30.12.2015

2015 - Und Klaus Meine pfeift den Wind Of Change


Am Tag, als Lemmy Kramer, Quatsch: Kilmister starb, einen Rückblick auf das abgelaufene Jahr zu schreiben, ist eine undankbare Aufgabe. Zum einen könnte ich gerade dem Internet auf immer und ewig ein leises Adieu hinhauchen, um es danach mit all seiner breitbeinigen und schmalhirnigen Themenhopper-Wannabes in die Luft zu jagen, die zwischen "Eben gerade gekackt, Hurra!" bis "OH MANN, DER ROCKNROLL IST GESTORBEN! #RIP #LEMMY!" gerade mal zwei Blätter Klopapier legen können.

Zum anderen ist's dann schon auch die eigene Indifferenz, die mich so ein bisschen piesakt, in doppelter Hinsicht. Motörhead gehören seit Ewigkeiten zu meinem Leben, sie kamen zeitlich möglicherweise nur ganz knapp hinter Iron Maiden - und waren damit praktisch seit 1986 immer "da". Ich hörte vor allem in meinen jungen Jahren, und bis der Grunge meine Hormone neu einstellte, sehr regelmäßig ihre Platten, aber sie waren nie in der Liste meiner Lieblingsbands, eigentlich nicht mal in der Nähe. Es ist in diesem Zusammenhang merkwürdig, dass sich ausgerechnet ein ganz besonderer, wenn auch im Grunde völlig irrelevanter Moment bis heute in mein Gedächtnis gebrannt hat, und weil er, der Moment, so irrelevant ist, teile ich ihn gerne mit meinen Lesern, die natürlich wie diktiert und auf die Eins gespielt auch im mittlerweile fast vergangenen Jahr die besten Leser dieses so wunderbaren Internets sind und also waren: Herr Dreikommaviernull war lange Jahre, siebzehn, um genau zu sein, Roll- und Eiskunstläufer, und während ich nicht sicher bin, ob ich das hier i.S.v. "HIER" schon mal erwähnte, ist Zeit für die Feststellung, dass man es mir heute dank der trägen Masse rund um die Wohlstandsplauze nicht mehr so richtig ansieht, aber als ich mich im Jahr 1987 in der Berliner Eissporthalle in Wedding für meinen Kürvortrag (bei 39°C Fieber, Danke Mama!) mit einem Spaziergang durch die Halle mental vorbereitete, hatte ich tatsächlich das "Iron Fist"-Album von Motörhead im Walkman. Für die Generation der nach 1992 geborenen Leser: ein Walkman war ein Abspielger....ach, googelt die Scheiße doch selbst.

Und jetzt die andere Seite der doppelten Hinsicht: Ich empfinde Lemmys Tod nicht als außerordentlich bedrückend, was man mir bitt'schön nicht als Pietätlosigkeit misinterpretieren soll. Er hat's eben geschafft und ich gönne ihm wirklich seine verdiente Ruhe. Als sich Pete Doherty von den Libertines/Babyshambles die Innenseite seines Körpers mit Crack, Kokain, Alkohol und Heroin tapezierte und erschütternde Auftritte absolvierte, bei denen er kaum gerade stehen, geschweige denn -singen konnte, waren die "VOYEURISMUS!" und "DAS IST EIN HILFERUF!"-Schreie im Rahmen der Berichterstattung laut zu hören - wenn Lemmy, einst ein Baum von einem Mann, dank drei Litern Jackie-Cola pro Tag und einer seit 40 Jahren schön herangezüchteten Speed-Abhängigkeit mittlerweile als gebrechlicher Tattergreis auf die Bühne getragen werden muss, war's Kult und Kult und außerdem: Kult. "Geiler Typ, so will ich auch mal leben" (Ulf, 43, Hannover Rock Boys) beziehungsweise eben sterben. Ich selbst würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass die Aura dieser legendären Chaotentruppe manchmal eine sehr große Anziehungskraft hatte; Lemmys Autobiografie "White Line Fever" habe ich auch gleich mehrfach gelesen, aber ob das immer alles nur ein großer Spaß, oder am Ende des Tages nur Verklärung und Tragik war - wer will's beurteilen? Die Antwort ist simpel: Ich. Hier, jetzt und heute, mit einer rhetorischen Frage. Entzündet die Fackeln.

Ich habe jedenfalls heute Abend "No Sleep 'Til Hammersmith" aus dem Jahr 1981 auf den Plattenteller gelegt, um mich an Lemmy zu erinnern. Und es war gut. Und es ist gut, wie es ist.

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2015 war darüber hinaus an musikalischer Front erneut ein großer Spaß - was die Auswahl der nachkommenden besten 20 Alben des Jahres zu einem bösen Drama werden ließ. Was auch immer wieder die alte Leier ist, je sais, mais non: DIESES MAL war's WIRKLICH UNERTRÄGLICH und die SCHMERZEN, die ein oder andere Platte draußen VOR DER TÜR, IM KALTEN Großstadtdschungel Sossenheims (SOSSENHEIM!) stehen zu lassen, waren größer ALS "sonst". Immerhin war die Top5 schon ab Juni in Stein gemeißelt. Muss man auch erstmal schaffen.
Außerdem auffällig waren die sich immer schneller ablösenden Phasen, in denen ich nur auf ein ganz besonderes Genre Lust hatte und daneben fast keine andere Musik akzeptierte. Ganz finster, zumindest stilistisch, war es im August/September mit der hier freimütig dokumentierten Sleaze und Hair Metal-Phase, worauf für drei Wochen lediglich ein sanftes Rauschen aus Klang folgte, bevor ich im November überraschenderweise die Doom Metaller von Solitude Aeturnus wiederentdeckte. Dazwischen je zwei Wochen Jazz und Indiegeplucker. Das sind Mischungen, "ich sag' es Ihnen." (Hildebrandt)

Das erste Halbjahr, ganz besonders der Frühling und der brüllend heiße Sommer, stand dagegen im Zeichen von Soul, Hip Hop und elektronischer Musik - es haben sich tatsächlich einige Alben herauskristallisiert, die auch über das Jahr 2015 hinweg und trotz des ubiquitären Zuschiss mit Musik, Medien und Meinungen für mich wichtig sein werden. Die besten 20 Platten aus dieser Gruppe werden hier in den kommenden Tagen vorgestellt. Aus Tradition. Fuck Tradition.

Privat stand vor allem die zweite Jahreshälfte im Zeichen von großen Veränderungen - es betraf zwar "nur" die bis dato ungeliebte Arbeitswelt, aber ganz ehrlich: der damit einhergehende Stress reicht mir für die nächsten fünf Jahre. Ich wechselte also den Arbeitgeber und entfernte mich freiwillig aus der hübsch eingerichteten Komfortzone aus Homeoffice, netten Kollegen und ziemlich sattelfesten Bewertungen in eine weitgehend unerschlossene und sehr herausfordernde Umgebung. Wer mich nicht erst seit diesem Text kennt weiß, was das mit mir und vor allem meinem Angstzentrum anstellt, aber es hat jetzt, nach knapp drei Monaten, den sehr deutlichen Anschein, als habe ich die richtige Entscheidung getroffen.

Nichtsdestotrotz hat all das zwei signifikante Auswirkungen: Januar bis Juni sind ein großes, tumbes, schwarzes Loch, das auch nach konzentriertem Nachdenken nicht bedeutend heller werden will, Juli bis Dezember ist ein wirrer und verwirrender Hagelschauer aus Angst und Aufbruch, Verzweiflung und Euphorie. Und auch wenn die Zeit so rast wie noch niemals zuvor, muss ich dringend ein paar Sachen im Auge behalten: die Rockstarkarriere mit Blank When Zero, die Kopfhörerabende vor dem Plattenspieler (beziehungsweise vor meinen beiden, tollen, ehefräulichen Weihnachtsgeschenken aus dem Hause Nubert) und den Durchzug im Kopf.

Um es mit Peter Lustig zu sagen: Abschalten. Von mir aus alles und immer öfter.

Wir lesen uns in 2016. Kommt gut rüber.

Flo

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