24.11.2010

Johannes B. Kerner ist als Moderator überbezahlt

ASTRO CAN CARAVAN - THE NAGUAL JULIAN

Ein heißer Tipp für Freunde obskuren Funks, Jazz' und meinetwegen pikanter Salsa und Guacamole (mit rohen Zwiebeln): Astro Can Caravan stammen aus Finnland und haben mit dieser Maxi aus dem letzten Jahr den Vogel für heiße Sonnentage abgeschossen. Und wo das gesagt ist, fällt mir gerade auf, dass das ja eine total bescheuerte Redewendung ist. Jedenfalls: der Holzlöffel steht senkrecht in der kühlenden Buttermilch.

Die Band um das Trio Otto Eskelinen, Tomi Kosonen und Pharaoh Pirttikangas als harten Kern, sowie ein ganzer Arsch voll Leute aus dem erweiterten Freundeskreis, sechs weitere Finnen, um genau zu sein, grooven sich in Outer Space Big Band-Manier schön die Füße platt. Der Titeltrack lässt das Caipirinha-Eis in der Fußsohle schmilzen, die Drums zittern ohne Zwischenstopp in Richtung Südamerika, die Bläser verschieben den Zuckerhut mal schnell in Richtung Helsinki - warum auch nicht? - und wenn man genau hinhört nimmt man sogar trotz all des Gezappels und Gezuppels die nordische Distanziertheit wahr - was das ganze noch spannender macht, als es eh schon ist.

Die B-Seite lässt es etwas gemäßigter, dafür aber umso experimenteller angehen. In der Anlage erinnern sie mich ein wenig an die IMPS, die letztes Jahr ein gutes, wenngleich nicht gerade leichtes Jazz/Elektro-Album namens "Bring Out The Imps" auf Mule Records veröffentlichten, allerdings lassen Astro Can Caravan konsequent jede Elektronik außen vor und konzentrieren sich stattdessen auf die Stärken eines großen Kollektivs, das auf den Spuren Herbie Hancocks, Sun Ras und frühsiebziger Funk'n'Soul wandelt und bei "Cosmo Jones" sogar eine Wah-Wah-Gitarre auf die Reise zum Mars schickt.

Der Zeitpunkt dieser Vorstellung könnte kaum besser gewählt sein: Die Band hat gerade ihr viel zu lange schon köchelndes neues Album "Planet Caravan" auf Ricky Tick Records veröffentlicht. 

Bitte bestellen sie jetzt und zwar exakt: HIER


Erschienen auf Ricky Tick Records, 2009

21.11.2010

Abschiedsgeschenk




BILL EVANS TRIO - AT TOWN HALL

Es ist Zeit, ein paar Hosen fallen zu lassen. Erstens: das ist meine erste Bill Evans-Platte und zwotestens hatte ich bisher, aus welchem Grund auch immer, nie das dringende Bedürfnis, diesen Zustand zu ändern. Drüttens: Ich habe von Jazz eigentlich keinen sitzen, aber mir gefällt's halt. Das war vermutlich das offensichtlichste Bekenntniss des Dreierpacks.

Ich glaube fast, dass ich in den letzten Jahren immer dachte, Bill Evans' Musik sei mir nicht wild oder lebendig genug, und dass ich unbedingt diesen total crazy Freejazz-Shit brauche, mit all dem Krach und all dem Chaos. Mittlerweile schließt das eine das andere nicht mehr aus: Mir wurde kürzlich "At Town Hall" wärmstens ans Herz gelegt, eine toll aufgemachte Wiederveröffentlichung des ursprünglich 1966 erschienenen Albums auf schwerem Vinyl im aufklappbaren Cover und da konnte ich einfach nicht widerstehen. Um es kurz zu machen: das waren vielleicht die am besten investierten 20 Euro des Jahres.
Zusammen mit Bassist Chuck Israels und Schlagzeuger Arnold Wise schwebt, tänzelt und fließt er durch vier Kompositionen, darunter der Standard "Spring Is Here" und entfacht dabei ein Feuer der Kommunikation mit subtilen Zwischentönen und betörenden Betonungen, das speziell unter dem Kopfhörer eine Magie entwickelt, die mich geradewegs an der Anlage festkleben lässt.

Absolute Sternstunde des Albums ist die Soloperformance "Solo - In Memory Of His Father", seinem zwei Wochen vor dieser Aufnahme verstorbenen Vater gewidmet. Evans hatte die Wahl, angesichts der tragischen Situation dieses Konzert abzusagen, oder trotzdem zu spielen, und er entschied sich für letztere Option. Das Resultat ist ein 13-minütiges Opus, das er exakt in diesen zwei Wochen entwickelte; Kernstück ist die Sektion, die sich später zu dem Titel "Turn Out The Stars" entwickeln sollte. Kenner sind sich einig, dass Evans es später nie wieder schöner und wärmer spielte als auf dieser Aufnahme. Lässt man die umwebenden Improvisation beiseite, kämen die meisten Menschen wohl nicht auf die Idee, dass es sich hierbei tatsächlich um Jazz handelt, viel mehr kommt Evans' klassischer Einfluss wie der des französischen Komponisten Maurice Ravel zum Tragen.

Selbst das New Yorker Publikum vermittelt angesichts der Intensität dieses Stücks den Eindruck, als ob es über die ganze Spieldauer gespannt den Atem anhält. Es ist Mucksmäuschenstill unter den gut 3000 Zuhörern und erst nach dem atemberaubenden Epilog bricht die Bewunderung und vielleicht auch das Mitleid und die Trauer aus ihnen heraus.

"At Town Hall" wurde mir mit den Worten empfohlen, dass insbesondere dieser Titel tief beeindruckend sei und eine Gänsehaut erzeugen könne, wie ich sie selten erlebt haben dürfte. Der Mann hatte recht.

Das ist eine der schönsten Jazzplatten, die ich jemals hörte.

Erschienen auf Verve, 1966
Re-Issue auf Verve/Speakers Corner, 2010

13.11.2010

Das Finnen-Debakel


VLADISLAV DELAY - TUMMAA


Ich kann's nicht ändern, aber das ist und bleibt eine Enttäuschung. Letzten Endes beweist mir "Tummaa" mein zugegebenermaßen beschränktes, aber eben doch oftmals zutreffendes Vorurteil: der Nachfolger eines Meisterwerks ist in den seltensten Fällen ein ebensolches - nicht ganz so selten kann das Ergebnis gar umso niederschmetternder sein.

Wenn also vor allem die Indiehampelmänner und -frauen "Tummaa" als "große Kunst" (Intro - wer sonst?) mit "faszinierendem Klangkosmos" (irgendwer - 's auch schon egal) und "live eingespielt, frisch und organisch-unmittelbar" (Kristina "Vakuumrübe" Schröder) bezeichnet, dann kann das nur zur Abschreckung dienlich sein. Ich hatte nach Delays fantastischem Opus "Whistleblower" tatsächlich große Bedenken, ob "Tummaa" die Qualität hält und sie sollten sich bestätigen. Delay agiert hier weitaus bestimmter und konkreter als zuvor, was erstmal nicht Schlimmes sein muss - aber dafür bleibt er im Verlauf der Tracks zu sehr an der Oberfläche, er begnügt sich mit offensichtlichen Standards und Sounds, die mich angesichts der Platzierung und ihres reinen Klangs verwirren. Und das ist ausdrücklich keine positive Verwirrung, das ist verwirrende Verwirrung, weil ich ihm diese billig und durchsichtig klingenden Aldi-Sounds nicht im Geringsten zugetraut hätte.

Bei aller Stringenz, mit der Delay beispielsweise den Albumopener "Melankolia" mittels Klangfetzen und einer Pianofigur aufbaut, erscheint er insgesamt doch seltsam ziellos. Die dargestellten Brüche ergeben keinen Sinn, sie führen nicht zum großen Endgegner, zum großen Bilderrahmen, der wenigstens einen Geschmack oder einen Dunst im Zaun hält, sondern eher in ein heilloses Durcheinander und einem "Touch & Go"-Mischmasch, dem es gefällt, mit überhöhter Geschwindigkeit an Tiefe und Gefühl vorbei zu rasen. Was soll man von einem Stück wie "Mustelmia" halten, das mit dem verzweifelten Versuch spielt, so irrelevant wie möglich zu erscheinen? Einzig das zerrissene "Toive" und das gute Titelstück können hier und da wenigstens einen Stimmung und eine größere Idee vermitteln, der Rest taucht in unnötigem Nichts umher.

Wenn mir außerdem jemand sagen kann, wo "Tummaa" die in verschiedenen Rezensionen immer wieder geäußerten "Jazz-Einflüsse" präsentiert, wäre ich ausgesprochen dankbar. Merke: nicht jedes traurig-klimperndes Piano ist gleich ein Fall für einen angedachten Distinktionsgewinn.

Erschienen auf Leaf, 2009

08.11.2010

Denkt denn niemand an die Kinder (2)

Und ab in die zweite Runde meiner kleinen 7-Inch-Schau. Verrückt, wie die Zeit rennt. 



GLEN PORTER - SMILE NOW, CRY LATER

Eine kleine Single, die, wenn es nach mir ginge (und das geht es bekanntermaßen nie), viel mehr Staub hätte aufwirbeln dürfen. "Smile Now" beginnt als dubbige Hymne im Sonnenschein-Familienpack, einem blitzgescheiten Gitarrenlauf und einer perfekt austarierten Bassdrum, die einem nicht mehr viel übrig lässt, als sich mit seeligem Lächeln im Liegestuhl am Strand von Los Angeles zurück zu lehnen, bevor plötzlich das Tempo Richtung Südpol geht und die Melancholie die Tür aufrummst. Ist das hier auf einmal Miami Vice, 1986? Oder ist das eine in Musik gegossene Vision vom Scheitern als einzige Option? "Cry Later" auf der Flip dreht die Lautstärke und den Weirdo-Faktor nach oben und bietet eine Eddie Spaghetti-Gitarre über frühen Beck'schen Hip Hop-Beats. Auch hier auffällig: das Break in der Mitte das sich nur wenige Sekunden später wieder mit dem Thema verbindet, und aus der Aura des Tracks etwas völlig anderes entstehen lässt. Groß. Und für die Nerds - die Zugabe: limitiert auf 300 Stück, white wax, in schön handgemachten Silk-Jackets verpackt. Beeilung, heiß und fettig!

Erschienen auf Ooohh! That´s Heavy, 2010




MIDDLE CLASS RUT - BUSY BEIN' BORN

Und jetzt zu etwas völlig anderem, wenn auch aus den gleichen, wo nicht selben Breitengraden wie der gute Herr Porter. Ich wollte schon vor Ewigkeiten etwas über das kalifornische Duo Middle Class Rut schreiben, aber ihr wisst ja, wie's ist. Wie man's macht, ist es verkehrt und das Runde muss in die Grube, in die ein anderer reinstrullte - jedenfalls: Zack Lopez und Sean Stockham verzichten auf den Bassisten und spielen damit meiner frühen (und ich meine sehr frühen) Ansicht in die Arme, dass der Bass sowieso völlig unnötig ist. Auf der Bühne war das ungeheuer intensiv und beeindruckend, zumal sie den fehlenden Bumms untenrum mit Samples (beispielsweise mit einem durchdringenden, tiefen Ton) locker wettmachten. Ihre Musik ist ein wilder Mischmasch aus 70s-, Stoner- und Alternative Rock, Punk und vor allem aufgrund des Gesangs einer Prise Hardcore. Vor allem das Titelstück ist mittlerweile ein schwergroovender, kleiner Klassiker mit einem herzallerliebsten Wutausbruch zur Mitte, der im Hause "Flori" (Mutti) auf keinem Sampler fehlen darf. Die B-Seite bietet mit "All Walks Of Life" ein nach vorne preschendes Rock'n'Roll-Riff, auf dem zunächst - ich schwöre! - der kleine große Bruder von Noel Gallagher loslegt, bevor der Whiskey und die ganzen Scheißkippen ihre Wirkung entfalten und der Wahnsinnige von The Bronx alles totrotzt.

Happy, happy family!

Erschienen auf Bright Antenna, 2008




MUHSINAH - ALWAYS (SMILE)

Achtung, nix für schwache Nerven, dafür aber eventüll für Flying Lotus-Devotees. Muhsinah (Einflüsse: Chick Corea, Alice Coltrane und J Dilla - nur mal zur groben Einrichtung) ließ zwei ihrer Tracks von 00Genesis und von ebenjenem Flying Lotus überarbeiten, die mir beide mit sehr kruden Mixes den Schädel auf halb acht drehen. 00Genesis hat sich den Titeltrack vorgeknöpft und glitscht zwischen Avantgarde-Hip Hop und einem winzigen Geschmack, so ein ganz kurzer, auf der Zunge sich verflüchtigender, von 60s Soulmusik umher - und kaum ist der Track vorbei, ist er tatsächlich vorbei. Potzblitz! FlyLo - wie wir Checker ihnen schnippisch nennen - hingegen hat "Lose My Fuse" den typischen Nebelschleier übergewemmst und ein Hamsterrad an irgendwas angeschlossen, was da im Hintergrund die ganze Zeit tschagga-tschagaa macht. Muhsinahs Stimme schwebt zwischen diesem Science Fiction Entwurf von Popmusik mal kurz in Richtung butterweiche 70er-Stimme und Intimrasur, bevor sogar Radiokopf Thom Yorke auf den Geschmack gekommen ist. Das hat der Track zwar nicht verdient (wie so häufig), aber hey: Drahtpropeller machen ja auch schönes Licht!

Und jetzt nochmal ganz kurz in echt und ernst:
dieser ganze Schmuhkäse von "grenzenauflösend" und so - ist ja alles Kappes, wahrscheinlich direkt von den kranken Hirnen einer Intr....- quatsch! Indiepostille ausgedacht, aber scheißrein: hier stimmt's. Ich habe wirklich nicht den leisesten Dunst einer Ahnung, was das hier ist. Oder nicht ist. Oder, haha, vielleicht mal war. Der Kopf nickt, und das ist ja wohl (jawohl!) das Wichtigste, aber er weiß einfach nicht - wozu zum Fick?

Erschienen auf All City Dublin, 2010

27.10.2010

On They Slay!

ATHEIST, die Ende 1993 völlig zu Unrecht aufgelöste und folgerichtig 2006 reformierte Death/Thrash Metal-Legende aus Florida, hat tatsächlich ein neues Album eingespielt. Bei Reunions von  vermeintlich alten Helden bin ich schon lange über das Stadium eines bloßen Skeptikers hinaus - ich kann mich trotz der unüberschaubaren Flut von Comebacks und Wiedervereinigungen im Heavy Metal im Grunde an kein einziges Album erinnern, das mir länger als drei Minuten Spaß bereitete. Weswegen ich alleine bei den üblicherweise vollmundigen Ankündigungen mittlerweile locker und entspannt, genau: weghören kann.

Das aktuelle (und meinerseits mit nicht zu wenig Spannung erwartete) Heathen-Album "The Evolution Of Chaos" kann hier und da zwar glänzen - allerdings ist es durchaus bezeichnend, wenn die Lackpolitur am hellsten bei bereits fünf Jahre alten Demosongs strahlt. Und die ersten Hörproben der neuen Comebackscheibe von Forbidden, der ehemals vielleicht besten Techno-Thrash Band der Welt ("Twisted Into Form" - also bitte?!), lassen gleichfalls Böses erahnen. 

Und auch wenn ich ob des nun wirklich erscheinenden ATHEIST-Comebackalbums "Jupiter" immer noch nicht im Quadrat hüpfe: der Albumopener "Second To Sun", den die Band vor wenigen Tagen der Öffentlichkeit zugänglich machte, macht mich - zugegeben - gerade ziemlich wuschig. Ich denke nachwievor nicht, dass "Jupiter" in 10 Jahren einen ähnlichen Status bei mir einnehmen kann und wird wie die drei Göttergaben harter Musik "Piece Of Time" (1990), "Unquestionable Presence" (1991) und vor allem das leider noch immer unterbewertete "Elements" (1993), aber die Chancen stehen gut, dass ATHEIST ohne allzu großen Schaden aus der Nummer wieder rauskommen. Und das wäre, gerade bei allem Respekt für die Arbeit der Burschen, viel mehr als das, was ich erwartet habe. 

Spannung! Hui!




05.10.2010

Brot und Spiele

Damit könnte man wegen mir 24/7 das ganze Scheißland beschallen. Flächendeckend.



02.10.2010

I wouldn't call it Kulturpessimismus, but...

Jeder weiß es: der Musikexpress aus dem Hause Axel Springer ist der Guido Westerwelle unter den Musikmagazinen, womit auch der wahrhafteste Grund genannt wäre, das Heftlein im Laden ganz weit hinten verschwinden zu lassen: die Springerpresse kann mich mal. Aber auch der gute Florian ist manchmal schwach und bekloppt und irgendwie musste ich die Warterei am Flughafen ja 'rumkriegen. Außerdem köderten sie mich mit der Ankündigung von 250 im Heft präsentierten Geheimtipps, also Plattem, und ich hatte schon beim Gedanken daran Schaum vorm Mund, also musste ich zugreifen. "And I'm not proud of it, 'kay? 'kay!" (Bill Hicks).

Dass die Redakteure des MEs zu den gewieftesten Wortonanisten und Architekturtänzern gehören - bon, ist nun auch keine umwerfende Neuigkeit mehr. Dass die beknackten Modestrecken mittlerweile und offensichtlich zum guten Ton eines jeden Quatschmagazins gehören - geschenkt, ich muss sie nicht anschauen. Dass der allmächtige Berlin-Hype gegenwärtig selbst bis in die Bäckerblume vorgedrungen ist - gut, ist ärgerlich, aber was juckt mich Berlin? Dass über die Mitglieder von "mental verrotteten" (Malmsheimer) und darüber hinaus sogenannten Indiebands wie Bonaparte und Cobra Killer neuerdings geschrieben werden muss, welche Klamotten sie am Leib tragen - puh, die Bette Midler is' ja auch tot! 

Dass jedoch der nicht weniger als wahnsinnig zu nennende Musikexpress all das eben unter Schmerzen aufgeführte nun in einer einzigen, verkackten Modestrecke bündelt, den Schmutz mit "Berlin Geht Style" übertitelt, darin ein frisch gevögeltes Frettchen der Band Jeans Team zu Wort kommen lässt, der - abgelichtet mit schwarz angemaltem Gesicht, einem Knochen im Mund und auf einem Stuhl sitzend, während neben ihm ein offensichtlich mittels Schmerzmitteln und/oder Schwachsinn im Quadrat betäubter Blondling eine rote Flagge hisst - ohne mit der Wimper zu zucken zwei Sätze wie "Berlin ist stilfrei und darum glücklich. Mein Lieblingsort ist seit Mitte der 90er das "Metzer Eck" im Prenzlauer Berg, wegen des Kasslertellers." einfach mal so und total nonchalant ins Blatt kotzen darf und als Krönung dieses eiskalt konstruierten Ekels die Redaktion direkt im Anschluss per Anzeige auf den hauseigenen Heftableger "me.style" hinweist, der selbstredend und wie bestellt - wen würde es angesichts dieses zenterschweren Dummfugs auch schon wundern - mit dem Titelthema "Berlin" versucht, die letzten Minderbemittelten zu einem Kauf zu überreden - das finde ich in der dargestellten Stringenz dann doch wieder total geil.

26.09.2010

Verschollen im Licht


ALICE COLTRANE - LORD OF LORDS


Soweit mir bekannt ist, wurde "Lord Of Lords" aus dem Jahr 1973 bisher lediglich in Japan auf CD (wieder)veröffentlicht und ist heute nur für eher absurd zu nennenden Geldbeträge käuflich zu erwerben. In Zeiten von Downloads interessiert das vermutlich "keine müde Sau" (Hagen Rether) mehr, aber verwunderlich ist es angesichts des Re-Issue-Wahnsinns schon ein wenig, ist es nicht? Zugleich ist es ihre letzte Arbeit für das Impulse!-Label, das sie nach nach den Aufnahmen in Richtung Warner Bos. verließ. Als sich der Jazz in den frühen siebziger Jahren in Richtung Rockmusik auf der einen und Funk und Soul auf der anderen Seite entwickelte und damit extrovertierter und massentauglicher wurde, ging Alice stattdessen nach innen: ihre Werke wurden immer spiritueller und erhielten einen stetig stärker werdenden Bezug zur indischen Musik, aber auch zur Klassik. "Lord Of Lords" ist dabei kaum mit ihren früheren Alben wie "A Monastic Trio" oder dem unglaublichen "Ptah, The El Daoud" zu vergleichen: unter der Leitung von Coltrane selbst, dem Produzenten Ed Michael und dem ersten Geiger Murray Adler entsteht ein exklusiv orchestrales Prachtstück eines 28-köpfigen Orchesters (inklusive Ben Riley am Schlagzeug und Charlie Haden am Bass), das deutlich die in den kommenden Jahren stattfindende Entwicklung vorgibt. Bereits auf dem gleichfalls fulminaten "Journey In Satchidananda" (1970) konnte man spätestens bei "Something About John Coltrane" und dem abschließenden "Isis And Osiris" schon erkennen, was da noch alles auf uns zukommen sollte: große, ausfüllende Epen, die eine tiefe Theatralik und Romantik versprühen, etwas, was ich leicht süßlich durchaus als Herzenswärme wahrnehme. 

Ich verbrachte erst letzte Woche einen ganzen Tag mit "Lord Of Lords". Immer und immer wieder setzte ich die Nadel erneut zurück und dann wieder auf, es war als sei meine Wohnung mit purpurnem Licht ausgefüllt. The healing colours of sound oder was, jedenfalls: bis auf das Ende des Titelsongs, in dem eine kleine Verwandschaft zu Coltranes früheren, ja nicht immer kantenlosen Freejazz-Ausflügen aufblitzt, ist ihr siebtes Album an klassischer Musik angelehnt, und hier besonders an das Werk Igor Stravinskys, dessen "Feuervogel" sie folgerichtig und in Auszügen auf "Lord Of Lords" verarbeitet. Hinzu kommt ein soundtrackartig arrangiertes Traditional "Going Home", das einem die Tränen der Rührung in die Augen treiben kann.

Freunde ihrer Mitt-Siebziger Alben wie "Eternity" oder "Radha-Krisna Nama Sankirtana" (wenn man die allzu gegenwärtigen und oftmals nicht leicht verdaulichen Mantra-und Buddhisten-Verweise etwas beiseite räumen mag), werden mit "Lord Of Lords" eine große Freude haben. Und ich kenne damit immer noch kein Album von Alice Coltrane, das ich nicht den wortwörtlichen Heiligenschein ausstellen würde.

Erschienen auf Impulse!, 1973

21.09.2010

I'm fucking staaaarving!


NICE NICE - EXTRA WOW

Astrein auf das falsche Pferd gesetzt. Nach der großartigen Vorabsingle "Sea Waves", die ich kürzlich auf dem Seziertisch hatte, konnte man davon ausgehen, dass sich das Duo Jason Buehler und Mark Shirazi auch auf Albumdistanz etwas handzahmer und poppiger geben würden, aber nix da: schon der Eröffnungstrack "Set And Setting" nagt an den Nervensträngen, ist laut, fauchig und kratzig. Das scheppert wie Hölle und ist fast ein bisschen unangenehm - also schlicht fantastisch.

Darüber hinaus sind auch die übrigen Tracks von "Extra Wow" nicht das, was man gemeinhin als massenkompatibel bezeichnen könnte, genau genommen nicht mal im Ansatz, dafür sorgt alleine der blecherne, unkontrolliert wirkende Sound, der alles dafür tut, dich bloß nicht zu dolle in Sicherheit zu wiegen. Und trotzdem: die Grundsubstanz ihrer Songs ist gar nicht mal so kantig , wie sich das auf das erste Hören anfühlen mag. Der große rote Faden innerhalb ihrer Kompositionen ist allgegenwärtig, er wird nur durch gefühlt hunderte von Layern, Beeps und Glitches ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Selbst wenn sie wie ihn "A Little Love" das Schweben anfangen und auf einem Berg aus mit Metallsplittern verfeinerter rosa Zuckerwatte Tele Tubbies niedermetzeln, achten sie fast überpenibel darauf, bloß nicht zu anschmiegsam zu werden. Nichts von all dem erscheint real, es sind Andeutungen und Reflexe, die das Bild von "Extra Wow" prägen. Kaum greifbar, sind sie im nächsten Augenblick im Off verschwunden, um im selben Moment von neuen Schattierungen und Blitzen ersetzt zu werden. Es ist das unendliche Rad des Wahnsinns, das die beiden mit großer Wucht immer wieder neu anschieben.

Nice Nice sind rast- und ruhelos. Getrieben von der eigenen Kratzbürste, verschwommen dank der eigenen Nebelbank. Hitzig, hektisch, hormonell unausgelastet? Mit diesem Album gehst Du durch Butter wie mit einer Wand, quatsch, "durch einen Elefanten wie durch Marmelade" (G.Polt), jedenfalls: soweit mich die Beruhigsmittel, die Schulterpolster und der Irrsinn obenrum tragen, solange kann ich mit Nice Nice im Fegefeuer tanzen. Super-Sci-Fi-Post-Wave Rabimmel Rabammel Rabumm von zwei offensichtlich Bekloppten.

Es ist prima, aber es strengt an.

Erschienen auf Warp, 2010.

07.09.2010

Obsessed With Beauty


KEITH JARRETT - RADIANCE

"Wenn ich inspiriert werden will, höre ich Karl Dall." (M.Hanuschke)



Er kommt aus dem vielzitierten Nichts und tastet, manchmal springt und hoppst er, prescht ungebremst voran, in eine Nebelbank, in der nur er sich auskennt. Ist da tatsächlich immer die Geschichte als solche im Hintergrund, die Noten abgespeichert wie auf der leistungsstärksten Festplatte der Welt, atemberaubende Zugriffszeiten und flexibel wie ein Gymnastikband? Oder ist das alles nur Gerede, ein Mythos, Scharlatanerie gar?

"Radiance" ist reich. Es hat manchmal den Anschein, als sei Jarrett gar nicht alleine auf der Bühne in seinen stream-of-consciousness verstrickt, als seien hier mindestens drei weitere Flügel an Bord, die ihn unterstützen - und auch wenn das definitiv nicht der Fall ist - auf eine gewisse Weise ist das ja trotzdem richtig. Denn wenn er sie schon nicht auf der Bühne hat, hat er sie ganz bestimmt im Kopf. Er türmt Schichten und Patterns auf- und übereinander, gräbt sich unterirdische Tunnel, die früher oder später zu Fluchtwegen umgebaut werden können, verästelt Strukturen und Oberflächen zu großformatigen, abstrakten Bildern auf einer Notenleinwand, die nur er im Oberstübchen mit Leben füllt. Mich würde in diesem Zusammenhang ja mal interessieren, was neben dem, was sich dann letzten Endes den Weg in die Finger bahnt, so alles links und rechts abseits des Wegen von ebenjenem hinunterfällt, in die Tiefe des Jarrett'schen Nichts. Wenn schon das, was er uns hier vorzaubert, innerhalb von Sekunden und Augenblicken veraltet und irrelevant geworden ist - was passiert dann erst mit der Energie, die er aufwendet, um sich zu dem eigentlichen Ergebnis vor zu schieben, sich überhaupt zu bewegen?

Denn eines ist sonnenklar: "Radiance" zeigt das abgeschlossene System Jarrett, und Energie kann nicht vernichtet werden. Was in der Folge aber auch bedeutet, dass hier nichts ohne den Tod der Töne entsteht, ohne seinen Tod. Ohne Rauch kein Feuer, ohne Verlust kein Gewinn, ohne Scheitern kein Triumph. Ja, die Sache mit dem Scheitern. "Sie denken zu viel." hat er einem Zeit-Redakteur mal an den Kopf geschmissen, nur um danach auszuführen, wie groß der Einfluss von Konzertsälen oder den Zuhörern auf die Musik sein kann und wie man außerdem einen Konzertsaal mittels der Kraft der Töne aus Deutschland nach Italien überführen könne. Also ein strahlendes Beispiel tadellos vorgetragener Emotionen. 

Aber: Ohne Chaos keine Improvisation, erstrecht nicht von Keith Jarrett. "Was abstrakt klingt, gehört zum verbindenden Gewebe" hat er einmal gesagt und auf "Radiance" hört man ziemlich viel verbindendes Gewebe. Es gibt große Momente, in denen mir selbst beim Zuhören fast schwindelig wird (ich meine das übrigens so, wie es da steht), und dabei ist es überraschenderweise egal, ob Jarrett gerade seine Hände Amok spielen lässt, oder ob er eine der wunderbaren Balladen anstimmt, die eine Tiefe, Anmut und Eloquenz versprühen, dass mir spontan kein Vergleich einfallen mag.

Ich kann "Radiance" beileibe nicht zu jeder Tag- und Nachtzeit hören, aber ich lege es vornehmlich dann auf, wenn ich ruhige, weiche Musik hören möchte - dabei ist das Album in weiten Teilen weder ruhig noch weich. Was Jarrett jedoch für mich auf diesem über zweistündigen Trip repräsentiert, ist der Mann am Klavier, weder einsam noch deprimiert, sondern höchst emotional und hellwach an einem Entwurf arbeitet und dafür sein Innerstes, seine Freude und Euphorie, als auch seine Furcht und seine Zweifel in die Hände gleiten lässt. Jarrett ist somit bei aller Stärke und vor allem bei aller Kompromisslogkeit verwundbar, er ist zahm, er ist anschmiegsam. Ich denke das ist es, woher ich den Eindruck erhalte, "Radiance" sei bestens für den Soundtrack für das eigene Zurückziehen geeignet. Vielleicht lernt man ja was fürs eigene Leben.

Erschienen auf ECM, 2005.

03.09.2010

Rockmusik 2010


DISAPPEARS - LUX

Ja scheiß' die Wand an, "Lux" bummst mich gerade um die nächsten Häuserblocks und stürmt meine Jahrescharts. Die Experimental-Spezialisten Kranky kümmern sich also nun um das Quartett aus Chicago, das dieses Debut bereits vor einigen Jahren via Touch & Go herausbringen wollte, was durch die Schließung des legendären Labels aber verhindert wurde. Und es ist gut, dass sich jemand der Veröffentlichung angneommen hat, denn "Lux" ist eine kleine Sensation.

Disappears bauen Wolkenkratzer in die Erde hinein: tief, monoton, scheppernd, mit Gitarrenwänden so dick wie die Hüllen eines Luftschutzbunkers. Dabei bei Weitem nicht so sauber und poliert wie die grundlegend vergleichbaren Black Rebel Motorcycle Club, eher kaputt und dreckig, fies und verdrogt.

Als hätten sich die Young Marble Giants, My Bloody Valentine, Velvet Underground, Hawkwind, Motörhead und die verdammtem Melvins zu einer Jam-Session Mitte der achtziger Jahre getroffen. Bedingung: Kellerloch, Schimmel an den Wänden, kein Tageslicht, Sonnenbrillen, Zigaretten, Trockeneisnebel, rotes Licht, Feedback, Echo, Hall, Delay, Schleifen, Rauschen, Wabern und Ficken. 

Erschienen auf Kranky, 2010.

31.08.2010

Untouchable


Bonobo - Black Sands

Gute, also so richtig übergute Downbeat-Alben sind rar, und da das komplette Genre in den letzten Jahren nochmal an Relevanz einbüßen musste (gefühlt, lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen), werden es auch nicht unbedingt mehr. Und es ist ja immer schwierig zu identifizieren, warum das eine jetzt die Wutz in Dosen, das andere eher die Socke im Joghurt ist - es gibt Musik, die das gewisse Etwas hat, selbst wenn ihre Zutaten es eigentlich auf den ersten Blick gar nicht hergeben. Alleine, dass ich Simon Green aka Bonobo nun mit diesen ersten Zeilen in die Downbeat-Ecke gesteckt habe, wird er mir so oder so wohl nicht verzeihen können, er sagt über sich selbst, dass seine Musik sehr viel variabler und abwechslungsreicher sei als das, was sich gemeinhin unter diesem Moniker zusammenrauft. Nicht, dass er damit falsch liegt, aber wie soll ich diesen Stil-Mix von "Black Sands" anders einordnen, ohne gleich in eine sinnfreie Aneinanderreihung verschiedener Genres ab zu driften?

Bonobos neues Album "Black Sands" hatte mich jedenfalls nach den ersten paar Takten im Sack und es ist seltsam genug, dass ich schon früh an Coltranes "A Love Supreme" erinnert wurde. Freilich weniger aufgrund der eigentlichen Musik, als viel mehr durch den Spirit, den Bonobos Musik versprüht. Du hörst es und Du weißt augenblicklich - 'Okay, das hier ist wichtig, hör genau zu, Mann!". Zuletzt ging es mir so bei "What Happened" der großartigen Emeralds, deren Zutaten zu ihrem Ambient-Sound (Schubladen, jaja!) sich gleichfalls nicht wesentlich von anderen Künstlern und/oder Kollektiven unterscheiden, aber in der Wirkung plötzlich etwas entfalten, was einzigartig ist.

Gut, der Spirit also. Nur: was soll das nun schon wieder sein? Was ist denn der Spirit? Ist der greifbar? Ist der klar zu deuten, klar zu beschreiben? Vielleicht ist er nur das diffuse Gefühl von Romantik, oder einer Traumvorstellung. Was auch immer es ist: es ist da. Und "Black Sands" ist so reich und opulent, so farbenprächtig und detailverliebt (ohne dabei auch nur im Ansatz verkopft zu sein) - schlicht perfekt bis in die letzte Note ausgestaltet und durchlebt, dass es gleichfalls alles in den Schatten stellt, was Green bisher unter dem Namen Bonobo veröffentlichte. Ein unbeschreiblicher Flow, der die Elemente aus Hip Hop, Soul, Funk und Jazz zu einer schwebenden Einheit zusammen zieht, und sie wie einen Schwarm weißer Tauben fliegen lässt. Und wer glaubt, hier sei ja alles nur eitel Sonnenschein, alles so frei und unbeschwert, so leicht und flockig, dass man das Album eh nur zwei Mal hören muss, bevor man alles kennt, der sollte nochmal genauer hinhören: in "Black Sands" ist eine Menge Melancholie und Nachdenklichkeit eingebacken, und Bonobo macht sich nicht unbedingt die Mühe, diesen Grauschleier so gut es geht zu verstecken. Der sonore Bass, der sich oft unter den Layern aus verhallten Stimmen und Snaredrums in dunkeln Ecken herumtreibt, deutet wie die sparsam eingesetzten und perfekt integrierten, rot-grauen Streicher mit ihren großen Melodiebögen auf Skepsis und Dunkelheit hin, die sich mit den hellen, sonnendurchfluteten Seidenvorhängen einen Kampf um die Vorherrschaft auf dem Album liefern.

Und wenn dann noch Andreya Triana ihre dunkle, angerauhte, brennende Sehnsucht versprühende Stimme in die Songs hineinwirft, verbinden sich die Gegensätze zu einem großen Statement, zu einer großen Statue der Weite, des Raums und der Zeit.

Ich bin platt.

Erschienen auf Ninja Tune, 2010.