen mehr Form über Funktion, ein bisschen mehr Pathos denn Ironie, ein bisschen mehr Vogelperspektive als Detailtiefe. Das zeigt sich auch im Sound, vor allem das Schlagzeug und die Arrangements der Chöre sind mittlerweile full blown Petula Clarke im Jahr 1965, wenn auch sicher mit deutlicher Moll-Färbung und mit all der neuen Komplexität, mit der sich ein Mittvierziger in heutigen Zeiten beschäftigen muss. "Horsepower For The Streets" ist insgesamt melancholischer und introvertierter als "Good Day", steht deutlicher im Sixties/Seventies-Soul, und wäre immer noch der passende Soundtrack für eine Autofahrt im Ami-Schlitten-Cabrio am Strand von San Diego. Ein bisschen Klischee muss sein. 



Vinyl: Schönes, sehr ansprechend gestaltetes Gatefold-Cover mit tollem Foto auf der Innenseite. Die Pressung auf schwarzem Vinyl ist abgesehen von einigen No-Fills zu Beginn von "Sirens In The Silence", dem letzten Stück auf der B-Seite, fehlerfrei. (++++)






Erschienen auf Pias, 2022.

01.09.2023

Sonst noch was, 2022?! (2): Voivod - Synchro Anarchy

 




VOIVOD - SYNCHRO ANARCHY


Uff, das wird nicht leicht. Den scharf denkenden Scharfdenker*innen mag aufgefallen sein, dass im letztjährigen Bestengetümmel ausgerechnet jene Band fehlte, die ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit als die beste Metalband aller Zeiten bezeichne. Und das, obwohl das kanadische Ensemble im Jahr 2022 sogar ein neues Album herausbrachte - nicht, dass der Umstand zwingend notwendig ist, um in die Bestenliste zu rutschen - für Voivod würde ich immer einen Weg finden; notfalls erfinde ich einfach eine Platte, mir doch egal. 

Lösen wir hiermit also wenigstens dieses Rätsel (des süßen Nichts), dass uns alle (niemanden) schon so lange (noch nie) so beschäftigt (langweilt). 

Nun erschien "Synchro Anarchy" also im Februar 2022 und ich hörte und hörte und hörte und hörte und hörte - und es bewegte sich absolut gar nichts. Nada. Rien. "Nassing!"(Olaf "ohne Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen" Scholz). Das war schockierend. Noch ein kleines bisschen schockierender war es, dass sich daran auch im weiteren Verlauf des Jahres nichts änderte. Die Band klingt auf "Synchro Anarchy" zum allerersten Mal in ihrer Karriere blutleer und bräsig. Ich kann beinahe nicht glauben, dass ich das wirklich öffentlich schreibe, aber sogar das Schlusslicht ihrer Diskografie "Infini" hatte noch eine Handvoll mehr Lebensgeister in den Plattenrillen stecken. In erster Linie muss ich das wohl der Produktion von "Synchro Anarchy" ankreiden, der wirklich jeder Esprit, jede Energie, jedes Leben abgeht. Das Album klingt, als wäre es in einem sterilen 4x4 Meter großen und komplett gedämmten Raum aufgenommen worden, in dem der Band vor dem Drücken der Aufnahmetaste all das operativ entfernt wurde, was sie für gewöhnlich ausmacht: Spielfreude, Spritzigkeit, Luft, Raum, Heaviness, die Lust am Wahnsinn. Vor allem Chewys Gitarre klingt so verdammt clean und gedrungen wie ein Gitarrenvideo von Peter Bursch aus dem Jahr 1986. 

Vor dem Hintergrund meiner früher getätigten Einlassungen, die Band in den aktuelleren Mark VI/Mark VII-Besetzungen immer dann am besten zu finden, wenn sie die Haudraufundschluss-Ästhetik für psychedelischere und insgesamt leicht zurückgenommene, luftigere Momente ausfranst und nicht auf Teufel-komm-raus den Kuttenheinzies mit der x-ten Neueinspielungen ihres "Killing Technology"-Albums gefallen möchte, könnte man jetzt mit leicht schnippischem Unterton darauf hinweisen, dass "Synchro Anarchy" doch jetzt genau solche heruntergedimmten Elemente vorweisen würde - und jetzt wär's mir also auch wieder nicht recht? Ich bin kognitiv in der Lage, den imaginären Einwand nachzuvollziehen und vielleicht verstehe ich das ja alles auch nicht mehr, zu alt, zu doof, lebendig begraben unter der Last der Erwartungshaltung, aber: mit "zurückgenommen" meine ich nicht "ausgeblutet". 

"Synchro Anarchy" ist mir ein Rätsel. Es macht überhaupt keinen Spaß, diese Platte zu hören. 



Vinyl: Meine Version auf silberfarbenem Vinyl ist flach (no pun intended) und hat keine gröberen Hintergrundgeräusche. Die Schallplatte rettet den plattgequetschten Sound der Aufnahme aber leider auch nicht. Außerdem: bedrucktes Inlay mit Texten und ein beiliegendes A2-Poster. (++++)


 


Erschienen auf Century Media, 2022.