SPIRIT CARAVAN - JUG FULLA SUN
"I'm pretty sure - and I'm no doctor - but I'm pretty sure, if you die, the cancer dies at the same time. That's not a loss. That's a draw." (Norm Macdonald)
Die Aufnahme von Spirit Caravan in die Liste der besten Platten der 1990er Jahre war eine echte Hängepartie für mich. Nicht musikalisch, weil es diesbezüglich selbst in meinem überdifferenziert tapezierten Oberstübchen keine zwei Meinungen gibt. Allerdings waren die von Sänger und Gitarrist Scott "Wino" Weinrich während der Corona-Pandemie getätigten Aussagen über das Virus, beziehungsweise dessen Herkunft und Bestimmung - irgendwas mit Eliten, Populationskontrolle, biologische Waffen - verbunden mit dem üblichen Remmidemmi mit Klassikern wie "If we, the people, continue to blindly accept this tyranny we are destined for enslavement." - tja, ich bin jetzt geneigt von "entlarvend" oder gar "enttäuschend" zu schreiben, aber am End' war's weder das eine noch das andere. Wino hat schließlich sowohl textlich als auch hinsichtlich früherer Interviewaussagen und Postings auf Social Media abseits der Pandemie so einiges auf dem Kerbholz, das die ein oder andere hochgezogene Augenbraue provozieren könnte. Nun sortiere ich mein "Deppenmusiker"-Wertesystem immer noch recht regelmäßig nach den beiden Hauptkategorien "Unbedenklich" und "Indiskutabel" nebst unterschiedlicher Unter-, Zwischen- und Drübergruppen und entscheide auf Einzelfallbasis, meine: was hält die Gallenkotze noch im Magen und was bringt sie zum Überschwappen? Wen kann ich noch schmerzfrei hören, wer kann im Plattenschrank stehenbleiben, wer wird zur Persona Non Grata erklärt und bedingungslos vor die Tür gesetzt? So verfuhr ich auch für die Auswahl dieser Bestenliste. Das nur als Disclaimer, falls mir irgendjemand im Oktober 2028, wenn der ganze Spuk hier vorbei ist, und wir immer noch am Leben sind, ein "DU HAST [hier bitte Deppenband einfügen] VERGESSEN!" in die Kommentare brettert. Man darf sich sicher sein: habe ich nicht. Beziehungsweise eben doch, aber mit Absicht. Mein Hausarzt fuhr bei meinem letzten Praxisbesuch einen im Gang stehenden Patienten an, der sich weigerte, das Wartezimmer aufzusuchen: "Sie gehen da jetzt rein. Das ist meine Praxis, ich bin hier der Chef, und sie tun das, was ich ihnen sage. Haben wir uns verstanden? Ja? Schön! Also, da geht's lang!" - In diesem Sinne: ich bin sicher, wir haben uns auch in dem just vorangestellten Kontext verstanden. Suck it up.
Im Falle Spirit Caravan gibt es nun allerdings gar nicht so viel up zu sucken, denn dass also nun mit "Jug Fulla Sun" das Debut dieser bemerkenswert guten Band auf Platz 168 steht, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass meine Wenigkeit sich trotz Winos intellektuell eher unterfordernden Gedankengerölls zu einem prächtig erigierten Daumen hinreißen lassen konnte. Vielleicht ist an dieser Stelle auch die Einlassung noch lohnenswert, dass ich historisch keine ausgeprägte Liebesbeziehung zu Wino und seinen früheren Bands pflege. Ich mag The Obsessed, ich mag ein bisschen St.Vitus, und ich kann sowohl seinen Status als auch Einfluss auf die Subgenres Doom und Sludge anerkennen, aber eine alles durchdringende Liebe war's praktisch nie.
Das sollte sich immerhin im Winter 1999 ein bisschen und lebenssituationsbedingt im Frühjahr/Sommer 2000 sogar ein ganz viel bisschen ändern. Ich kaufte mir die CD von "Jug Fulla Sun" im so legendären wie mittlerweile leider geschlossenen Frankfurter Plattenladen "Musikladen" im Dezember 1999, als ich es mir zwar bis über beide Ohren verliebt, aber leider nur wochenendbezogen, in der ersten eigenen Wohnung im Frankfurter Stadtteil Rödelheim gemütlich machte und gemeinsam mit Instant-Eistee, Haschgift, handgebatikten Vanille-Kokos-Kerzen und heißer Badewanne rauschende Nächte der Vereinsamung feierte, und sowohl hinsichtlich der Wohnung als auch des Albums nullkommanull Eingewöhnungszeit benötigte. Alles klickte sofort. Die "Graf Koks"-Safranpizza vom Italiener gegenüber, die einsam im Wohnzimmer stehende Ledercouch, olfaktorisch ein vor sich hin glühendes Potpourri aus Benson & Hedges, Douglas-Parfümerie und der B-Ebene im Frankfurter Hauptbahnhof - und dazu läuft dieses sonnige und zugleich melancholische, vor positiver Kraft fast platzende Doom-Fuzz-Stoner-Hippie-Geschoss mit den allerbesten Riffs und Grooves über Tage in Endlosschleife. "Schiebt wie Drecksau!" entfuhr es da Ingo, dem Gitarristen meiner damaligen Band Broken, als die ganze Bande mit Augen, deren Schlitze selbst für Zahnseide noch zu eng gewesen wären, im Proberaum saß und Florians wöchentlichem Musiktipp Folge leistete, also nach getaner Band-Arbeit doch noch ein Stündchen dieser Platte zuzuhören. Es waren bewegte und bewegende Zeiten.
Die sogar noch etwas lebhafter wurden, als der Winter zur Seite rückte und den ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres Platz machte. Als ich mich im neonorangefarbenen Opel Corsa auf den freitäglichen Weg zur Herzallerliebsten nach Nürnberg auf die Autobahn schwang und im ubiquitären Stau mit heruntergekurbelten Fenstern und Atomkriegslautstärke einen solchen Geniestreiche wie "Melancholy Grey" mit ausladender Armfuchtelei mitsang, immer und immer wieder. Alles war Sonne, Freiheit, Übergeschnapptheit - und "Jug Fulla Sun" passte sich genau in dieses Lebensgefühl ein. Ich halte das bis heute auch deshalb für so bedeutsam, weil Doom ja oft nicht ohne Grund Doom heißt, mit all seiner Schwerfälligkeit, dem Pathos, der Ausweglosigkeit - und bei aller Nähe für jene tiefgrauen Zustände, empfinde ich das immer ein bisschen zu prominent ins Schaufenster gestellte Leid auch manchmal als überkandidelt. "Jug Fulla Sun" hat damit nichts an der Frisur. Ich könnt's jetzt ganz billig und schnell machen und den ollen "Nomen et Omen"-Spruch bringen. Oder "Draußen nur Sonnenkännchen!". Oder die drei Haschblüten vom Grill, Wino, Drummer Gary Isom und den im Jahr 2022 leider verstorbenen Bassisten Dave Sherman die Sonnenkönige des Doom nennen.
Genau so wird's gemacht: Spirit Caravan sind die Sonnenkönige des Doom.
Vinyl und so: Das Album erschien 15 Jahre nach der Veröffentlichung 2014 erstmals via Exile On Mainstream auf Doppelvinyl (mit einem schönen Etching auf der D-Seite). 2023 folgte ein neuer Re-Release von Improved Sequence Records auf schwarzem, grünem und gelben Vinyl. Man bekommt beide Editionen noch, aber muss mit um die 60 Euro für die 2023 Version und mit gut 80 Euro für die Exile On Mainstream Pressung kalkulieren. Letztere hat ein Glossy Cover und klingt super.
Weiterhören: "Elusive Truth" (LP, 2001), "Dreamwheel" (EP, 1999)
Erschienen auf Tolotta Records, 1999.



