KEITH JARRETT - RADIANCE
"Wenn ich inspiriert werden will, höre ich Karl Dall." (M.Hanuschke)
Er kommt aus dem vielzitierten Nichts und tastet, manchmal springt und hoppst er, prescht ungebremst voran, in eine Nebelbank, in der nur er sich auskennt. Ist da tatsächlich immer die Geschichte als solche im Hintergrund, die Noten abgespeichert wie auf der leistungsstärksten Festplatte der Welt, atemberaubende Zugriffszeiten und flexibel wie ein Gymnastikband? Oder ist das alles nur Gerede, ein Mythos, Scharlatanerie gar?
"Radiance" ist reich. Es hat manchmal den Anschein, als sei Jarrett gar nicht alleine auf der Bühne in seinen stream-of-consciousness verstrickt, als seien hier mindestens drei weitere Flügel an Bord, die ihn unterstützen - und auch wenn das definitiv nicht der Fall ist - auf eine gewisse Weise ist das ja trotzdem richtig. Denn wenn er sie schon nicht auf der Bühne hat, hat er sie ganz bestimmt im Kopf. Er türmt Schichten und Patterns auf- und übereinander, gräbt sich unterirdische Tunnel, die früher oder später zu Fluchtwegen umgebaut werden können, verästelt Strukturen und Oberflächen zu großformatigen, abstrakten Bildern auf einer Notenleinwand, die nur er im Oberstübchen mit Leben füllt. Mich würde in diesem Zusammenhang ja mal interessieren, was neben dem, was sich dann letzten Endes den Weg in die Finger bahnt, so alles links und rechts abseits des Wegen von ebenjenem hinunterfällt, in die Tiefe des Jarrett'schen Nichts. Wenn schon das, was er uns hier vorzaubert, innerhalb von Sekunden und Augenblicken veraltet und irrelevant geworden ist - was passiert dann erst mit der Energie, die er aufwendet, um sich zu dem eigentlichen Ergebnis vor zu schieben, sich überhaupt zu bewegen?
Denn eines ist sonnenklar: "Radiance" zeigt das abgeschlossene System Jarrett, und Energie kann nicht vernichtet werden. Was in der Folge aber auch bedeutet, dass hier nichts ohne den Tod der Töne entsteht, ohne seinen Tod. Ohne Rauch kein Feuer, ohne Verlust kein Gewinn, ohne Scheitern kein Triumph. Ja, die Sache mit dem Scheitern. "Sie denken zu viel." hat er einem Zeit-Redakteur mal an den Kopf geschmissen, nur um danach auszuführen, wie groß der Einfluss von Konzertsälen oder den Zuhörern auf die Musik sein kann und wie man außerdem einen Konzertsaal mittels der Kraft der Töne aus Deutschland nach Italien überführen könne. Also ein strahlendes Beispiel tadellos vorgetragener Emotionen.
Aber: Ohne Chaos keine Improvisation, erstrecht nicht von Keith Jarrett. "Was abstrakt klingt, gehört zum verbindenden Gewebe" hat er einmal gesagt und auf "Radiance" hört man ziemlich viel verbindendes Gewebe. Es gibt große Momente, in denen mir selbst beim Zuhören fast schwindelig wird (ich meine das übrigens so, wie es da steht), und dabei ist es überraschenderweise egal, ob Jarrett gerade seine Hände Amok spielen lässt, oder ob er eine der wunderbaren Balladen anstimmt, die eine Tiefe, Anmut und Eloquenz versprühen, dass mir spontan kein Vergleich einfallen mag.
Ich kann "Radiance" beileibe nicht zu jeder Tag- und Nachtzeit hören, aber ich lege es vornehmlich dann auf, wenn ich ruhige, weiche Musik hören möchte - dabei ist das Album in weiten Teilen weder ruhig noch weich. Was Jarrett jedoch für mich auf diesem über zweistündigen Trip repräsentiert, ist der Mann am Klavier, weder einsam noch deprimiert, sondern höchst emotional und hellwach an einem Entwurf arbeitet und dafür sein Innerstes, seine Freude und Euphorie, als auch seine Furcht und seine Zweifel in die Hände gleiten lässt. Jarrett ist somit bei aller Stärke und vor allem bei aller Kompromisslogkeit verwundbar, er ist zahm, er ist anschmiegsam. Ich denke das ist es, woher ich den Eindruck erhalte, "Radiance" sei bestens für den Soundtrack für das eigene Zurückziehen geeignet. Vielleicht lernt man ja was fürs eigene Leben.
Erschienen auf ECM, 2005.