22.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 5: Theef - Sun & Smoke




THEEF - SUN & SMOKE



"I knew I wasn't making music to release it, it was more of a way to provide myself a safe space and I didn't expect anything to happen, but it looks like it did. My safe space is now out for others to join." (Eftihis aka Theef)



Ich hatte es an anderer Stelle schonmal erwähnt, dass 2024 aus musikalischer Sicht eigentlich ein sehr rockiges Jahr für mich war, und auch wenn die bisherige Bestenliste bislang nur wenige Beweise für jene These ausspuckte, hörte ich im vergangenen Jahr soviel - im weitesten Sinne - Rock wie schon lange nicht mehr. Irgendein altes und verrostetes Scharnier hatte sich wohl wieder ein bisschen gelockert. Ich hatte wieder mehr Lust auf etwas Lautes und Dreckiges, auf Ausgelassenheit und Extrovertiertheit. Ich will nicht über Gebühr mit den vermeintlichen Gründen für diese Entwicklung langweilen, aber ich hielt mich seit Juni 2024 sehr regelmäßig in unserer modrigen Gartenlaube zum Training auf und die Deadlifts gehen mir mit Krach deutlich einfacher von der Hand als mit introspektiven Ambientsounds. Dabei war ja auch nicht alles Rock, was rockte: geradliniger four to the floor Techno mit viel Drive eignet sich zum Heimtrainer-Irrsinn mindestens genauso gut. Und genau hier tanzt "Sun & Smoke" aufs Radar. 

"Sun & Smoke" ist eines jener Alben, die schon beim allerersten Kontakt einen Anker setzten, irgendwas war hier schon ab den ersten Sekunden des noch recht ätherischen Openers "Sky Textures" besonders - und um die weitere Entwicklung gleich vorwegzunehmen: es sollte noch besser, noch eindrücklicher werden. Denn "Sun And Smoke" ist nicht zuletzt für A Strangely Isolated Place-Verhältnisse außergewöhnlich lebhaft; in Sachen hypnotisierender Intensität und Dancefloor-Kompatibilität lassen sich, um im Labelkontext zu bleiben, höchstens Vergleiche mit Yagya's "Stormur" ziehen. Banger folgt auf fuckin' Banger. Mich traf das sofort ins Herz. Es macht ungeheuren Spaß, diese Platte zu hören. Bei allem Drive, bei aller Ausdauer, bei aller Tanzbarkeit liegen hier doch viel mehr Komplexität und ein profundes Verständnis von visionärem Sounddesign unter der Oberfläche. 

Dabei erschien "Sun & Smoke" schon 2019 als zweistündiges Mixtape auf Soundcloud und Youtube, wo es in Szenekreisen einigen Staub aufwirbeln konnte. Theef, ein bis dato relativ unbekannter Produzent aus Griechenland, stellte seine unveröffentlichten Tracks für das Set zusammen - und Ryan von A Strangely Isolated Place bekam Wind von der Sache. In den späten Abendstunden wurde "Sun & Smoke" zu seinem regelmäßigen musikalischen Begleiter, sodass er Theef schließlich kontaktierte und die beiden über eine Zusammenarbeit sprachen. Ryan pickte anschließend die favorisierten Tracks für eine Vinylveröffentlichung aus. Auf Bandcamp ist auch der vollständige, zwei Stunden laufende Mix verfügbar, der übrigens nicht nur beim Training, sondern auch ganz hervorragend beim Arbeiten funktioniert. Man darf mir vertrauen, ich hab's in unzähligen Excelsessions für euch getestet. Die Platte war gar so erfolgreich, dass das Label ausnahmsweise einen Repress nachschob, um die Nachfrage zu bedienen. 

File under: Wenn Jean Michel Jarre im Jahr 2024 ein Technoalbum produzieren würde.


 



Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2024. 

16.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 6: Mary Lattimore & Walt McClements - Rain On The Road




MARY LATTIMORE & WALT McCLEMENTS - RAIN ON THE ROAD


"There's a thing called accountability and you need to open up an account." (Sam Loudermilk)



Und da saß ich eines Morgens auf unserer durchgesessenen, alten Couch mit der ersten Tasse Kaffee des Tages. Es ist 8:30 Uhr. Juni. Der Frühling schwingt noch ganz leise nach, die Luft vibriert noch ein bisschen vom Wiedererwachen des Lebens nach dem Winter. Das Licht ist frühlingshell, selbst wenn es heute eigentlich kein Durchkommen gibt. Der Regen hat nachgelassen, es riecht nach Petrichor und nach nassem Holz. Die letzten vom Dach perlenden Wassertropfen fallen auf den Efeu auf der Terrasse und nach jedem leisen *ping* mischt sich der Duft von in den Händen zerriebenen Blättern in die Atmosphäre. 

Ich habe gerade "Rain On The Road" aufgelegt und es läuft der zweite, fast 13-minütige Song "The Poppies, The Wild Mustard, The Blue-Eyed Grass". Ich lese den politischen Essay von Stefan Gärtner in der aktuellen Ausgabe der Titanic, "Some Of Us: Strangers", und in die ohnehin trübe Stimmung wegen des bevorstehenden Arbeitstages vermengt sich noch die Ohnmacht über die Zustände von praktisch allem, Welt, Leben, Menschen, das ganze Scheißuniversum ist einfach fucked. 

Und da saß ich also eines Morgens auf unserer durchgesessenen Couch und baller' mir die erste Tasse heißes Agonie-Gulasch in den gierigen Schlund - und plötzlich kippt hier etwas, irgendwas im Raum scheint sich zu verändern. Mein Blick ist jetzt nicht mehr auf Gärtners Text gerichtet, sondern auf den Plattenspieler. Mein Oberkörper fällt nach hinten ins weiche Kissen. Ich höre zu. Habe das Gefühl, ich höre dabei zu, wie sich Leben anhört. Wie sich Erleben anhört. 

Mary Lattimore an der Harfe und Walt McClements am Akkordeon haben "Rain On The Road" in einem verregneten Dezember in Los Angeles aufgenommen. Geschrieben wurden die fünf Exkursionen ins Licht auf gemeinsamen Tourneen. Ihre Kompositionen entwickeln sich aus leisen, dürr verästelten Field Recordings und Tontupfern aus Lattimores Harfe und McClements Akkordeon zu magischen, hypnotischen Wellen und Mustern, die in ihren intensivsten Momenten eine bemerkenswerte erzählerische Kraft entwickeln. Viel Demut, viel Faszination - ja, viel Bewusstsein für die Wunder dieser Welt. 

Musik für Momente, die man nicht mehr vergisst.


 



Erschienen auf Thrill Jockey, 2024. 

09.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 7: Thomas Dybdahl - Teenage Astronauts




THOMAS DYBDAHL - TEENAGE ASTRONAUTS


"You called me a vagina? How dare you?" (Kurt Cobain)


Eigentlich bekommt man über die komplette halbe Stunde des neuen Albums von Thomas Dybdahl eine Gänsehaut auf den Körper tapeziert. Der norwegische Songwriter jammert, jauchzt, haucht, flüstert seine Kindheitserinnerungen direkt aus seinem Herzen heraus und ist dabei vielleicht so nah bei uns wie nie zuvor. 

Die Songs sind dabei in ihrer Anlage auf das absolute Minimum reduziert; psychedelische Experimente, wie sie beispielsweise auf "The Great Plains" zu hören waren, gehören also der Vergangenheit an. Aber was hier drum herum passiert, ist schlicht eine Meisterleistung in Sachen Arrangement und Inszenierung. Zusammen mit dem Stavanger Symphony Orchestra, das sehr subtil, aber stets wahrnehmbar die Dynamiken erkennt und sie in den richtigen Momenten verstärkt oder reduziert (beispielhaft sei auf das unten verlinkte "Graffiti Boy" verwiesen), wirft Dybdahl seine Erlebnisse auf die musikalische Leinwand und lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass hier jede Millisekunde durchgetaktet ist. Was für ein Selbstverständnis, was für ein Vertrauen in die eigene Vision und die eigenen Fähigkeiten. 

Und diese Produktion schon wieder - möglicherweise erinnert sich noch jemand an meine Worte zum fantastischen "All These Things" Album aus dem Jahr 2018, das seinerzeit mit der Begleitband von Sheryl Crow aufgenommen wurde und schon außerweltlich gut klang. "Teenage Astronauts" ist ähnlich unmittelbar, so präsent, so intim. 

Unfassbar, wie gut Musik klingen kann.




Erschienen auf Petroleum Records, 2024. 


08.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 8: Kim Gordon - The Collective




KIM GORDON - THE COLLECTIVE


"Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken." (Karl Kraus)


Ein Album wie eine Bestrafung. Eine Wand aus hartem und stumpf pumpendem Industrialnoise, mit Rissen und Kratern übersäht, dazu dumpfe Schläge gegen die Schläfen. Darunter liegen erbarmungslos stoische Trap Beats und Basslines, die an Björks "Army Of Me" erinnern, wenn sie durch einen Industriestaubsauger gejagt und anschließend von einem Irren mit Hackebeil zerstückelt wurden. Und dann kommt Kim Gordon mit ihren stream-of-consciousness Texten und dreht alle Intesitätsregler auf Kernschmelze. 

Noch nie habe ich mich beim Anhören einer Kofferpackliste so klaustrophobisch gefühlt wie im Opener "BYE BYE", andererseits hat mir auch niemand jemals eine Kofferpackliste vorgelesen. In "I'm A Man" klingt Kim wie ein betrunkener Psychopath in der Brunftzeit und singt "So what if I like the big truck? Giddy up, giddy up", und das bloße Anheben ihrer Stimme im letzten "Giddy up" jagt mir ein Gewitter durch die Großhirnrinde. Jede gesprochene und verzögerte Silbe, jede Pause, jeder Nachhall, jedes nachgehauchte "yeah" und halb verschluckte "uh", jeder noch so minimale Glitch in ihrer Stimme ist durchdachte Strategie. 

Was bemerkenswert ist, denn welches Bild und welche Assoziation schließlich bei uns allen ankommen, ist so ambivalent wie zufällig. Gordon feuert diese sowohl musikalische als auch lyrische Kakophonie aus tausend Rohren, ist manchmal verletzlich, manchmal monströs und es scheint, als ob die Deutungshoheit von genau jenem Nerv ausgeht, der gerade in mir selbst angepiekst wurde. Insofern, und hier schließt sich der Kreis zum Eingangssatz, hat Gordon den Boden mit glühenden  Legosteinen ausgelegt und schubst mich durch den dunklen Raum. 

Alle haben Spaß.


 



Erschienen auf Matador, 2024.


01.02.2025

Best Of 2024 ° Platz 9: Alex Albrecht - Allambie




ALEX ALBRECHT - ALLAMBIE


"The ideal subject of totalitarian rule is not the convinced Nazi or the convinced Communist, but people for whom the distinction between fact and fiction (i.e., the reality of experience) and the distinction between true and false (i.e., the standards of thought) no longer exist." 
(Hannah Arendt, 1951)


"Muss es eigentlich immer nur dieser Schönklang sein? Muss immer alles in dieser rosaroten Watte eingepackt sein, die die fiese Fresse dieser eiskalten, verlogenen, verdreckten Scheißwelt da draußen stopft? Wo ist denn bitte Dein Nihilismus hin? Wo ist Dein Zorn? Du furzt nur noch Deine Couch voll, Florian! Teilst Bilder von Deinen Scheißplatten im Internet und zeigst stolz Deine "Fuck Capitalism"- Tasche. Die Ironie erkennste, ne?!" 

Kinder, das kann alles sein, aber hört euch doch mal bitte "Green Shade" vom aktuellen Album von Alex Albrecht an. Oder "Minak Reserve". Und jetzt machen wir uns alle mal einen schönen Kaffee, machen das Fenster weit auf, schnurzpiep, dass es da draußen gerade schneit, ziehen entspannt einen durch und dann unterhalten wir uns nochmal über Nihilismus. Nice try, gelle?! Das geht dann nämlich gar nicht mehr. Wegen der Genetik, oder so. Klingt wissenschaftlich, muss demnach also stimmen. Gibt's bestimmt einen Podcast von zwei weißen Super-Bros drüber, die ihre Sätze mit "Ich hab ja letztens gelesen, wo war das gleich - stimmt, in der WELT!" beginnen. 

Die Wahrheit ist aber eine andere, denn Alex Albrecht bringt uns die Schönheit des australischen Dschungels ins Wohnzimmer. Oder auch aufs Gästeklo, wenn Du willst. Das ist dem Alex nämlich egal, wo Du das Licht siehst. Stellt Dich mal auf die kommenden Endgegner ein: Field Recordings von zwitschernden Vögeln, murmelnden Pflanzen (Farne! FARNE!), knarzenden Mammutbäumen, quietschendem Moos, ein in Sepia getupftes Piano, die frischkäsigsten Basslines, die hypnotischsten Tribalbeats und die Sonne auf halb acht am Abend. Ich erinnere mich an meine Kindheit und das Herumtollen mit meinen Buddies an einem Sommerabend in den späten 1980ern in einem Frankfurter Vorort, als die Luft nach Sonne schmeckte. 

Die Sache ist die: Jeder hat seine eigene Geschichte. Der in Perth geborene Produzent vertont die seine auf Alben und in DJ Sets. Meistens improvisiert er über eine vorab ausgewählte Palette von Beats, pickt sich die passende Tonart heraus und geht auf seine Reise durch die Natur. Und da gehen wir dann eben einfach mit. Unseren Nihilismus und unsere Verzweiflung tragen wir von mir aus im Rucksack mit uns herum, aber ich muss mich doch nicht die ganze Zeit anschreien lassen. 

Wenn ich Kopfweh habe, nehm' ich auch 'ne Tablette.


  


Erschienen auf Analogue Attic, 2024