14.05.2017

Winter



NEW MODEL ARMY - WINTER


"Wann kommen endlich New Model Army?"
"Noch nicht."
"Mit Dir rede ich kein Wort mehr, Du Penis."

Durch solcherlei via des Schnatterdienstes WhatsApp geführter Dialoge mit Freund Jens musste ich mich geschlagene vier Monate kämpfen, und manchmal war "Penis" noch die charmanteste Art der Beschimpfung. Muss man wissen: der Mann ist seit den achtziger Jahren beinharter New Model Army-Fan - der "Penis" ist es hingegen nicht, allenfalls wohlmeinender Symathisant. Weshalb der Auslöser für den Austausch solcher "Verballiebkosungen" (11 Freunde), der doch schon Ende April abgeschlossene Top 20-Countdown der besten Alben des letzten Jahres, ohne eine Beteiligung von "Winter" auskommen musste. Trotzdem (oder gerade deshalb) muss ich zu dieser durchaus besonderen Platte ein paar Worte verlieren.

Für eine gar nicht so kurze Zeit war meine einzige Verbindung zur Truppe um den immer noch unverwüstlichen Justin Sullivan die Coverversion ihres Hits "I Love The World" der Techno-Thrasher Anacrusis auf deren "Manic Impression" Album. Seltsamerweise hat das trotz deutlicher Zuneigung sowohl zum Songtext als auch zur Coverversion an sich bis vor wenigen Jahren nie ausgereicht, um mich mit auch nur einer der Platten des Originals eingehender zu beschäftigen. Und dabei standen und stehen gleich vier davon im Schrank. Mit "Winter" war es aus zwei Gründen anders. Erstens: Der Titelsong, vorab als erste Single veröffentlicht, machte mich Ohren spitzen: "Winter" ist ein ruhiger, melancholischer und mit dennoch typischem New Model Army Drive ausgestatteter Song, der mich immerhin so begeisterte, dass ich die Band zweitens live im restlos ausverkauften LKA in Stuttgart anschauen wollte - um mir anschließend den "Winter" in die langsam herbstlich abkühlende Wohnung zu holen. Es war eigentlich alles wie früher: die Single hören, Band live angucken, Platte kaufen. Wie oldschool kann man im Jahr 2016 noch bitte sein?

New Model Army geben auf der Bühne nicht die alten, feigen Lappen, die sich nur auf den Erfolg ihrer Hits verlassen und neues Songmaterial links liegen lassen - das Gegenteil ist der Fall: Sullivan ist von den letzten Platten seiner Kapelle gar so angetan, dass er den Schwerpunkt einer New Model Army Show im Jahr 2016 ziemlich eindeutig auf die letzten zwei, drei Alben legt, während ein Klassiker wie "51st State" auch gerne mal aus der Setlist rutscht, weil man einfach keine Lust hat, ihn zu spielen. 

"Welche Songs die Zuschauer hören wollen, was die Musikindustrie über uns denkt....lass mich in Ruhe damit! Wir sind New Model Army. Ja, wir sind manchmal scheiße, ja, wir machen Fehler, die wir bedauern, aber wir machen das auf unsere Art und Weise." (Bericht im Deutschlandfunk)

Ganz anders sieht die Sache folgerichtig mit "Winter" aus, von dem live nicht weniger als acht Songs präsentiert wurden, von denen ich an diesem Abend im Oktober also sieben zum ersten Mal überhaupt höre. Und obwohl das ja immer so eine Sache ist, auf Konzerten erstmalig mit neuen und daher also "fremden" Songs konfrontiert zu werden, konnte ich den Kaufreflex nach diesem Samstagabend im Oktober nicht mehr unterdrücken.

Die Erfahrungen mit dem Album "Winter" waren etwas überraschend nicht von jenen mit dem Song "Winter" zu unterscheiden: ich hatte über mehrere Wochen hinweg das starke Verlangen, immer wieder diese Platte aufzulegen und kam zusammen mit der Herzallerliebsten gar zur Überzeugung, einer durchaus besonderen Platte die Aufmerksamkeit zu schenken - auch wenn wir uns beide nicht so recht erklären konnten, woran das lag. Denn diesen Disclaimer muss ich setzen und ich versuche, es nicht all zu despiktierlich klingen zu lassen: normalerweise taucht aktuelle Rockmusik, die sich stilistisch weniger durch überraschende, kreative Ideen als viel mehr durch den sicheren Aufenthalt innerhalb gängiger und konventioneller Genregrenzen definiert, in meinem Leben nicht mehr auf, und wenn man den ganz groben Blick aus 20.000 Fuß zumindest auf meine Erwartungshaltung zu "Winter" richtet, dann blieben mir mit solchen Maßstäben nicht viele Argumente übrig, um diesen Text zu rechtfertigen. 

Aber es kam anders, und zwar mit dem Einzoomen und -grooven auf "Winter". Das ist eine hochemotionale Platte mit einfallsreich arrangierten und leidenschaftlich interpretierten Songs, die, von wenigen Ausnahmen zur Albummitte abgesehen, Lichtjahre vom trüben und geradlinigen Schnarchgerocke entfernt sind, mit dem Rockmusiker, ganz egal ob alte Hasen oder vermeintlich junge Gipfelstürmer, seit Jahren ganze Generationen ins Koma säuseln. Justin Sullivan ist auch mit 60 Jahren noch immer ein poetischer Krieger, in dessen Herz Zorn, Leidenschaft, Hoffnung und Liebe toben und der Emotionen und Romantik ganz zentral in seine Songs einwebt. Herausragend sind auf der LP-Version (die übrigens eine andere Songreihenfolge als die digitalen Versionen hat) vor allem die A- und D-Seite: "Winter" beginnt mit dem dramatischen "Beginning", geht von dort ins trotzige "Burn The Castle" und anschließend nahtlos in den grau-schimmernden Titelsong über - alleine diese drei Songs erzählen Dir praktisch alles, was Du über dieses Album wissen musst. Zu großer Form läuft die Band indes ganz zum Schluss auf: "Born Feral" war live mit seinem unwiderstehlichen Tribaldrumming-Outro DER Song des Abends und er ist auch auf "Winter" zweifellos der beste Moment der ganzen Platte. "Weak And Strong" und das balladeske, eindringliche "After Something" beschließen eine beeindruckende Songsammlung einer Band, die wie vielleicht keine zweite so wohltuend eigenständig, kreativ und stur die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit ohne eine Spur von Anbiederung in eine Aufbruchstimmung im Hier und Jetzt umsetzt. 

Ich wusste bis "Winter" nicht mal, dass ich genau das brauche oder auch nur suche - aber solange man nicht von allen guten Geistern verlassen ist und trüber Zynismus und Kulturpessimismus das Zepter im Oberstübchen schwingen, kann man das unmöglich nicht anerkennen. 




Erschienen auf Attack Attack Records, 2016.