27.12.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #168: Spirit Caravan - Jug Fulla Sun




SPIRIT CARAVAN - JUG FULLA SUN


"I'm pretty sure - and I'm no doctor - but I'm pretty sure, if you die, the cancer dies at the same time. That's not a loss. That's a draw." (Norm Macdonald)


Die Aufnahme von Spirit Caravan in die Liste der besten Platten der 1990er Jahre war eine echte Hängepartie für mich. Nicht musikalisch, weil es diesbezüglich selbst in meinem überdifferenziert tapezierten Oberstübchen keine zwei Meinungen gibt. Allerdings waren die von Sänger und Gitarrist Scott "Wino" Weinrich während der Corona-Pandemie getätigten Aussagen über das Virus, beziehungsweise dessen Herkunft und Bestimmung - irgendwas mit Eliten, Populationskontrolle, biologische Waffen - verbunden mit dem üblichen Remmidemmi mit Klassikern wie "If we, the people, continue to blindly accept this tyranny we are destined for enslavement." - tja, ich bin jetzt geneigt von "entlarvend" oder gar "enttäuschend" zu schreiben, aber am End' war's weder das eine noch das andere. Wino hat schließlich sowohl textlich als auch hinsichtlich früherer Interviewaussagen und Postings auf Social Media abseits der Pandemie so einiges auf dem Kerbholz, das die ein oder andere hochgezogene Augenbraue provozieren könnte. Nun sortiere ich mein "Deppenmusiker"-Wertesystem immer noch recht regelmäßig nach den beiden Hauptkategorien "Unbedenklich" und "Indiskutabel" nebst unterschiedlicher Unter-, Zwischen- und Drübergruppen und entscheide auf Einzelfallbasis, meine: was hält die Gallenkotze noch im Magen und was bringt sie zum Überschwappen? Wen kann ich noch schmerzfrei hören, wer kann im Plattenschrank stehenbleiben, wer wird zur Persona Non Grata erklärt und bedingungslos vor die Tür gesetzt? So verfuhr ich auch für die Auswahl dieser Bestenliste. Das nur als Disclaimer, falls mir irgendjemand im Oktober 2028, wenn der ganze Spuk hier vorbei ist, und wir immer noch am Leben sind, ein "DU HAST [hier bitte Deppenband einfügen] VERGESSEN!" in die Kommentare brettert. Man darf sich sicher sein: habe ich nicht. Beziehungsweise eben doch, aber mit Absicht. Mein Hausarzt fuhr bei meinem letzten Praxisbesuch einen im Gang stehenden Patienten an, der sich weigerte, das Wartezimmer aufzusuchen: "Sie gehen da jetzt rein. Das ist meine Praxis, ich bin hier der Chef, und sie tun das, was ich ihnen sage. Haben wir uns verstanden? Ja? Schön! Also, da geht's lang!" - In diesem Sinne: ich bin sicher, wir haben uns auch in dem just vorangestellten Kontext verstanden. Suck it up. 

Im Falle Spirit Caravan gibt es nun allerdings gar nicht so viel up zu sucken, denn dass also nun mit "Jug Fulla Sun" das Debut dieser bemerkenswert guten Band auf Platz 168 steht, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass meine Wenigkeit sich trotz Winos intellektuell eher unterfordernden Gedankengerölls zu einem prächtig erigierten Daumen hinreißen lassen konnte. Vielleicht ist an dieser Stelle auch die Einlassung noch lohnenswert, dass ich historisch keine ausgeprägte Liebesbeziehung zu Wino und seinen früheren Bands pflege. Ich mag The Obsessed, ich mag ein bisschen St.Vitus, und ich kann sowohl seinen Status als auch Einfluss auf die Subgenres Doom und Sludge anerkennen, aber eine alles durchdringende Liebe war's praktisch nie. 

Das sollte sich immerhin im Winter 1999 ein bisschen und lebenssituationsbedingt im Frühjahr/Sommer 2000 sogar ein ganz viel bisschen ändern. Ich kaufte mir die CD von "Jug Fulla Sun" im so legendären wie mittlerweile leider geschlossenen Frankfurter Plattenladen "Musikladen" im Dezember 1999, als ich es mir zwar bis über beide Ohren verliebt, aber leider nur wochenendbezogen, in der ersten eigenen Wohnung im Frankfurter Stadtteil Rödelheim gemütlich machte und gemeinsam mit Instant-Eistee, Haschgift, handgebatikten Vanille-Kokos-Kerzen und heißer Badewanne rauschende Nächte der Vereinsamung feierte, und sowohl hinsichtlich der Wohnung als auch des Albums nullkommanull Eingewöhnungszeit benötigte. Alles klickte sofort. Die "Graf Koks"-Safranpizza vom Italiener gegenüber, die einsam im Wohnzimmer stehende Ledercouch, olfaktorisch ein vor sich hin glühendes Potpourri aus Benson & Hedges, Douglas-Parfümerie und der B-Ebene im Frankfurter Hauptbahnhof - und dazu läuft dieses sonnige und zugleich melancholische, vor positiver Kraft fast platzende Doom-Fuzz-Stoner-Hippie-Geschoss mit den allerbesten Riffs und Grooves über Tage in Endlosschleife. "Schiebt wie Drecksau!" entfuhr es da Ingo, dem Gitarristen meiner damaligen Band Broken, als die ganze Bande mit Augen, deren Schlitze selbst für Zahnseide noch zu eng gewesen wären, im Proberaum saß und Florians wöchentlichem Musiktipp Folge leistete, also nach getaner Band-Arbeit doch noch ein Stündchen dieser Platte zuzuhören. Es waren bewegte und bewegende Zeiten. 

Die sogar noch etwas lebhafter wurden, als der Winter zur Seite rückte und den ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres Platz machte. Als ich mich im neonorangefarbenen Opel Corsa auf den freitäglichen Weg zur Herzallerliebsten nach Nürnberg auf die Autobahn schwang und im ubiquitären Stau mit heruntergekurbelten Fenstern und Atomkriegslautstärke einen solchen Geniestreiche wie "Melancholy Grey" mit ausladender Armfuchtelei mitsang, immer und immer wieder. Alles war Sonne, Freiheit, Übergeschnapptheit - und "Jug Fulla Sun" passte sich genau in dieses Lebensgefühl ein. Ich halte das bis heute auch deshalb für so bedeutsam, weil Doom ja oft nicht ohne Grund Doom heißt, mit all seiner Schwerfälligkeit, dem Pathos, der Ausweglosigkeit - und bei aller Nähe für jene tiefgrauen Zustände, empfinde ich das immer ein bisschen zu prominent ins Schaufenster gestellte Leid auch manchmal als überkandidelt. "Jug Fulla Sun" hat damit nichts an der Frisur. Ich könnt's jetzt ganz billig und schnell machen und den ollen "Nomen et Omen"-Spruch bringen. Oder "Draußen nur Sonnenkännchen!". Oder die drei Haschblüten vom Grill, Wino, Drummer Gary Isom und den im Jahr 2022 leider verstorbenen Bassisten Dave Sherman die Sonnenkönige des Doom nennen. 

Genau so wird's gemacht: Spirit Caravan sind die Sonnenkönige des Doom.


Vinyl und so: Das Album erschien 15 Jahre nach der Veröffentlichung 2014 erstmals via Exile On Mainstream auf Doppelvinyl (mit einem schönen Etching auf der D-Seite). 2023 folgte ein neuer Re-Release von Improved Sequence Records auf schwarzem, grünem und gelben Vinyl. Man bekommt beide Editionen noch, aber muss mit um die 60 Euro für die 2023 Version und mit gut 80 Euro für die Exile On Mainstream Pressung kalkulieren. Letztere hat ein Glossy Cover und klingt super.


Weiterhören: "Elusive Truth" (LP, 2001), "Dreamwheel" (EP, 1999)





Erschienen auf Tolotta Records, 1999.

20.12.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #169: Alanis Morissette - Jagged Little Pill




ALANIS MORISSETTE - JAGGED LITTLE PILL


"Heute ist nicht die Kriegsgegnerschaft, sondern die Kriegsbefürwortung tonangebend. Wer für den Frieden ist, kann nicht mehr für den Westen und für die Freiheit und was auch immer sein. In nahezu allen politischen Fragen heute gibt es im Großen und Ganzen nur Zustimmung. Und die geht bis zu dem Flügel der Linken oder der Regierung, der alles mitmacht, aber immer mit Bauchschmerzen. Abschiebung und Aufrüstung mit Bauchschmerzen." (Jakob Hayner)


Wenn von einer Platte über 33 Millionen Kopien verkauft werden, darf ruhigen Gewissens von Mainstream geredet werden. Und dem Mainstream gegenüber sollte man stets zumindest skeptisch sein. Der Mainstream ist immer gefährlich, zu groß, zu breit, zu laut, zu überall. Mainstream ist auch immer Propaganda. Immerhin erlaubt es die angewandte Skepsis, auch noch mit zeitlichem Versatz darauf reinfallen zu dürfen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Manchmal ist man vom beliebten Schauspiel-Duo "Dumm und Dümmer" eben der Zweitgenannte und gibt einfach langsam nach, beziehungsweise auf. Schmeißt das Handtuch, umarmt den Drachen. 

Denn das ist die Sache: mindestens (!) acht Songs auf "Jagged Little Pill" sind herausragende Hits und gehören in den Kanon der neunziger Jahre wie Parker Lewis, Calvin Kleins "cK One" Werbestrecke und Quarzen im Flugzeug. Und jetzt frage ich Sie: soll die Redaktion von Dreikommaviernull aus Gründen der CrEdIbIlItY etwa darauf verzichten, ein solch wegweisendes Album in die Bestenliste der 1990er Jahre aufzunehmen, weil ein Großteil der 33 Millionen Käufer*innen es zum gemütlichen Sonntagsbrunch mit der auf Sylt kennengelernten Deppenfamilie (Einfamilienhaus, Mercedes SUV, beiger Pullover über die Schultern gelegt) als sanft säuselnde Hintergrundmusik aufgelegt hat?! Oder weil Alanis im Allgemeinen und (der Erfolg von) "Jagged Little Pill" im Besonderen vielleicht dafür verantwortlich gemacht werden könnte, wenn nicht müsste, Sängerinnen wie Katy Perry oder die unvermeidbare Taylor Swift erst möglich gemacht zu haben?! Bevor mir die Fanpost mit den lieblichen Gewaltfantasien ins Haus bombt - ich würde den Teufel tun und letzteres als tatsächliches Argument ins Feld führen: gegen Ende der neunziger Jahre kamen ein paar echte Sackgesichter auf die Idee, ausgerechnet einer Band wie Mudhoney unter die Nasen zu reiben, sie seien Schuld an Creed und Nickelback. Und da fragt man sich, warum Mark Arm immer so schlechte Laune hat.

Jedenfalls: "Jagged Little Pill" bewegt sich in dieser seltsamen Twilight Zone zwischen Pop und Alternative Rock und es braucht nicht viel, um die Vermutung anzustellen, es sei das richtige Album zur richtigen Zeit gewesen. Der in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren gelegte Grundstein für die kulturelle und gesellschaftliche Öffnung, das neue Selbstverständnis der Generation X, so oder so eine Bewegung, die sich mit den Ambivalenzen zwischen Einsamkeit und Autarkie bestens auskannte, und der 1995 beinahe abgeschlossenen Demontage der ersten Grunge-Welle öffnete einer Platte Tür und Tor, die einerseits glatt genug war, um in den Mainstream einzubrechen, andererseits aber sowohl im lyrischen Vortrag über Selbstfindung, weibliche Sexualität und Zorn als auch in der Inszenierung Morissettes als kratzbürstiges Enfant Terrible gerade so viel Edginess versprühte, um die junge Generation anzuzünden. Die Entstehungsgeschichte von "Jagged Little Pill" nimmt exakt diesen Erzählfaden auf und schreibt ihn weiter: Alanis befand sich mit ihrem 1991 veröffentlichten Debutalbum in ihrem Heimatland Kanada schon auf dem Weg zum Star, wurde dann jedoch nach dem sich deutlich schlechter verkaufenden zweiten Album von ihrem Label MCA vor die Tür gesetzt. Nicht zuletzt kamen den Labelbossen Morissettes Ideen zur künstlerischen Selbstbestimmung in die Quere - und die derart von einem gerade mal siebzehnjährigen Mädchen herausgeforderte Männerwelt reagierte so, wie man es von einer von einem gerade mal siebzehnjährigen Mädchen herausgeforderten Männerwelt eben erwartet: "Mädchen, da ist die Tür!" 

Über Umwege machte Morissette 1994 Bekanntschaft mit den Produzenten Glen Ballard, mit dem sie die Songs von "Jagged Little Pill" in Rekordzeit entwickelte. Die Regeln: einen Song pro Tag schreiben und aufnehmen, dazu eine strenge "Maximal 2 Takes Only"-Politik. "Ironic", neben des bebenden "You Oughta Know" der größte Hit der Platte, wurde in gerade mal 20 Minuten zusammengepuzzelt. Und noch ein Eckchen wahnsinniger: selbst als die ersten Aufnahmen später im Studio nochmal etwas verfeinert wurden - unter anderem wurden Dave Navarro und Flea eingeladen, um der Leadsingle "You Oughta Know" mehr Alternative-Flair und -Glaubwürdigkeit zu verpassen - entschied sich das Team Morissette/Ballard dazu, die vormals gemachten Demoaufnahmen der Vocals für die Platte zu verwenden. Nicht, dass es im Jahr 2025 wirklich noch auch nur die klitzekleinste Bestätigung für Morissettes außergewöhnliches Gesangstalent benötigen würde, aber ich möchte dennoch einen Blick in das hier verlinkte "Songs That Changed Music" - Video empfehlen, in dessen Verlauf ihre von der Musik isolierte Stimme zu hören ist. Es ist schlicht atemberaubend. Diese Spontanität und Lebendigkeit, aber auch die dadurch entstehende Unvollkommenheit waren, und sind es bis heute, die Schlüssel für den Erfolg von "Jagged Little Pill". Das - und freilich zwölf Songs, die alle als Single funktionieren könnten. Kritiker wie Anthony Fantano äußern sich zwar bisweilen zurückhaltender, weil die Songs abseits der großen Hits das Album nicht tragen könnten, aber ich stimme derlei Einschätzungen nicht zu. Ganz im Gegenteil möchte ich speziell auf "Forgiven" verweisen, den für mich besten Song dieser Platte, mit fünf Minuten Spielzeit vielleicht alleine deshalb nicht unbedingt singletauglich, aber sowohl musikalisch als auch textlich - Katholizismus und die damit vor allem für Frauen verbundenen Schuldgefühle - ein herausragendes Beispiel für einfach brillantes und zeitloses Songwriting. Es ist fast unmöglich, sich der Anziehungskraft von "Jagged Little Pill" zu entziehen, Mainstream hin oder her.  


Vinyl und so: der durchschlagende Erfolg des Albums macht es möglich, "Jagged Little Pill" selbst im Jahr 2025 zum kleinen Preis von manchmal sogar unter 20 Euro auf Vinyl erleben zu können. No-Brainer. 


Entgegen der gängigen Praxis, an dieser Stelle das ganze Album einzubetten, zeige ich euch dieses Mal lieber das Fernsehdebut von Alanis Morissette in der Late Night Show von David Letterman (übrigens mit Taylor Hawkins am Schlagzeug) aus dem August 1995 mit der Hitsingle "You Oughta Know". Aus Gründen des Wirbelwinds.

          



Erschienen auf Maverick, 1995. 


15.12.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #170: Blind Melon - Blind Melon




BLIND MELON - BLIND MELON

"I know we can’t all stay here forever 
So I want to write my words on the face of today 
And they’ll paint it"
(Blind Melon, "Change") 


Das 1992 erschienene Debut von Blind Melon eignet sich bestes dazu, ein paar scheinbar festzementierte Erzählungen über die sogenannte alternative Rockmusik aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre in Flammen aufgehen zu lassen. Dafür zündet man zunächst mal die komplette Musikpresse und anschließend die PR-Abteilungen der Majorlabels an, die beide zu gleichen Teilen dafür verantwortlich waren, einer ganzen Generation von Musikfans erfolgreich zu vermitteln, dass praktisch alles, was vor "Nevermind" erschien, überholter und altmodischer Kernschrott war - während sie gleichzeitig Bands vermarkteten (das Wort ist mit Bedacht gewählt, fyi), die sich musikalisch bei fast allem bedienten, was eben vor fucking "Nevermind" erschien. The Black Crowes, anyone? Monster Magnet, anyone? Und natürlich: Blind Melon, anyone? "The Great Grunge Swindle", der noch ungeschützte Titel meines noch ungeschriebenen Buches. Don't hold your breath.   

Blind Melon hatten es in dieser Hinsicht entweder doppelt leicht oder doppelt schwer, je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt. Die 1990 in Los Angeles gegründete Band ging mit der im Juni 1993, und damit neun Monate nach Albumrelease ausgekoppelten Single "No Rain" nebst des ikonischen Videoclips endgültig durch die Decke und verkaufte alleine in den USA über drei Millionen Alben des Debuts. "No Rain" war dabei in Hinblick auf den Vibe des Albums und der Außenwirkung der Band gehörig missverständlich, denn der leichte Swing mit niedlicher Hippiebestrahlung ließ darauf hindeuten, Blind Melon seien Susi Sorglos sein Vadder und also frech, frei und unbeschwert. Tatsächlich war der Text von der damaligen Freundin von Bassist Brad Smith inspiriert, deren Depressionen sich unter anderem darin zeigten, dass sie sich beschwerte, wenn es nicht regnete,  tagelang das Haus nicht verließ und stattdessen im Bett blieb und unentwegt Bücher las. So befassten sich auch die übrigen Texte des Albums überwiegend mit den eingetrübten Momenten menschlicher Existenzen und deren emotionalen Tiefpunkten. Zusätzlich sorgte der Erfolg von "No Rain" dafür, die Band im erweiterten Szenekreis als One Hit Wonder abzustempeln. Angesichts der beeindruckenden Sammlung echter Deep Cuts auf diesem Debut ist das zwar völlig bizarr, aber ich fürchte, so funktioniert das Geschäft.  

"I was born on the banks off a hot muddy river
The child of one stupid steamy night
Born to roam beneath the sun
What do you think of me, I’m better left alone"

Es ließen sich ganze Bücher über die Vielseitigkeit und Musikalität dieser Band füllen. Der mühelos erscheinende und authentische Groove zwischen Funk und Classic Rock von einer der zeitgleich besten sowie unterbewertesten Rhythmusgruppen der Rockszene - Glen Graham spielt am Schlagzeug um sein Leben; was für ein Drummer, fuck me! - und die Kreativitätsexplosionen der beiden Gitarristen Roger Stevens und Christopher Thorn, die praktisch niemals dasselbe spielen, sich hier mal annähern, bevor sie sich dort wieder voneinander distanzieren und wie zwei verliebte Schmetterlinge auf psychedelischen Drogen unbeirrt um sich herum kreisen, bilden den Rohbau ihrer Musik mit sich überdeutlich zeigenden 1970er Merkmalen aus dem Hitkoffer von Led Zeppelin oder auch ZZ Top. Trotz aller Reminiszenzen an eine musikalische Ära, mit der die Zeit, mit Verlaub, alles andere als gnädig umging, klingt "Blind Melon" auch 33 Jahre nach der Veröffentlichung so frisch, lebhaft und anziehend wie am ersten Tag, nicht zuletzt durch die gleichfalls unverfälschte Produktion von Rick Parashar, der schon Pearl Jams "Ten" betreute und das lebendige, schöpferische Moment der größtenteils live eingespielten Cuts in der Zeit einfrieren konnte. Und natürlich muss man in diesem Zusammenhang Sänger Shannon Hoon erwähnen. Der 1995 viel zu früh verstorbene Sänger aus Lafayette trägt diese Songs in den Obertönen mit seiner charakteristischen Stimme in die Ewigkeit. Was für ein Talent. Diese Leichtigkeit, dieser Instinkt. Und immer noch: was für ein Verlust. 

Ähnlich wie im Falle Candlebox und deren zweitem Album "Lucy" könnte auch bei Blind Melon die Frage diskutiert werden, ob das im Vergleich zum erfolgreichen Debut kommerziell eher enttäuschende Nachfolgealbum "Soup" aus künstlerischer Sicht das bessere Werk ist. Ich halte mich in beiden Fällen ein bisschen zwischen den Welten auf. Mehr Szenepoints ließen sich vermutlich mit "Lucy" und "Soup" machen, und es gibt auch abseits derart trivialer Ego-Wanks einige gar nicht so üble Gründe, die vermeintlichen schwarzen Schafe der Diskografie interessanter zu finden. Die Nadel schlug nun bei beiden Bands minimal zu Gunsten ihrer Debuts aus - und wenn ich damit Leben kann, könnt ihr es auch. Muss man's so oder so gehört haben und lieben? Sowieso!


Vinyl und so: Ich mach's kurz. Für die Erstpressung muss man einen Bausparvertrag auflösen, das ist inakzeptabel. Vor allem, weil der 2014 erschienene Repress von Music On Vinyl klanglich wie gewohnt eine echte Sensation ist. Wer etwas anderes behauptet, und ein Blick in den Kommentarbereich auf Discogs bestätigt es, hat Bauschaum in den Ohren. Die Leute sind wirklich alle völlig beknackt. Mit um die 30 Euro ist man dabei. Muss man eigentlich haben. Isso.


 


 Erschienen auf Capitol, 1992.  




07.12.2025

My Nineties Were Better Than Your Nineties - #171: L.S.G. - Into Deep




L.S.G. - INTO DEEP


"You have 62 people worth the amount the bottom three and a half billion people are worth. Sixty-two people! You could put them all in one bloody bus… then crash it!” (Brian Eno)


Mein Weg in die Tiefe war erstens spektakulär verspätet und zweitens eine Mischung aus Zufall und Schicksal, je nach Glaubenssystem meiner verehrten Leserinnen und Leser, denn so opportunistisch bin ich schon lange. Die Geschichte geht so: vor einigen Jahren machte ich es mir zur zwar sinnlosen, aber immerhin Aufgabe, die Punk- und Hardcoreszene meiner Heimatstadt Frankfurt am Main in den 1980er und frühen 1990er Jahren zu recherchieren - nicht zuletzt, weil ich ab Ende der Neunziger selbst Teil davon wurde und damit Proberäume bewohnte und Bühnen betrat, die bereits von Generationen vor mir für lauten Krach und Agitation besetzt wurden. Und selbstverständlich ist auch dieses Nachforschen in außerordentlich dick angerührtem Nostalgiekleister getaucht - und das Bild ist mit Bedacht gewählt, weil ich an sowas einfach immer kleben bleibe. Die Lust, der damaligen Atmosphäre in der Stadt nachzuspüren, die von ehemaligen Bandkumpels erzählten Geschichten aufzugreifen, Bands neu zu entdecken und auch persönliche Entwicklungen von beteiligten Musikern auch über Genregrenzen hinaus zu verfolgen, wird niemals keine große Anziehungskraft auf mich ausüben. Jedenfalls: wer sich mit Thrash, Punk und Hardcore zu jener Zeit in Frankfurt beschäftigen möchte, stößt früher oder später auf den mit "Frankfurt Hit Collection" etwas irritierend betitelten Sampler vom Label Alm Räcords aus dem Jahr 1989 und damit auf Bands wie Bück Dich Und Die Gichtkröten, Mähthrasher (völliger Oberkult!) und Persecuted Pharisees. Der entsprechende Kaninchenbau hierzu ist nicht so irre tief, aber ein paar Verästelungen hinsichtlich Alben, Singles, Bandmitglieder und ihren anhängenden späteren Lebenswegen lassen sich durchaus finden. Die Frankfurter Band Pullermann beispielsweise hatte mit Cybéle De Silveira eine Sängerin in ihren Reihen, zu welcher eine kleine Netzrecherche ergab, dass sie im Jahr 1999 auf dem Album "Into Deep" von Oliver Liebs langjährigem Trance-Projekt L.S.G. Vocals beisteuerte, und ganz ehrlich: was wären wir ohne Discogs?! Nun ist einerseits "Into Deep" vom Schrot-und-Korn-Punkrock Pullermanns ungefähr 3,4 Millionen Galaxien entfernt und andererseits ein hoch gehandelter Klassiker im Trance und Chill-Out Gewerbe der 90er Jahre - und darüber hinaus. Musste ich das also hören? Natürlich musste ich das hören. 

Denn wie nicht zum ersten Mal auf diesem Blog sehe ich mich zu der Einlassung provoziert, von Musik, die sich in den neunziger Jahren außerhalb des minimal erweiterten Rockzirkels abspielte, nicht mal entfernt eine ähnliche Detailtiefe im Gedächtnis herumzutragen. Und auch wenn sehr wahrscheinlich das Volumen von vor dreißig Jahren produzierter Musik nicht mit heutigen Zahlen vergleichbar ist, wurde auch schon zwischen 1990 und 1999 unfassbar viel Musik veröffentlicht. Ohne ein soziales Umfeld, das einem für eine Rückschau ein bisschen Hand und Herz führt, ist ein Abtauchen in diesen Ozean voller Klang komplett überwältigend. Und wo wir schon bei Oliver Lieb sind: der Frankfurter Produzent bespielt seit 1988 das weite Feld elektronischer Musik und hat alleine schon weit über 250 Singles und Alben unter unzähligen Band- und/oder Projektnamen im Lebenswerk verewigt. Overkill. 

Mit den in den letzten 20 Jahren gemachten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit elektronischer Musik indes habe ich heute einen völlig anderen Zugang zu "Into Deep", als ich ihn im Veröffentlichungsjahr 1999 gehabt hätte. Zumal auch eine stilistische Einordnung in den Zeitgeist der neunziger Jahre lohnenswert erscheint, als Chill Out-Rooms nicht nur zum festen Interieur der damaligen Clubkultur gehörten, sondern sich gleich ganze Genres aus diesem Ökosystem entwickelten. Trance, Chill Out, Ambient, Downbeat und alles mitten- und zwischendrin, amalgamiert in einem Lebensgefühl aus Freiheit, Hedonismus, Pioniergeist, Aufbruch und Outsider-Rebellion. Ein Mikrokosmos im Mikrokosmos. Ich wünschte heute, ich wäre dabei gewesen, mittendrin im Schweiß durchtanzter Nächte in den Frankfurter Club-Legenden Dorian Gray oder Omen, im Rausch und Flausch einer außer Rand und Band gedeihenden neuen Subkultur. Wer eine Idee davon erspüren wollte, welche Bedeutung diese Zeit für die Zeitzeugen hatte, konnte sich im mittlerweile leider gelöschten Kondolenzbuch für den im Jahr 2006 verstorbenen DJ Mark Löffel aka Mark Spoon ein eigenes Bild machen. Ich selbst war von den damals hinterlassenen Kommentaren so tief beeindruckt, dass ich nicht nur einige der dort niedergeschriebenen Passagen für den Text eines Songs meiner Band Blank When Zero verwendete, sondern mit dem Satz "Es ist so fucking leise, alles!" auch noch gleich seinen Titel fand. Weil einerseits klar war, dass es hier nicht nur um die polierte Oberfläche der Nostalgie ging, sondern andererseits um die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, den Lebenslinien, den Träumen, den Hoffnungen und unweigerlich auch mit den Enttäuschungen und Verletzungen. All das ergibt Kontext - und nichts existiert wirklich außerhalb davon. Nirgends. Für Niemanden. 

Und all das führt uns hier und heute ins Jahr 2025, führt uns zu "Into Deep" und zu einer Musik, die von Beobachtern und Zeitzeugen bis heute als Meilenstein elektronischer Musik verstanden wird; in einem Genre, das zunächst von wegweisenden und stilprägenden Compilations wie Café Del Mar und Buddha Bar nicht nur erfolgreich, sondern auch künstlerisch relevant wurde bevor später - wie es systemisch eben immer, immer, immer und immer wieder passiert - von Marketing und Werbung bis zur Selbstparodie entbeint und ausgehöhlt in den großen Ramsch-Grabbelkisten endete. "Into Deep" war kein Mainstreamhit, denn dazu war es - pun intended - zu deep. Sein Aufbau und Storytelling ungewöhnlich, überraschend und versatil, seine im Untergrund über mehrere Ebenen aufgefächerten Kompositionen verschwenderisch und komplex. Wer immer noch dem so alten wie arroganten Narrativ der Rockszene folgt, elektronische Musik sei grundlegend emotional unterfordernd, flach, oberflächlich und struktuell fürs zugekokste Partyvolk auf der Love Parade gebaut und für sonst nichts, hat niemals zugehört. Ist vom derart hohen Ross aber auch schwierig. Zugegeben. 


Vinyl und so: Nix. Ich bezweifle auch, dass sich daran jemals etwas ändern wird, aber die CD gibt's für einen Zehner.


 


Erschienen auf Superstition, 1999.