LIVING COLOUR - STAIN
"I don't want your life, I've got my own needs / A life of my own, a chance to be free / Everything that I want, isn't it everything that you've got?" (Living Colour, "Ausländer")
"Stain" wurde das Etikett angehängt, seiner Zeit voraus gewesen zu sein. Das wird im Rückblick gemeinhin über Platten gesagt, die sich beim Publikum nicht so recht durchsetzen konnten und in erster Linie von Musiknerds nicht selten genau dafür geliebt werden. Dabei hat es oft durchaus Gründe, warum so manches Werk nicht zum Megaseller wurde, selbst wenn die Vorzeichen gar nicht so trübe aussahen. Manche Platten sind einfach schwierig. Manche Platten passen nicht in ihre Zeit. Und "Stain" ist schwierig. Ungewöhnlich. Couragiert. Ich weiß nicht, ob es seiner Zeit voraus war, weil das ja irgendwie bedeutet, dass diese "richtige" Zeit mal kommen wird. Ich frage mich nur, welche Zeit das sein soll?!
Living Colour hatten mit dem von Mick Jagger co-produzierten Debut "Vivid", ihrem flinken Locker-Wie-Frischkäse-Funkrock und vor allem der Hitsingle "Cult Of Personality" die Tür zum Mainstreamerfolg schon ziemlich weit aufgestoßen, produzierten dann allerdings mit "Time's Up" einen überraschend harten Nachfolger, auf dem schon der Hit fehlte - und gaben mit "Stain" zwei Jahre später endgültig keinen feuchten Flutschi mehr auf Erwartungshaltungen, den Mainstream, Normen und Grenzen. Die Quittung: "Stain" schaffte es als erstes Living Colour-Album nicht in die Top 20 der US-amerikanischen Billboard-Charts und sollte für ganze zehn Jahre das letzte Album der Band sein.
Living Colour hatten in einen höheren Gang geschaltet und riskierten damit, dass ihnen nicht jeder folgen konnte. Es begann beim Albumcover, das auf ihr flippiges Bandlogo und die bunten, knalligen, fröhlichen Farben verzichtete. Damit wurde das erste Signal gesetzt. Es wird dunkel. Es wird ernst. Produzent Ron St.Germain und die Band inszenierten "Stain" klanglich folgerichtig irgendwo zwischen der Metal-Ästhetik eines Neil Kernon und Steve Albini, roh, intim, laut, verletzlich, unmittelbar. Und für Herrn und Frau Ottonormalrock ist der Ofen schon im Opener "Go Away" aus: ein knüppelhartes und übel groovendes Riff, Thrash Metal Vibes, und ein Text, mit dem man sich als schwarze Rockband im Amerika der frühen Neunziger, milde ausgedrückt, nicht nur Freunde macht:
I see the starving Africans on TV
I feel it has nothing to do with me
I sent my twenty dollars to live aid
I've aided my guilty conscience to go away
Now go away
Now go away
Now go away
Go away
I don't want anybody to touch me
I think everybody has aids
What's the point in caring for you?
You're gonna die anyway
Anschließend singen Living Colour in "Bi" über Bisexualität - Gitarrist Vernon Reid dazu: "I'm really proud of the band for taking the song on. To even go there. It was very risky." - "Ausländer" erzählt aus der Sicht eines Flüchtlings, wie es sich anfühlt entwurzelt in einem fremden Land und in einer fremden Kultur gestrandet zu sein und ständig ausgegrenzt und angefeindet zu werden. "Wall" ruft zur Gemeinschaft und Versöhnung auf und will Mauern zwischen den Menschen einreißen. "Postman", selbst auf dem insgesamt düsteren Album der mit einigem Abstand unheimlichste und verstörendste Song, thematisiert Waffengewalt in den USA aus der Perspektive des Schützen.
In welche Zeit soll "Stain" nun also passen? So ganz allmählich dämmert's.
Vinyl und so: Das Album war wegen eines von Jon Stainbrook initiierten Rechtsstreits für über 15 Jahre out of print, erst 2013 gab es die erste Nachpressung auf CD. Music on Vinyl veröffentlichten das Album ab 2018 in mehreren Versionen auf farbigem und schwarzem Vinyl, die aktuell manchmal für sogar unter 20 Euro zu haben sind. Die Erstpressung gibt es für etwa 35 bis 40 Euro, mit etwas Glück kommt man auch günstiger davon.
Erschienen auf Epic, 1993.