23.12.2008

Zweitausendacht in Musik

Long time no read, irgendwie. Lasst uns das mal schnell ändern...

Es wird Zeit, das vergangene Musikjahr Revue passieren zu lassen und wie schon  Zweitausendsieben werde ich es mir auch dieses Mal nicht nehmen lassen, die Kings der Kings gebührend zu feiern. Ja, zu feiern. Ausdrücklich.

Ich las kürzlich ein Interview mit dem Publizisten Roger Willemsen, der auf die Frage, warum er seine Arbeit nicht mehr als journalistisch empfände, und weshalb er seit einiger Zeit darüber hinaus sämtliche Zeitungsartikel absage antwortete, "weil Leidenschaftslosigkeit heute als Inbegriff der Professionalität gewertet wird." In so fern bin ich schrecklich unprofessionell.

Es war wohl der Alltag, der mich im beinahe abgelaufenen Jahr daran hinderte, mehr Leidenschaft als ebenjene zu entwickeln, die mir so oder so innewohnt, und ich frage mich immer wieder: ist das ausreichend? Muss da nicht mehr gehen? So wie, man traut sich ja fast nicht es aus zu sprechen, f...früher?

Wenn ich mir die zwanzig Alben so anschaue, die hier in den nächsten Wochen vorgestellt werden, sehe ich indes keinen Grund, die Stirn in Falten zu legen. Ganz im Gegenteil: Zweitausendacht war das beste Jahr seit Zweitausendsieben und es wäre ein Leichtes, hier gar dreißig oder mehr Werke auf zu listen. Sie alle hätten es verdient gehabt, erwähnt zu werden. Bei meiner gegenwärtigen Schreibfrequenz stehen wir damit dann 
aber noch im Mai Zweitausendzehn gerade mal bei Rang Sieben.

Kurz gesagt: solange es noch der Fall ist, dass die fortwährende Suche nach neuer Musik so spannend und erhellend bleibt, ist alles mehr als nur gut. 

Ich wünsche jetzt schon viel Spaß beim Lesen und Entdecken und außerdem selbstverständlich: schöne Weihnachten und erholsame Tage!

23.11.2008

Zeitenwende



Dass das fünfte Album Donald Byrds als Bandleader bis heute als eine seiner besten Arbeiten gilt, verdankt "Free Form" drei fundamentalen Aspekten. Erstens: hier arbeitete das ehemalige Mitglied von Art Blakeys The Jazz Messengers mit dem damals noch jungen Herbie Hancock zusammen, und war damit einer der ersten etablierten Musiker, der den Pianisten in sein Line-Up integrierte. Zweitens: aus dem "Free Form"-Zusammentreffen des in früheren Jahren ebenfalls den Jazz Messengers zugehörigen Saxofonisten Wayne Shorter mit ebenjenem Hancock, entwickelte sich später nicht nur eine dicke Freundschaft zwischen den beiden Musikern, sondern Mitte/Ende der sechziger Jahre die gemeinsame Mitgliedschaft in der allenthalben als beste Inkarnation der Miles Davis Band bezeichneten Truppe um den Startrompeter. Und drittens: der Titeltrack.

Dabei ist "Free Form" aus meiner Sicht musikalisch und als Album gesehen im Grunde lediglich Blue Note Standardprogramm. Byrd begann sich ganz leicht in Richtung des zu jener Zeit langsam in Schwung kommenden modalen Jazz zu entwickeln, war aber über weite Strecken noch tief im Hard Bop verwurzelt. Nach dem gospel-beeinflussten Opener "Pentecostal Feelin'", das insbesondere durch das swingende Drumming von Billy Higgins seinen Charme erhält, und wie eine Coverversion eines Lee Morgan-Hits erscheint, der guten Hancock-Ballade "Night Flower" und dem nicht besonders beeindruckenden "Nai Nai", setzt "Free Form" mit "French Spice" ein erstes ernsthaftes Ausrufezeichen. Das Stück, von Byrd ursprünglich für eine Gruppe Revuetänzerinnen aus Chigaco geschrieben, nimmt nach dem einleitenden Thema speziell durch Shorters lyrisches Solospiel an Fahrt auf und bleibt über die gesamte Länge von acht Minuten fesselnd und sehr variantenreich. "French Spice" ist somit der Anheizer für den Höhepunkt der Platte: "Free Form" ist untrügliches Zeichen für Byrds Experimentierwillen, für seinen ständig fließenenden "Train Of Thoughts"-Gedanken. Hancock wird folgendermaßen zitiert:"His (Byrds) mind is too quick and his curiosity too active for him to get caught in any single groove.". Schon der Einstieg mit einem Basslauf von Butch Warren, den eine Alternativeband wie Tool 35 Jahre später auf einem ihrer Alben hätte verwenden können, lässt die Synapsen seilspringen. "Free Form" ist indes kein Free Jazz; es klingt verschoben, aus den Angeln gehoben, windschief. Die Erklärung dafür liefert der Trompeter selbst:"The tune has no relation to the tempo. I mean that nobody played in the tempo Billy maintains, and we didn't even use it to bring in the melody. Billys (Higgins) work is just there as a percussive factor, but it's not present as a mark of the time. There is no time in the usual sense, so far as the soloists are concerned." Was eine echte Herausforderung für die Musiker darstellt, schenkt dem Hörer zehn Minuten an großartiger, intensiver und freier Jazzimprovisation.

"Free Form" von Donald Byrd ist im Jahre 1961 auf Blue Note Records erschienen.




15.11.2008

Die Mitte Bin Ich




Wenn sich das Wohnzimmerlicht von alleine dimmt, die gehäkelte Tischdecke von Mutti die Duftkerze anschwitzt, und der Hund im Steppdeckenbademantel gigolohaft am Cuba Libre nagt, dann spricht der Musiklaberer von gestern morgen vom Begriff des "Autorentechno". Nicht ganz so lieb gemeint darf man es auch "Wohnzimmertralalala" nennen, oder Couchfunk (sprich: Kautschfank). Auf einem fernen Planeten Erde läuft dann Trentemöllers Schnarchsack "The Last Resort" auf Junge Union-Arschmassagenparties im Hintergrund, und "Nina, 22" überlegt angestrengt, wie man mit "22"(Spiegel) schon derart infernalisch "vernagelt" (G.Polt) sein kann.

James Holdens Soundtrack zur Party der Vollochsen setzt sich in die Beobachterposition clever in die hinterste Reihe, denn da hat er praktisch Narrenfreiheit und muss seine Hände auch nicht auf die Bettdecke legen. Da kann er mit Melodien spielen, mit Noise, mit Ambient, mit einem gefühlten Spritzer Kautschfunk, und er bleibt gleichzeitig Freak.

Wenn hier weder der Club, noch die heimische Toilette gefragt wird, sich der Flaschenhals gleich mehrfach windet, und ich nicht mehr wirklich auseinanderhalten kann, ob ich den hier frisierten Technopops insgesamt eher so geil oder vielleicht doch eher so CDU finde, dann rotiert's im Gebälk. Ehrlich, das hat schon alles die Ästhetik von nutellaverschmierten Effektreglern, von Earl Grey-Zahnbelag und Pipi im Bademantel. Allein letzteres wäre Grund genug, die Platte in Frischkäse zu tauchen und herzhaft zu zu beißen; der hüpfende Strich ist indes: Holden will mit dem Kram niemandem gefallen, dem Nutella im Bademantel gefällt. Der macht das nicht, um den Adam Green-Spacken den Ohrensessel zu lackieren. Und das Schöne ist: man hört's auch noch! Ich kann es zugegebenermaßen nicht zu oft hören, weil die Idiotenrallye genauso herausfordernd/anstrengend wie einlullend/nussplibratzig ist, und das ewige Hin- und Hergereiße macht mich total wuschig.

Insgesamt Musik zum Headbangen und Biertrinken!


"The Idiots Are Winning" ist im Jahre 2006 auf Border Community Records erschienen.


...und hat außerdem ein total schönes Coverartwork von Gregory Dourde.


09.11.2008

Haunted By Time, My Enemy



ENCHANT - BREAK


Ich habe neulich übrigens alle meine Dream Theater-Platten verkauft. Okay, alle bis auf die ersten drei Scheiben. Nicht, dass ich auf die Idee käme, sie mir künftig nochmal an zu hören, aber irgendwie halten mich die Erinnerungen an diese Musik und an die Zeit, in der sie entstanden ist doch fester im Griff, als ich es mir selbst eingestehen möchte.

Seltsam, dass mich meine seit locker 8 Jahren eigentlich ad acta gelegte Progressive Rock-Phase jeden Herbst auf's Neue einholt, und ich mich durch diese Mittneunziger-Neo-Prog-Soße aus dem Hause Inside Out hören muss. Dieses Jahr hat es mich mich mit den US-Amerikanern von Enchant gepackt; ihr viertes Album "Break" ließ mich schon bei dessen Erstveröffentlichung 1998 durchaus geplättet zurück. In den folgenden Jahren verlor ich die Band aber völlig aus den Augen, und ich konnte mich nur noch an diesen überirdischen Song "My Enemy" erinnern, der vor zehn Jahren fester Bestandteil eines jeden Mixtapes für das Auto war.

Durch einen Zufall hörte ich vor wenigen Wochen wieder einige Songs aus der Platte und ich war umgehend wieder angefixt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Tatsächlich: nach neuerlicher intensiver Beschäftigung mit "Break" bleibt mir nichts anderes übrig, als das große "Weltklasse!"-Schild heraus zu holen. Zumindest, wenn wir über die erste Albumhälfte sprechen, auch wenn die zweite Hälfte nur Nuancen schwächer ist. Ich weiß allerdings auch heute noch nicht genau, was es ist, was ausgerechnet diese Platte so besonders macht. Ist es die gemütliche Wärme, die wohlige Melancholie, der Spalt zwischen sehr harmonischen Momenten einerseits und härteren, manchmal gar alternative-rockigen Gitarrenriffs andererseits, die stimmungsvolle und ruhige Produktion, der strahlende und überaus angenehme Gesang von Ted Leonard, der erfreulicherweise ohne das sonst typische Prog-Quieken auskommt, oder sind es die großartigen, melodisch vielschichtigen Kompositionen, die mit großer Leichtigkeit auf den Boden gebracht wurden?

Alles und nichts von alledem. Enchant kommen schlicht ohne schmockige Mucker-Eiterpickel aus und konzentrieren sich stattdessen auf weitgehend kitsch- und klischeefreie, dafür überraschend tiefsinnige Rockmusik, die weder eine aufgeblasene Muskelschau, noch einen übertriebenen Anspruch benötigt. Eine ganz, ganz feine Platte mit überragenden Songs.





Erschienen auf Inside Out Records, 1998.


18.10.2008

Holidays In Eden

Ich sperre den Laden für die nächsten zwei Wochen mal schön zu und verabschiede mich in den wohlverdienten Urlaub. 

Damit es euch nicht ganz so fad wird, guckt ihr euch bitte in den kommenden Tagen dieses wunderbare Video an und feiert den dazugehörigen Song ebenso enthusiastisch ab wie meine Wenigkeit.  Danke im Voraus und bis bald!




10.10.2008

Fresh Cut Flowers



Eine wilde, fast vierzigminütige Improvisation eröffnet "In Order To Survive", das mittlerweile schon legendäre Album des New Yorker Bassisten William Parker. "Testimony Of No Future" ist Parkers musikalisches Heilmittel für all jene, deren Hoffnung und Glaube an sich selbst vom Elternhaus, der Kirche, der Schule und den Massenmedien geraubt wurde. Eine Erfahrung, die auch ihm in den Knochen steckt: als 1964 ein Berufsberater zu Parkers Schulklasse spricht und den Jungen ihre Perspektivlosigkeit geradewegs ins Gesicht schlägt. Von ihm lernt Parker, dass er sich schon mal auf ein Leben als Hausmeister oder Bürobote einstellen darf. At twelve I was told that I had no future. Aber durch dieses Erlebnis lernt William Parker auch, dass es einen Weg gibt, die Hoffnungslosigkeit zu einem brennendem Feuer voller Mut wieder zu beleben: durch Kunst, Liebe und Leben.

Heute ist Parker einer der umtriebigsten Musiker der New Yorker Jazzszene. Er spielte zusammen mit Stars wie Cecil Taylor, Don Cherry, Charles Gaye, Rashied Ali, Sunny Murray oder Bill Dixon und gilt als einer der lautesten Jazzbassisten der Welt. Seine Fähigkeit als unerbittlicher Antreiber, eine Band immer wieder ein Stück mehr nach vorne zu pushen, führt im Verlauf einer Session immer zu einem ähnlichen Ergebnis: Parker ist der Fixpunkt seiner Ensembles, er ist der niemals ruhende Wirbelsturm, der - paradox genug - das Set stützt und dirigiert. Sein Zusammenspiel auf "In Order To Survive" mit Drummer Denis Charles und ganz besonders mit dem Pianisten Cooper-Moore ist ebenso liebevoll und detailreich wie ungestüm und leidenschaftlich. Wie dieses Trio immer wieder die Themen weiterentwickelt und auf ein nächstes Level springen lässt, wie sie miteinander kommunizieren und diese pulsierende Session zu einem Universalübersetzer für ihren Glauben und ihren Geist formen, ist schlicht sensationell. Hier ist soviel verborgen und doch glasklar sichtbar.

Parkers weitere Mitstreiter auf dieser Aufnahme ist der Saxofonist Rob Brown, ein ungestümer Bursche des Free Jazz, über den die New Yorker Szenezeitschrift Village Voice einmal schrieb "...he not only deciphers puzzles, he creates them.". Er ist gemeinsam mit dem Trompeter Lewis Barnes der vordergründig auffälligste Spieler der Brasssection. Aber es gibt da noch einen weiteren Mann, den man auf das erste Ohr möglicherweise gar nicht richtig wahrnimmt; einen, der bereits in diesem Blog Erwähnung fand: Grachan Moncur III. Er unterstreicht auf dieser Aufnahme sowohl seine Ausnahmestellung innerhalb der Jazzszene, als auch seine völlig kompromisslose Eigenständigkeit. Während der Improvisationen taucht er hier und da mit kurzen Einsätzen auf, folgt den Melodiebögen, wiederholt und variiert sie und steht plötzlich mit einem Solo im Raum, das einem die Kinnlade auf den Asphalt krachen lässt (für Interessierte: "Testimony Of No Future", ca. ab Minute 23). What a beautiful freak.

"In Order To Survive" entfaltet vor allem unter dem Kopfhörer seine volle Magie; wenn man diesem Sextett in aller Ruhe folgen kann. Dennoch passiert innerhalb der über siebzigminütigen Aufnahme vor allem auf sämtlichen verfügbaren Metaebenen soviel, dass man die Informationsflut kaum verarbeiten kann. Davon ab: von Ruhe kann im Zusammenhang mit dieser aufgewühlten und aufwühlenden Musik sowieso keine Rede sein; erstrecht nicht, wenn einen diese im Booklet abgedruckten Worte überfallen:


In Order to Survive



When was it said that roses tire
From being beautiful
And sink into the desert sun
In order to survive they call for
A revolution of resonance
A promise of a new day
conjuring building
A dance step is created
In order to survive I rub two raindrops
I rub two raindrops together
to make fire
As I sit near the laughing pond
listening to the testimony of a tear



"Was wir machen, ist heilige heilende Musik, und die Menschen, die sie brauchen, finden sie auch."(William Parker)

Lasst euch finden.



"In Order To Survive" von William Parker ist im Jahre 1995 auf Black Saint erschienen.

Für weitere Informationen zu William Parker und dessen Umfeld ist dieser Forumsbeitrag von Freund eigenheim sicher nicht uninteressant.

03.10.2008

Der Jungbrunnen



Es gibt Platten, deren Spielfreude und Drive schon nach den ersten Sekunden derart mitreißen, dass das Funkeln in den Augen über die gesamte Spieldauer nicht erlischt. Kenny Dorhams "Afro-Cuban" aus dem Jahr 1955 ist eine solche Platte. Schon nach den ersten Takten des Openers "Afrodisia" ist klar: hier bleibt niemand ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Mir ist bisher kein weiteres Jazzalbum untergekommen, dessen Groove und Swing so erbarmungslos jeden Muskel des Körpers förmlich attackiert.

In erster Linie liegt das an dem Percussionisten Carlos "Patato" Valdes, der seine Congas mit einer glühenden Wucht und Intensität bearbeitet, die alle anderen Musiker dieser Session mit in Brand setzt: Hank Mobley am Tenorsaxofon, der mit seinem bluesig-souligen Spiel ebenso begeistert wie Cecila Payne am Bariton, J.J.Johnson an der Posaune oder Art Blakey am schlagzeug. Dorhams hochmelodisches, dezent im Conga-Beat mitfließendes Spiel setzt zusammen mit der ausgezeichneten Brass-Section nicht nur harmonische Farbtupfer, sondern nimmt ebenso eine musikalische Entwicklung vorweg, die sich erst in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren mit dem Salsa-Movement und dem Durchbruch lateinamerikanischer Musik in New York oder Miami manifestierte. Das muntere Spiel von Horace Silver am Piano und eine sich in schwindelnde Höhen groovende Rhythm-Section (mit Oscar Pettiford am Bass) machen diese Aufnahme zu einem der ersten Alben, die den positiven, lebhaften und unbeschwerten "Afro-Cuban"-Vibe mit Mainstream-Jazz aus dieser Epoche verbindet und auch 53 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch taufrisch und völlig zeitlos klingt.

Selbst die Titel "K.D.'s Motion", "La Villa" und "Venita's Dance", die mit abgespecktem und leicht verändertem Line-Up (ohne Valdes und Pettiford; ihn ersetzt Percy Heath am Bass) eingespielt wurden swingen nicht zuletzt durch die Arbeit Art Blakeys immer noch wunderbar und erfrischend, sodass "Afro-Cuban" ohne Längen bleibt, dafür aber durchgängig die Glückshormone sprießen lässt.


"Afro-Cuban" von Kenny Dorham ist im Jahre 1955 auf BlueNote Records erschienen.

27.09.2008

What Are You Made For?



Zugegeben, "Sufferboy" hatte es nicht leicht. Was als Rockprojekt der Berliner Fullbliss-Belegschaft um David Judson Clemmons begann und sogar mit einigen Gigs in Berlin bedacht wurde, entwickelte sich mit der Zeit zu einem Comeback, an das so mancher nicht mehr glauben wollte: JUD wollten es also tatsächlich nochmal wissen und kündigten Ende des letzten Jahres eine neue Platte an. Aufgenommen in der Besetzung, die bereits an den Arbeiten am Fullbliss-Oevre beteiligt war. Das überraschte wenig, da Clemmons' Headquarter in Berlin einerseits eine Spur zu weit entfernt war, um mit den ehemaligen Mitgliedern Steve Cordrey (Bass) und Hoss Wright (Drums) nochmal gemeinsame Sache zu machen, und andererseits bewiesen Jan Hampicke und James Schmidt (der sowieso schon das fantastische 98er Jud-Album "Chasing Califonia" eintrommelte) in mehreren Livegigs, dass sie die legendäre Intensität und die unbändige Kraft des Trios bestens fortführen können.

Zugegeben, "Sufferboy" hatte es nicht leicht. Weil die Alben "The Perfect Life" (2001) und das bereits erwähnte "Chasing California" über die Jahre hinweg zu mehr als nur zwei guten Freunden wurden und es mittlerweile geradezu undenkbar ist, ohne diese beiden Meisterwerke des verschrammelten Indierocks zu existieren, war neben all der Freude über die Wiederkehr auch Skepsis ein ständiger Begleiter. Hält "Sufferboy" wirklich das Niveau der Vorgänger? Die Frage war ja auch: mag ich das eigentlich wirklich noch hören? Und vor dieser Antwort hatte ich ehrlich gesagt weitaus mehr Angst. Als die Band das neue Stück "Drained" als Vorgschmack auf ihrer Homepage präsentierte, wurde ich indes wieder etwas ruhiger. Alles in Butter.

Zugegeben, "Sufferboy" macht es einem nicht leicht. Was Clemmons in einem Interview als "Fucking Mental Torture" beschreibt, sind wahrlich die wütendsten und härtesten Songs, die es wohl jemals von Jud zu hören gab. Alleine das Eröffnungsduo "Bright White Light" und "Drained" prasselt wie eine LKW-Ladung Bleikugeln auf einen nieder und auch "Asylum" (mit tonnenschwerem Doomriff) oder "Satisfy" sind Kaliber, mit denen man nicht unbedingt rechnen konnte. Auch Clemmons' Stimme passt sich dieser Ausrichtung an; er klingt in manchen Momenten derart zerstörerisch und aggressiv, dass ich mich durchaus frage, aus welchem Körperteil GENAU er sich diese Töne herauskratzt. Auf der anderen Seite stehen mit "Universal" oder "The Maggots" Songs auf dem Programm, die - entsprechend arrangiert - auch auf einem Fullbliss-Album stehen könnten. Apropos: das auf dem letzten Album "Yes Sir" befindliche "The Cowboy Song" gibt es auf "Sufferboy" in der breitbeinig rumstehen & lässig aussehen-Version und ist für mich das klare Highlight dieser Platte.

Zugegeben, "Sufferboy" macht es einem nicht leicht. Auf den ersten Blick (wohl auch aufgrund der Härte) ungewohnt sperrig und zerfahren, entwickelt sich das Album erst nach einigen Durchläufen zu einem wahren Koloss. Und wenn man erstmal durch die in typischer Clemmons-Manier angeschrägten und vor allem zeitgemäßen Riffmonster gegraben hat, die sich die drei Herren hier aus dem Ärmel schütteln, dann merkt man zum wiederholten Male, wie kriminell eigenständig diese Band eigentlich ist. Und hat damit wohl auch die Antwort auf die Frage gefunden, warum die Buben nicht schon längst drei, vier Stufen auf der Karriereleiter genommen haben. Ich für meinen Teil hätte gar nichts dagegen, wenn demnächst größere Hallen gebucht werden müssten...und "Sufferboy" könnte es ihnen eigentlich ganz leicht machen.



"Sufferboy" von JUD ist im August 2008 auf Noisolution erschienen.

21.09.2008

[zensiert]



Wenn du völlig übernächtigt, mit einer überdimensonalen Unlust gesegnet, geradewegs elf Stunden auf einer staubig-verdreckten Fläche Welt stehst; wenn dieser September so kalt und ungemütlich ist, dass die November-Depression schon zwei Monate zu früh unter die Bettdecke kriecht; wenn deine Knochen und deine Muskeln, ach was: jede verdammte Faser, jede Zelle deines Körpers dir von innen in dein Gesicht brüllt, dass alles, was du jetzt noch willst ein Bad in heißem, mit "wertvoller Mandelmilch veredeltem" Wasser ist, damit du nach einer gefühlten Ewigkeit mal wieder eine Hauch von dem spürst, was dir jedes Medienarschloch als "Entspannung" vor die Füße rotzt; wenn du dich in einer solchen Stunde nicht von einem sozial und physisch verwahrlosten Singer/Songwriter-Trauermops vollspeien lassen willst und darüber hinaus sowieso der Meinung bist, dass die furchtbar revolutionäre künstlerische Innovation in Form von Ergänzung klassischer Komponenten in moderne Rock-/Pop-/Tanz-Musik der allerallerallergrößte Irrwegscheiß ist, der deinem Sinn für Ästhetik seit Äonen zugemutet wurde, dann ist "Genesis" von Hiroshi Watanabe eine Platte, die dir in bestimmten Lebensmomenten so gut tut wie "fingerdick Nutella auf frischem Kastenweißbrot" (J.Schliemann).

Watanabes ausufernder, warmer und pompöser Ambient Techno-Sound ist durch und durch so harmonisch, dass er dir für Stunden die Seele massieren könnte, ohne dabei zu glatt, zu kitschig oder selbstverliebt zu sein: "Genesis" pusht und treibt, es hält dich auf eine wunderbar angenehme Art und Weise am Atmen, auch wenn um dich herum der dicke Staub des Wahnsinns schwebt und dir die Kehle und das Herz zudrückt. "Genesis" ist das Antidot.


"Genesis" von Hiroshi Watanabe ist im Jahr 2007 auf Klikrecords erschienen.




P.S.: ich hoffe auf eine wenig überraschende, dafür aber durchaus angemessene und entsprechend aussagekräftige Google-Zugriffstatistik in den kommenden Tagen.

Update 30.12.2008: Titel gelöscht. Mir gehen die Schmierfinken mittlerweile etwas auf den Zeiger. Aber keep goin'!

15.09.2008

Abends, am See....



Es gibt soviel unentdeckte Musik. Soviel spannende, höchst inspirierte, stimulierende und doch unentdeckte Musik. Auch "Drift" des Kölner Improvisationsduos sonargemeinschaft wäre mir wohl verborgen geblieben, hätte es das Schicksal nicht so gut mit mir gemeint. Gemeinsam mit dem britischen Gitarristen und Multiinstrumentalisten Fred Frith als Gast präsentieren sich Dirk Raulf am Saxofon und Frank Schulte (Electronics) auf einem Niveau, das mir tatsächlich nicht alle Tage vor die Ohren kommt.

Frei improvisierte Musik gleicht immer einem Drahtseilakt und für gewöhnlich entscheiden die ersten Augenblicke über Erfolg und Misserfolg eines gemeinsamen Weges. Damit ist nicht gemeint, dass sich ein Stück nicht entwickeln dürfe; das wäre aber erst der zweite Schritt. Der erste Schritt ist ein Hauch einer Ahnung, ein minmaler Impuls oder eine grotesk-winzige Information, die darüber entscheiden, ob das, was gerade die Synapsen umweht, Substanz und Leidenschaft hat. Das Bauchgefühl täuscht sich selten, sofern man gelernt hat, es erstens überhaupt wahr zu nehmen, und zweitens es auch zu begreifen.

Wenn drei Musiker (und hier ganz besonders Raulf und Schulte) in der Lage sind derart intensiv und geschlossen mit einer Stimme sprechen zu können, dass dieses knapp siebzigminütige, aus zwei Titeln bestehende und im Kölner Loft live aufgenommene Werk sich zu einer funkelnden, blitzenden und nachgerade - Achtung, das verbotene Wort: perfekten Momentaufnahme entwickelt, zeigt sich, dass es durchaus von Vorteil sein kann, wenn sich die Musiker nicht erst vier Minuten vor Konzertbeginn am Biertresen über die Füße gefallen sind: Dirk Raulf und Frank Schulte arbeiten seit 1995 unter dem gemeinsamen sonargemeinschaft-Banner, kennen ihre Wege, Ihre Gedanken, Ihre Stärken und Schwächen. All das wird auf "Drift" gebündelt auf die Bühne gebracht. Raulfs Saxofon, das mal barsch und geradewegs animalisch anmutet, nur um im nächsten Moment so pur und rein wie ein norwegischer Fjord zu klingen (hat hier eben gerade jemand Jan Garbarek geflüstert?), und Schultes elektronische Eskapaden, die es sogar hier und da fertig bringen, wie ein Ausschnitt einer Raster-Noton-Party zu klingen, nackt und skelettiert einen feinen, minimalen Groove entwickeln und sich darüber hinaus nicht nur in den Sound einbetten, sondern ihm ein eigenes Gesicht schenken, sind die Grundpfeiler einer Musik, die im zweiten Stück "All Aboard" mit der Gitarre von Fred Frith eine weitere Komponente, einen weiteren Bauteil erhält. Auch Frith scheint ein gutes Gespür dafür zu haben, was dieser 13.Dezember wirklich benötigte, und es ist sehr wohltuend zu hören, dass er, wie seine beiden Mitmusiker auch, es unterlässt diese Bühne zu seiner alleinigen Bühne zu machen.

Und wenn selbst das angesichts der kalten Jahreszeit im Hintergrund dezent vor sich hin hustende Publikum mit dazu beiträgt, dass "Drift" ein beeindruckendes Zeugnis eines Abends ist, an dem sich drei Musiker zu einem Klang verbunden hatten, ist wirklich alles gesagt.


"Drift" von sonargemeinschaft & Fred Frith ist am 30.5.2008 auf Poise erschienen.

08.09.2008

Lauschglück



Am kommenden Freitag, 12.9.2008 findet in der Bessunger Knabenschule zu Darmstadt ein ausgesprochen interessantes Konzert statt:

Michael Wertmüller
(Drums, u.a. Brötzmann, ), Rainer Lind (Gitarre, Künstler aus Darmstadt, u.a. Brötzmann) und Joe Sachse (Gitarre, u.a. John Tchicai, Brötzmann) stehen gemeinsam auf einer Bühne.

Beginn ist um 20:30 Uhr. 

Weitere Informationen gibt es HIER.


26.08.2008

Zebra Streifen



Ein wildes Gezappel, da rund um den Springbrunnen. Die Rosen wachsen auf den braunen Betonplatten. Nicht so, wie andere Rosen wachsen, aber das sind auch keine normalen Betonplatten. Eigentlich bestehen sie aus ganz vielen, kleinen Steinen. Die passen gar nicht zusammen, aber man hat sie passend gemacht. Ob die wissen, dass Rosen auf ihnen wachsen? Naja, wahrscheinlich nicht.

"Das ist wie...wie ein Vogelschwarm, irgendwie. Einer fliegt nach...na, da raus halt, und die anderen fliegen sofort mit."

"'Die anderen' ist ja Quatsch; 's sind ja nur zwei."

"Aber immerhin klingen die zwei wie ein ganzes Rudel."

"Rudel? Eben warst Du noch beim Schwarm."

"Ja, Verzeihung. Wie's halt gerade passt."

"Rudel klingt nach Raubtieren."


Freies, attackierendes Chicago. Ist es noch hell oder schon wieder Frühstück? Eine große Tasse Kaffee, dazu Kornetthörnchen und Getrommel. Geht ja auch, wenn es erst wieder hell werden soll. Also irgendwann, wenn es noch dunkel ist.


"Und wie schön das klingelt. Wie Wasserperlen an den Badezimmerfliesen, nach dem Duschen."

"Wasserperlen, die klingeln?"

"Du weißt schon, wie ich das meine."

"Dann sag's halt."


phase out....another level of consciousness...push Away...posT...close your eyes...play, just play...aBility...FREe...another level of consciousneSs...agree....rock...disagree...


"Hat die nicht der Tortoise-Typ produziert?"

"Kann schon sein. Aber sowas interessiert doch nur Giganerds, weil sie das Wichtigste nicht kapieren wollen."

"Hast Du mich gerade Giganerd genannt?"

"Interessiert's dich wirklich?"

"Nö."

"Ich geh' ein bisschen schwimmen."


"In Praise Of Shadows" des Chicago Underground Trios ist im Jahre 2006 auf ThrillJockey erschienen. 



21.08.2008

"Even he can't play what he plays..."

Ein launiger Ausschnitt aus einem Noel Gallagher-Interview. Der Gitarrist von Oasis spricht gut fünf Minuten über The Smiths, Johnny Marr und Morrissey. Großartig!