29.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 6: Joachim Spieth - Terrain




JOACHIM SPIETH - TERRAIN



Schuldgefühle. Das Auslassen meiner Jahresbestenliste für das Jahr 2021 ließ einige Platten im Regen stehen, die eine detaillierte Aufarbeitung wirklich verdient gehabt hätten. Es gäbe so viel nachzuholen. Das Problem: es fehlen Energie, Kraft und Zeit. Dabei waren die Titel und ihre Platzierungen schon fertig ausgearbeitet, ausgeknobelt und unter den üblichen starken Schmerzen versiegelt. Daher weiß ich auch immer noch, dass "Ousia", das vierte Album des Produzenten und Labelgründers von Affin Joachim Spieth, meine Nummer 1 gewesen wäre. Ich habe im Jahr 2021 vermutlich keine andere Platte so oft gehört wie "Ousia", ein von aquatischen Motiven durchzogenes Album, das eine warme Klangwelle nach der anderen über den Körper spült und den Geist immer weiter in einen unendlich erscheinenden Raum entlässt. Es ist ein Erlebnis, mit "Ousia" auf Reisen zu gehen. Sollte das bis hierhin noch nicht klar geworden sein, möchte ich explizit eine Kaufempfehlung für dieses kleine Wunderwerk aussprechen. 

Nun sind wir im Jahr 2022 und ich bin hocherfreut, endlich über den Nachfolger "Terrain" schreiben zu dürfen. "Terrain" erschien Ende Oktober des letzten Jahres und fiel damit genau in jene Zeit, in der sich der Gesundheitszustand unseres Hunds Fabbi immer weiter verschlechterte, und ich für eine Weile praktisch aufhörte, Musik zu hören. Ich war emotional so ausgelaugt, so stumpf und leer, dass Stille das einzige zu sein schien, womit ich noch halbwegs umgehen konnte. Die Auseinandersetzung mit "Terrain" begann also mit einiger Verzögerung, aber es war in vielen Bereichen das Rettungsseil, mit dessen Hilfe ich mich aus diesem Loch wieder befreien konnte. Das ist auf den ersten Blick nicht selbstverständlich, denn viel Licht ist hier nicht zu finden. Ich sage das, weil ich allzu Abgründigem, Dunklem, Kaltem bekanntermaßen mit einiger Skepsis begegne und es mir oft nicht leicht fällt, einen Zugang zu solchen Sounds zu finden; noch herausfordernder wird es, wenn ich selbst seelisch angeknackst bin. 

Was die Beschäftigung mit "Terrain" indes so lohnenswert macht, ist die Wahrnehmung des Raums, den es kreiert und die Gegensätze, die aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen. Wo "Ousia" den Lebensmittelpunkt in flüssigem, bewegten Wasser fand, empfinde ich "Terrain" als erdig, zerklüftet und verwittert. In der Großaufnahme wirkt es, als würden Kontinentalplatten sich im Zeitraffer grob übereinanderschieben und sich verkanten, ausgelöst und angetrieben von einem sonoren, mächtigen Bassdröhnen, der sich wie ein endlos ausklingender Pulsschlag in der Erdatmosphäre ausbreitet. Ein bedrohliches Szenario, weil jeder Versuch der Kontrolle unter gigantischen Massiven bedeckt wird. Das Makro-Panorama, das "Terrain" in der Folge auffächert, löst diese Gefahr wieder auf und lässt im Kontext mit dieser unnachgiebigen Kraft eher ein Gefühl der Ergebenheit entstehen und entschlüsselt damit auch den nächsten Raum dieses Albums: Die Vertiefung.

"Terrain" entwickelt einen erheblichen Sog ins Innere, bis in die winzigsten Verästelungen von Raum und Zeit. Es durchdringt Materie und öffnet die Brennweite bis in unterste Schichten, vergrößert Strukturen und macht sie sichtbar. Insofern trügt der erwähnte erste Eindruck, hier sei kein Licht. Wir erleben eher ein Wechselspiel der Blickwinkel und der sich daraus ergebenen Gegensätze von Licht und Schatten. Je tiefer und kraftvoller uns die Strömung mitreißt, desto deutlicher - und heller - wird das Terrain in uns. 


Vinyl: Das beeindruckende Coverartwork von Markus Guentner unterstützt den "erdigen" Charakter von "Terrain" perfekt. Ungefütterte Innenhülle, kein Bandcamp Downloadcode. Die Pressung ist einwandfrei. (++++)

 


Erschienen auf Affin Records, 2022. 

23.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 7: Pablo Bolivar & Sensual Physics - Details Am Rande




PABLO BOLIVAR & SENSUAL PHYSICS - DETAILS AM RANDE


Das zweite Album aus dem Hause Seven Villas Music in meiner Bestenliste des Jahres 2022 kommt immerhin zur Hälfte vom Chef persönlich. Pablo Bolivar betreibt das Label in der Region Kantabrien an der Nordküste Spaniens und veröffentlicht mit beeindruckender Stilsicherheit elektronische Musik im Spannungsfeld zwischen Deep House, Ambient und Dubtechno - mal schmissiger, mal mehr laid back, aber der Vibe spannt sich über alle Veröffentlichungen von Seven Villas: warm, maritim, organisch, elegisch. 

Eine Beschreibung über Pablos Zusammenarbeit mit Sensual Physics (aka Jörg Schuster; u.a. bekannt als LUFTH und Digitalverein) auf "Details Am Rande" könnte an dieser Stelle bereits in die Zielgerade einbiegen, denn mit "warm, maritim, organisch, elegisch" wäre im Prinzip alles gesagt. Und wenn solche elektronischen Sounds auch Dein mesolimbisches System fröhlich und quietschvergnügt mit Dopamin fluten, könnte die Lektüre ebenfalls hier und jetzt abgebrochen werden, damit der Mailorder Deines Vertrauens mit dem Verpacken beginnen kann, und die Post möglichst schnell zwei Mal klingelt. Manchmal ist es wirklich so einfach. "Details Am Rande" klingt genau so. 

Die Synthie-Melodie-Pads watteweich und seidenfein, die trippigen Dub-Flächen erzeugen Raum und Tiefe und Umspielen die verästelten perkussiven Elemente spielerisch und zärtlich, der Sound ist lückenlos gefüllt mit Sonne und schwüler Hitze. Es riecht nach Orangenblüten aus Valencia und die Brise, die vom Atlantik herüberströmt, befreit Seele, Herz und Geist endgültig von jeder auch nur entfernt gräulich-schimmernden Wolke. Atmosphärisch bewegen wir uns eher in the heat of the night, aber mein über Wochen sorgfältig austariertes Testszenario ergab, dass auch das Hineingleiten in einen neuen Tag mit Morgenlatte und dazu gehörendem -kaffee bedeutend erträglicher, um nicht zu sagen: lustvoller, wird, dreht sich "Details Am Rande" auf dem Plattenteller.

Wer es nicht ganz so gut mit mir meint und außerdem mit eintätowiertem Binärcode durchs Leben geht, also zwischen Nullen und Einsen keinerlei Differenzierung und Abstufung existieren, könnte jetzt meine oftmals geäußerte Abneigung gegenüber als zu glatt und steril empfundener Musik ins Spiel bringen. Der Kniff von "Details Am Rande" liegt aber genau in dieser vermeintlichen Sorgenfalte: diese Musik pulsiert, atmet, tanzt, sie ist verführerisch, sexy und einnehmend. Ihr Substrat ist Expansion. Es ist vielleicht nicht zwingend im Erstkontakt zu begreifen, aber das Album nimmt seit Monaten jeden Lebenswinkel in Beschlag. Die Welt ist ein bisschen besser, wenn "Details Am Rande" im Dämmerlicht seine Kreise zieht. 


Vinyl: die Pressung der Doppel-LP auf schwarzem Vinyl ist fehlerfrei, das wunderbare Cover-Artwork spiegelt die Atmosphäre der gesamten Produktion wider. Leider kein Bandcamp-Downloadcode inklusive, dafür aber bereits direkt vom Label mit 40 Euro (plus Versand aus Spanien) unangenehm - ich bin versucht "unangemessen" zu schreiben - teuer. Andererseits klemmt man sich einfach den nächsten lieblos hingerotzten Universal-Majordreck für 50 Euro und schmeißt die Kohle lieber in Richtung der echten Basis. Das Album gehört auf Vinyl gehört. Klingt nach prätentiösem Scheißdreck aus der Redaktionsstube der MINT, aber ich kann das jetzt auch nicht ändern. Your call!


 



Erschienen auf Seven Villas Music, 2022.

17.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 8: Earthen Sea - Ghost Poems


EARTHEN SEA - GHOST POEMS


Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran, welcher Teufel mich ritt, Jacob Longs letztes Album als Earthen Sea "Grass And Trees" nicht in die Bestenliste des Jahres 2019 aufzunehmen, weiß aber immerhin noch, dass ich mit dem Werk anfangs tatsächlich etwas fremdelte. Long hatte seinen Sound bereits in den vorangegangenen Jahren Schritt für Schritt mehr in die Abstraktion geführt, die Dub Techno-Elemente zurückgefahren, oder besser: verschleiert, und stattdessen mit viel Raum und Tiefe experimentiert - und das kann schon mal an mir vorbeilaufen, wenn es mich auf dem falschen Fuß erwischt. Je eingehender ich mich indes mit "Grass And Trees" auseinandersetzte, desto klarer wurde mein Zugang für den überarbeiteten Ansatz. Heute würde "Grass And Trees" mit großer Sicherheit in den Top 20 landen. Das nur zur Rehabilitation - und obendrauf ein zwar ungefragter aber nichtsdestotrotz überaus lieb gemeinter Tipp, denn das ist eine tolle Platte. 

"Ghost Poems" hatte keine Probleme hinsichtlich einer länger andauernden Findungsphase, das Album brachte sofort alle Nervenbahnen zum Schwingen und das hat Gründe. Long hat seine Melodien ins Zentrum dieser Produktion gestellt; sphärische, softe Miniatur-Loops, die in der ständigen Wiederholung stets die Perspektiven wechseln können und einen hypnotischen, psychedelischen Effekt auf die Wahrnehmung haben. Irgendwann glaubt man, die Töne stehen kreiselnd im Zentrum des Raums und ziehen dort die Beats an wie ein Supermagnet. Schnipser, Kratzer, Hölzer, Wischer - alles findet seinen Weg in die Aura dieser Songs. Genau hier entsteht das Fundament von "Ghost Poems", das Spiel zwischen Isolation und Intimität, zwischen Überwärmung und Distanz. Die gleichzeitige Verschmelzung und Abtrennung von Intellekt und Intuition ist der Kern von "Ghost Poems". 

Entstanden ist das Album in New York während des ersten Covid-Lockdowns. Das Zurückgeworfen-Sein auf das eigene Selbst, die private Sphäre, die Kontemplation, ist auch drei Jahre später noch die Nährflüssigkeit, aus der "Ghost Poems" das Gefühl der Entgrenzung, der Entwurzelung zieht. Im gleichen Augenblick, und das gilt besonders aus heutiger Sicht für so viel Kunst, die in jener Zeit entstanden ist, ist das Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts, die Idee der Vereinigung immanent. Es ist in diesem Sinne auch eine Erinnerung an die Chance, uns selbst als einheitliche Entität zu erkennen, als Schicksalsgemeinschaft. Das wird dauern. Aber vielleicht ist auch der Weg das Ziel. 

Mit "Ghost Poems" auf den Ohren könnte es allerdings etwas schneller gehen. 


Vinyl: Kranky-Pressungen waren in der Vergangenheit oft ein Lotteriespiel und als ich "Ghost Poems" zum ersten Mal aus der natürlich immer noch ungefütterten Innenhülle zog, war mal wieder mit einer Niete zu rechnen: schmutzig, staubig und voller Schlieren. Aber ich sollte eines Besseren belehrt werden, denn die Pressung ist komplett einwandfrei. Keine non-fills, keine Knackser, flach, zentriert. Kein Downloadcode, aber dafür ein wunderbares Cover-Artwork. Empfehlenswert. (++++)

 


Erschienen auf Kranky, 2022. 

13.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 9: Cool Maritime - Big Earth Energy



COOL MARITME - BIG EARTH ENERGY

Das Cover kam, ich sah, und alle siegten. Ich musste nicht mal vorab in "Big Earth Energy" reinhören.

Beziehungsweise eben doch, aber - ich schwör's! - nur ganz knappe dreikommavier Sekunden und eigentlich auch nur, um sicherzustellen, nicht mit Reggae, Schrebergartenmetal oder tätowierten Karohemden-"Punk" für Bausparer zunächst über- und dann unterrascht zu werden. Über die Stilfrage hinaus musste ich mir indes keine Sorgen machen. Und ich kann meinen Leser*innen versichern, dass auch über ihren Köpfen nur die rosaroteste Wolke schweben wird, wenn diese Platte sich auf dem Plattenteller dreht. 
 
Vielleicht ist die Wolke aber auch eher grünlich (pun intended) anstatt rosarot, denn "Big Earth Energy" ist...grün. Von oben nach unten, rechts nach links, Westen nach Osten, Norden nach Süden: grün. Es klingt grün, es riecht grün, es schmeckt grün, es fühlt sich grün an. Es ist grün. Was es außerdem ist: voller Leben, voller Wärme, voller Wunder, voller Kraft und voller Bilder. 

Wir tauchen ein in einen tiefen, dichten, unberührten Urwald. Regenzeit. Über den Baumkronen räkeln sich Dunstfelder und wirken in den diffusen Sonnenstrahlen wie eine funkelnde Aura, eine Schutzschicht. Darunter tobt Leben, tausendfach, millionenfach. Eine Reizüberflutung aus Reflexen, Bewegungen, Intuitionen, Fluchtpunkten. Zur gleichen Zeit findet man in diesem tosenden Wirbel zur eigenen Mitte, spürt die Atmung, den Puls, den Herzschlag. Spürt den Boden unter den Füßen. Setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen, und entwickelt mit jedem Schritt diese fremde, mystische Welt von Neuem. Das Erleben ist unmittelbar. 

Der Kalifornier Sean Hellfritsch hat mit "Big Earth Energy" die vergegenwärtigendste Musik der letzten Jahre erfunden. Zwischen New Age und progressiver elektronischer Musik der 1980er Jahre tänzeln warme, perlende Synthie-Arpeggios wie Glühwürmchen durch die Nacht und setzen mit den lebhaften perkussiven Elementen kristalline Akzente voller Verve und Seligkeit. Darüber breitet sich ein Vibe aus, der mit melancholisch nur unzureichend beschrieben ist - es ist eher ein Innehalten, die Wahrnehmung von Zwischentönen, ein Aufsaugen, eine Verdichtung der Existenz. Eine Art universeller "What a time to be alive!"-Moment zwischen Euphorie, Demut, Empathie und Pathos. 

Das Universum sind wir. 



Vinyl: Obwohl bei der Pressung offenbar GZ Media die Griffel im Spiel hatte, ist meine grüne Vinylversion tadellos. Das Cover-Artwork, ganz besonders in Verknüpfung mit der grünen Schallplatte gehört zum Schönsten, was ich seit "A State Of Becoming" von Lav und Purl gesehen habe. Bekommt einen Ehrenplatz in der Sammlung. Gebe ich nie wieder her. (+++++)


 


Erschienen auf Western Vinyl, 2022.

11.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 10: The Beths - Expert In A Dying Field




THE BETHS - EXPERT IN A DYING FIELD


Die Beths waren DIE Entdeckung des letzten Jahres. Und vielleicht sogar noch mehr als das - ich kann mich kaum an eine andere Situation in den letzten zwanzig Jahren erinnern, bei der ich bereits beim Erstkontakt mit einer Band Feuer und Flamme war. Und for fuck's sake: das will bei mir altem und verbittertem Knallsack echt was heißen. 

Und das kam so: an einem warmen Juniabend tat ich das, was zu meinen liebsten Freizeitbeschäftigungen zählt - ich goss mir eine warme Cola ein, öffnete eine schöne Flasche Pommes und stöberte nach neuen Platten. Die obligatorischen fünfundzwanzig Browser-Tabs geöffnet, vier Warenkörbe und neun Merkzettel im Anschlag, dazu lerne ich Band-Diskografien, Label-Kataloge und Presswerklisten auswendig. Ich bin praktisch Fluglotse für Schallplatten, und ich kann damit problemlos Stunden, Tage und Wochen verbringen. Ich habe eben nach wie vor die Verdrängungsleistung eines verkackten Öltankers. 

So scrollte ich mich also gerade durch das Programm von anost.net, dem Mailorder und Sublabel von Morr Music (u.a. The Notwist und Deaf Center), generell eine exzellente Adresse für die Anschaffung experimenteller und abseitiger Musik, als ich von einem Cover beinahe magisch angezogen wurde. Es war "Future Me Hates Me" der Beths, ihr Debutalbum aus dem Jahr 2018. Ich hatte vorher noch nie von der Band gehört und meine in den frühen bis mittleren Nullern eingeübten Reflexe, wirklich jede "The"-Band zumindest mal gehört haben zu müssen, wurden in den vergangenen Jahren nun auch wirklich nicht weiter trainiert. Aus irgendeinem Grund musste ich hier nun aber unbedingt reinhören. Das Ergebnis: Es brauchte exakt bis zum ersten Chorus des Openers "Great No One", um die Platte in den Warenkorb zu legen. Das war ein Rekord. It really hit different.

Das Geheimnis, was The Beths auch auf ihrem neuen Album "Expert In A Dying Field" so außergewöhnlich macht, ist das beispiellose melodische Gespür von Songschreiberin/Sängerin/Gitarristin Elizabeth Stokes. Hier nur von einem "Händchen" zu sprechen, müsste fast als bodenlose Beleidigung gewertet werden: Stokes schreibt die Songs für die großen, kleinen, funkelnden, melancholischen Melodien in ihrem Bauch, die gleichzeitig sowohl introvertiert und beinahe schüchtern als auch voller Selbstvertrauen und Kraft sind. Und wie es scheint tut sie das am Fließband: es gibt auf den drei bislang erschienenen Studioalben keinen einzigen mediokren Moment, keine Note, die nicht in glitzernden Regenbogenfarben vibriert, keine Gesangsharmonie, die keine Gänsehautwellen über den Astralleib schickt.

Das sind Hymnen zwischen Power-Pop, Indierock und ganz zärtlich eingetreuten Punk-Elementen, wie in einem der Höhepunkte "Head In The Cloud" oder auch der Single "Knees Deep". Immer mitreißend, immer tief bewegend. Wer das Video des unten verlinkten Titeltracks anschaut und beim großen Finale mit den schönsten Gesangsharmonien der Welt, der musikalisch perfekt inszenierten aufreißenden Wolkendecke und den dazu passend feierlich arrangierten Bildern der Musiker:innen nicht vor Ergriffenheit zusammenklappt, hat ein Herz aus Stein. Dazu kommt ein wunderbar doppelbödiger Text, der auf der offensichtlichen Trägerwelle über ausgestorbene Berufe und verloren gegangene Fähigkeiten die versteckten Bilder über erkaltete Liebesbeziehungen schickt, dass sich also zwei Menschen über viele Jahre der Zweisamkeit und Partnerschaft so viel Wissen übereinander und über sich selbst angeeignet haben, das bei einer Trennung sich schlicht in Luft auflöst. 

So erfrischend echt, sympathisch, frei von jeglichen Macho-Attitüden und aufgesetzter Härte - für mentale Pullunder-Träger wie meine Wenigkeit kann's kaum besser werden. 


Vinyl: Keine Ahnung, woran das genau liegt, aber mir ist leider keine fehlerfrei Vinylpressungen ihrer Platten bekannt, und ich habe mittlerweile und immerhin: alle. Carpark scheint's mit der Qualitätskontrolle nicht ganz so eng zu sehen. Hi-Fi-Nerds müssen hier also manchmal sehr stark sein und mit Hintergrundgeraschel und einigen Knacksern leben. Alle anderen, die sich in erster Linie an der tollen Musik und der tollen Aufmachung ergötzen wollen, kommen erneut auf ihre Kosten: das aufklappbare und farbenfrohe Coverartwork mit Prägedruck sowie die Platte in...äh...Kanariengelb sind einfach sensationell gestaltet und fügen der Hörerfahrung eine ganze Menge Spaß zu. Da sind mir die paar Knackser ehrlich gesagt fast schon egal - zumal ich es wenigstens bei meinem Exemplar nicht als überdurchschnittlich störend empfinde. Insgesamt also ambivalent, aber noch knapp erträglich. (++-)

 


Bandcamp:

 


Erschienen auf Carpark, 2022.  

08.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 11: Felix Laband - The Soft White Hand




FELIX LABAND - THE SOFT WHITE HAND


Ich habe gelernt, dass "cringe" Jugendsprache ist, und da sich sowohl Körper als auch Geist von Yours Truly nicht nach Jugend, sondern eher nach einem seit 100 Jahren in der schimmligen Ecke eines feuchten Kellers in Rodgau-Jügesheim vergessenen Sacks alter Wäsche anfühlen, erlaube ich mir die Verwendung des guten deutschen Schrebergartenworts "PEINLICH", um das zu beschreiben, was gleich kommt: ein Pamphlet! Ein Pamphlet gegen...weiß ich noch nicht. Keine Ahnung. Aber wir machen das jetzt wie alle anderen Vollidioten auch: wir entwickeln das jetzt gemeinsam

Ich habe erwiesenermaßen von praktisch Nichts eine Ahnung. Ich könnte den Kanisterkopp Joe Rogan und seine Selbsteinschätzung zitieren und sagen "I'm just an idiot who occasionally remembers things." und läge damit auch für meinereiner nicht so irre falsch, wenn ich nicht mittlerweile auch immer häufiger alles vergäße...das Alter, das Leben, die Menschen, es ist einfach zum Heulen. Ich habe im Prinzip auch keine Ahnung von elektronischer Musik. Ich mag sie und ich höre sie, aber ich bin ganze Universen von irgendeiner "Szene" entfernt, habe von Geschichte und Entstehungsprozess fast keinen sitzen, bei "Clubkultur" denke ich an den bevorzugten, äh, FKK-Saunaclub oder irgendein Mate-Gesöff, das sich gegeelte Marketingfuzzis ausgedacht haben und, und das Schicksal teilt sie sich mit der guten alten Rockmusik, ich habe ganz oft keinerlei Interesse am alten Kanon, diesem Gewese von "Das MUSS man kennen!!!einself" und "Ohne diese Platte gäbe es keine [hier bitte Band, Genre, Unterhosenmarke einfügen]!". Ich lebe beispielsweise in einem Haushalt, der, und das sage ich durchaus mit einem kleinen Anflug von Stolz, frei von Beatles-, Hendrix-, Dylan- und Beach Boys-Platten ist. Ich kenne auch keine einzige Kraftwerk-LP. Es ist sicherlich nicht über Gebühr originell, den alten Hildebrandt-Spruch über die Fliegen und die Exkremente aus der Mottenkiste zu zerren, auch und vor allem dann nicht, wenn die Nirvana-Sammlung beinahe den kompletten Westflügel meines Anwesens einnimmt, aber ich finde, es ist speziell in solchen Fällen globaler Unterwürfigkeit gegenüber den heiligen Kühen immer vorteilhaft, einen angemessenen Sicherheitsabstand einzuhalten. Lassen Sie es mich auf den einzig gültigen, echten, wahren Punkt bringen: im Prinzip ist alles, was in den Top 50 Listen des Rolling Stone auftaucht, vollumfänglich und aus tiefstem Herzen abzulehnen. 

"Shush! Shush! Listen, I don't care." (Ricky Gervais)

So, und jetzt kommt's: dass da draußen immer noch dieser unsägliche, alte Scheiß gehört wird, aber einer wie Felix Laband, einer der originellsten und kreativsten Durchgeknallten, nur einer überschaubaren Gruppe bekannt zu sein scheint, ist doch ein Treppenwitz?! Und andererseits ist's eben komplett und total glasklar: wer aus der Reihe tanzt, hat keine Chance. "Das war doch schon immer so?!" (Friedrich "Fotzenfritz" Merz)

Laband veröffentlicht seit fast 25 Jahren Musik, seit 2004 gar exklusiv auf dem Münchner Label Compost, und nicht nur ist seine Kunst sehr partikular, auch nimmt er sich immer viel Zeit für ein neues Abum. Seit dem mittlerweile als kleinen Klassiker gehandelten "Dark Days Exit" aus dem Jahr 2004 erschienen bis 2022 gerade mal zwei weitere Werke des Südafrikaners. 

Ich bin hocherfreut zu berichten, dass seine Musik selbst 2022 noch immer so ambivalent, herausfordernd, träumerisch, brütend und von strahlender Ästhetik durchzogen ist wie eh und je. Möglicherweise hat er nach dem manchmal krawalligen und oftmals bedrückenden "Deaf Safari" ein paar Gänge heruntergeschaltet, was sowohl die Verwendung als auch die Inhalte von obskuren und verwirrenden Sprachsamples betrifft (auch wenn sie nach wie vor integraler Bestandteil seines Sounds sind), aber auch "The Soft White Hand" ist so erzählerisch wie visionär wie seine Vorgänger. Laband verbindet Einflüsse aus dem House, Jazz, Ambient, Downtempo und IDM mit der melodischen Aura klassischer Musik und strickt daraus etwas völlig Einzigartiges, eine spleenige Melange aus futuristischer Clubmusik und nostalgischer Poesie, zwischen naiver, unberührter Schönheit und eskalierenden Momenten großer Verletzlichkeit. Sehnsuchtsvolle Spieluhrensounds, die Kindheitserinnerungen wecken und wie ein Wundpflaster für die Verletzungen der Adoleszenz wirken, staubige Beats und jazzige Vibes für die gegenwärtige Introspektion, Reminiszenzen an verdrogte, durchgetanzte Sommernächte, an Abstürze, Momente großer Erregung, Momente des Rausches. Über all dem schweben Labands Werte, seine Gedanken, seine Politik, unausgesprochen und doch stets präsent:

“I have sampled a lot from documentaries from the 80s crack epidemic in impoverished African American communities and believe my work speaks unapologetically for the lost and marginalised, for those who are the forgotten casualties of the war on drugs. In the past, I have had my issues with substance abuse, and I know first-hand about the nightmares and fears, what it feels like to be isolated and abandoned.”


"The Soft White Hand" ist ein Gefühlswesen. 


Vinyl: Die Doppel-LP auf schwarzem Vinyl (hier gibt's keine Extravaganzen) im Gatefold-Cover kommt mit Labands Signature-Collagen Artwork mit Downloadcode, und die Pressung ist vollkommen fehlerfrei. Uneingeschränkte Empfehlung. (+++++) 


 


Erschienen auf Compost Records, 2022. 

01.04.2023

Best Of 2022 ° Platz 12: Strië & Scanner - Struktura Revisited




STRIE & SCANNER - STRUKTURA REVISITED


Alles auf Anfang. Wir lassen den Plüsch hinter uns, das Seifige, den Weichzeichner. Es wird kalt. Denn Kälte macht wach, sagt man. Wir sind aufmerksam und hochkonzentriert. 

Eintauchen.

Es ist karg und unwirtlich hier. Was sich im Weitwinkel als diffus zerklüftete Struktur darstellt, in großer Ferne und damit beinahe unerreichbar, entwickelt sich beim Blick durch das Elektronenmikroskop plötzlich zu einem komplexen Muster mit diffiziler Mechanik. Selbst der Weg dorthin, also jeder Schritt der Verdichtung und Fokussierung, verändert das Gebilde. Es lebt. Es lebt in den tieferen Schichten, auf molekularer Ebene. Im Land der Riesen ist es gleichbedeutend mit dem Zwielicht, dem Verborgenen und Unbekannten - aber welche Arroganz ist es, dieser usprünglichsten und klarsten Form der Existenz den Zweifel des Obskuren zu verleihen? 

Es ist kathartisch, Teil dieses Nanokosmos zu werden, weil die Vertiefung jeden Raum, jede Zeit und jedes Leben zum Erlischen zwingt. Man spürt, das ist die Stunde Null. Der Autor Roger Willemsen schrieb in seinem Buch "Die Enden der Welt" über ebenjene, dass sie sich anfühlten, als betrachte man die Landschaft nicht frontal, sondern eher über die Rückseite einer Landschaftsstickerei. "Struktura Revisited" vermittelt ein ähnliches Empfinden, nur dass der Blick auf einen winzigen Partikel eines einzelnen Fadens dieser Stickerei fokussiert ist. Das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein, ist allerhöchstens noch zu einer Ahnung geschrumpft - und doch ist die Erfahrung existenziell. Als höre man dem Urknall in Zeitlupe zu.

Olga Wojciechowska veröffentlichte "Struktura" im Jahr 2015 unter ihrem Alias Strië auf dem Label Serein in kleiner Auflage exklusiv auf CD. "Struktura" wurde inspiriert von moderner Malerei des 20.Jahrhunderts; so teilt jeder Track seinen Namen mit einem abstrakten Kunstwerk aus jener Epoche. Strië möchte es dem Hörer erlauben, die Musik frei von jedem begleitenden Narrativ zu erfahren, selbstständig zu entdecken und zu interpretieren. 

"There is pleasure to be found in viewing or hearing something without a definite narrative, allowing the mind to wander and find its own meaning."

Ryan von A Strangely Isolated Place hat für "Stuktura Revisited" nun Strië und Scanner an einen Tisch gebracht. Scanner ist der Alias von Robin Rimbaud, einem Londoner Produzenten und Multimediakünstler, der seit den 1990er Jahren für einige Meilensteine der elektronischen Musik gesorgt hat. Scanner interpretiert "Struktura" für dieses Projekt an einem Stück im Rahmen eines Live-Settings ohne nachträglich hinzugefügte Overdubs. Der Ansatz verleiht seiner Aufnahme einen unmittelbaren Charakter. Nicht nur erlaubt er neue Perspektiven auf "Struktura", in dem er dessen endlos erscheinende Tiefe auffächert und kinematographisch verbreitert - er fügt der ohnehin bereits beträchtlichen Abstraktion des Originals klandestine, bisweilen dystopische Ebenen hinzu. "Struktura Revisited" flechtet mit seiner Exegese damit ein unheilvolleres, zu gleichen Teilen morbideres wie nervöseres Bild. 

Nach der Struktur kommt die Unordnung. 


Vinyl: Neben der Musik von Strie und Scanner ist das atemberaubende Coverartwork des niederländischen Künstlers Rep Ringel eine  fundamentale Komponente des Gesamtwerks. Rep kreierte seine Kunst zunächst auf sehr großen Leinwänden. Im Laufe der Zeit begann er damit, die Bilder für ein Artbook zu fotografieren, das er exklusiv an seine Kunden verteilte, die eines seiner Werke kauften. In diesem Prozess fiel ihm auf, wie viele neue Perspektiven sich eröffnen, wenn er sehr weit in seine Bilder hineinfokussiert. Eines der Ergebnisse sehen wir auf dem Cover von "Struktura Revisited" und ich hoffe inständig, die Parallelen zwischen der Musik und dem Artwork im obigen Text wenigstens in Ansätzen erfolgreich herausgearbeitet zu haben. Die Platten selbst sind in ihrer grau-schwarzen "Halb und Halb"-Optik ein wichtiger Teil des konzeptionellen Designs. Die Pressung meines Exemplars ist trotz der etwas anfälligen Gestaltung einwandfrei. Darüber hinaus, und wie immer bei ASIP: gefütterte Inlays, Bandcamp-Downloadcode, Album-Flyer. (+++++)


 


Erschienen auf A Strangely Isolated Place, 2022.