23.05.2010

The Beard Is Out There! - V


Das fünfte Studioalbum der "Locker wie Frischkäse"-Buben aus Kalifornien sorgte für die ersten Haarrisskratzer auf der bis dahin strahlenden Fassade, ist allerdings in meinen Augen lediglich um Nanopartikelchen schwächer als die vier Vorgänger.

Hatte die Band bis dato nicht einen nur-beinahe-perfekten Song geschrieben, gab es auf "V" das erste ganz, ganz kleine Stirnrunzeln. Gewohnt-geniale Tracks wie das mit massiven Hooklines ausgestattete "At The End Of The Day", das einem schon nach erstmaligem Hören schon nicht mehr aus dem Kopf fallen will oder der 26-Minuten-Klumpen "The Great Nothing", der locker in einer Reihe mit "The Water" oder "The Light" steht, hätten gleichfalls auf den Vorgängern für Begeisterung gesorgt. Die Problemchen beginnen hingegen mit dem für Beard-Verhältnisse tonnenschweren "Revelations" und dem "Thoughts"-Nachglüher "Thoughts Part 2", die beide erstmals etwas im Klischee festgeleimt wirken. Besonders "Thoughts Part 2" wirkt wie eine bloße Frickel-Schau, die Spock's Beard bis dahin niemals nötig hatten. Fraglos waren sie technisch immer mehr als nur state-of-the-art, aber sie mussten nie die Muskeln spielen lassen, sie überdeckten ihre brillianten Fähigkeiten eben lieber mit überlebensgroßen Songs. 

"Revelation" andererseits ist in der Stimmung und Anlage fast schon zu sehr Metal, zwangsläufig zu deutlich und offensichtlich und damit in der Wirkung einfach zu plump. Das kannte man bisher nicht von Morse - aber andererseits: da sich die Anhängerschaft, zumindest in Europa, fast ausnahmslos aus der Metalszene rekrutierte, wollte man dem Mob eben ein bisschen Fresschen hinwerfen, das weitgehend problemlos verarbeitet werden konnte. Die beiden Beard-typischen Ohrenschmeichler "All On A Sunday" und "Say Goodbye To Yesterday", die das Album komplettieren, sind solides, wenn auch nicht überragendes Futter für die Fangemeinde.  

Was sich im Vergleich mit den Vorgängern wie ein Verriss liest, ist bei Licht betrachtet ein immer noch sehr, sehr starkes Album mit einigen echten Höhepunkten und eineinhalb minimalen Absackern. Heißt in Gänze: Mein fünftliebstes Spock's Beard-Album. 

Den Verriss könnte ich für den überambitionierten und deswegen ganz schön in die Hose gegangenen Nachfolger "Snow" schreiben, nach dessen Erscheinen Neal Morse seinen Hut nahm und die Band verließ. Da Verrisse aber stinklangweilig sind, lass ich's bleiben. Lieber die ersten fünf Sahnealben in Endlosschleife hören. 

Erschienen auf InsideOut, 2000

19.05.2010

The Beard Is Out There! - Day For Night

Den Durchbruch auf breiterer Front erreichten Spock's Beard mit ihrem vierten Studioalbum "Day For Night". Die Verkäufe zogen nochmals an, die Konzerthallen wurden größer, waren immer öfter ausverkauft und entließen nicht selten ein freudentrunkenes Publikum in die Nacht.

"Day For Night" ist im Rückblick das wohl ausgereifteste Werk des Fünfers, das hier wirklich alle Stärken bündeln und in vollem Umfang ausspielen konnte. Mit dem Titeltrack gelang es Morse sogar, das Thema des Iron Maiden-Klassikers "Caught Somewhere In Time" unter zu bringen, "Gibberish" bot irrwitzigen Satzgesang der Marke Gentle Giant, "Distance To The Sun" ist nach "June" auf dem Vorgängeralbum eine weitere Megaballade, "Crack The Big Sky" ein typischer Beard-Track im Stile von "Walking On The Wind" mit unfassbarem Drumming von Nick D'Virgilio, während "The Gypsy" mit seiner schrägen Stimmung und ungewohnter Härte etwas aus dem Rahmen fällt. Bis dahin also alles wie gehabt: sieben Übersongs, mal eben mit links aus dem Handgelenk geschüttelt. 

Das dicke Ende sollte aber erst noch kommen: das knapp 25-minütige "The Healing Colors Of Sound" ist der wohl beste Longtrack, den die Band jemals geschrieben hat, auch wenn sich die Zutaten im Grunde nicht wesentlich von den anderen Göttergaben wie "The Water" oder "Time Will Come" unterscheiden. Morse flitzt durch all das, was sein Hirn in über 30 Jahren Musikverrücktheit aufgesaugt hat, perfekt ausgearbeitet, perfekt arrangiert, alles bis zum Ende und noch darüber hinaus gedacht. Hier sitzt einfach jede Note, jedes Wort, jedes Luftholen, jeder Klavier-, Bass-, und Gitarrenanschlag, jeder Beat. Jedes Umschalten von schleppenden Passagen in ein federndes "Sunny-California-Feeling" gelingt wie in Trance, jede Melodie berührt so tief, jede Akzentuierung löst Freudenschreie aus.

Gekrönt wird dieser Brecher von dem - ich lege mich fest - ergreifendsten und genialsten Gitarrensolo aller Zeiten: Alan Morse, der vor 20 Jahren mit seinem Bruder Neal wettete, ohne Plektrum schneller spielen zu können, als Neal mit Plektrum (und die Wette natürlich gewann), dieser Feeling-Gott mit seiner halb zerstörten Fender Stratocaster, grundsätzlich bis unter die Dachhaube zugekifft und im wahren Leben CEO einer amerikanischen IT-Firma, zeigt innerhalb von drei Minuten wie zum Heulen schön Musik sein kann. Die Luft vibriert, der Boden bebt, die Töne schweben, die Feedbacks lassen Felsmassive erzittern.

Oliver Klemm vergab vor 20 Jahren mal 8 von 7 Punkten für Aerosmiths "Pump"-Album und schloss seine Review mit den Worten "Was also tun? 8 Punkte geben? 'Pump' hat diese Ausnahmenote verdient.". Ich tue es ihm zumindest in der Sache gleich:"Day For Night" hat sich zweifellos die 11/10 verdient.

Erschienen auf InsideOut, 1999.

17.05.2010

Ronnie James Dio 1942 - 2010

Die ersten Jahre meiner Musikverrücktheit verbrachte ich Mitte der 80er Jahre mit Roland Kaiser und hessischen Lokalmatadoren wie den Rodgau Monotones oder Flatsch, bevor um 1986 herum die britische Metalband Iron Maiden den Thron der Florian'schen Nummer Eins erklommen konnten. Mein Bruder Dirk fungierte dabei als Plattenlieferant, und ich erinnere mich daran, dass ich in den folgenden Jahren eine Platte mindestens ebenso oft hörte, wie die ollen Maiden-Klassiker. Und das war Dirks Schuld. Es war "Holy Diver", das Solodebut des ehemaligen Rainbow- und Black Sabbath-Sängers Ronnie James Dio. 


Alleine das Cover hatte eine ungeheure Anziehungskraft auf mich (hier ist womöglich die Parallele zu Maiden zu ziehen) - ein Pfarrer, der unter dem gartig-glühenden Blick des kettenschwingenden Teufels, festgekettet in reißenden Fluten droht unter zu gehen. Es schockierte Mutti und wahrscheinlich eben auch mich selbst. Teufelsmusik. Das legendäre Intro zum Titelsong versetzte mich in Faszinationsstarre, die Hymne "Stand Up And Shout" oder das gigantische "Don't Talk To Strangers" - all diese Songs wurden zu völlig selbstverständlichen Begleitern für die nächsten Jahre. "The Last In Line", das zweite Album, reihte sich genauso ein wie das Drittwerk "Sacred Heart": diese drei Scheiben - wie soll ich's beschreiben - ich kann heute möglicherweise auf völlig anderen musikalischen Planeten aufhalten, mich in Jazz, Elektro und HipHop suhlen, aber diese Songs sind wie Heimkommen, mehr noch als alte Freunde, denn sie haben mich nie im Stich gelassen. Ich verbinde besonders die Songs des Debuts heute noch mit Gerüchen, wie ich sie damals in der Wohnung meiner Eltern wahrgenommen habe, als eben "Holy Diver" lief. Und es passiert bis heute regelmäßig, dass ich beispielsweise "Sacred Heart" aus dem Regal ziehe und nur die überragende erste Seite höre. Und ich schmunzle jedes Mal, wenn Dio seine beiden Lieblingswörter singt: Rainbow und Dragon. Und wer Dio-Platten kennt, der weiß: ich komme aus dem Schmunzeln im Grunde gar nicht mehr heraus.


Heute Morgen ist Ronnie James Dio gestorben. Ich wusste, dass er krank war, und als ich vor sieben, vielleicht acht Monaten die ersten Meldungen über seinen Kampf mit der Krankheit hörte - ich war...ist "besorgt" hier das richtige Wort? Es erscheint so distanziert, dabei schenkte ich dem schon mehr Aufmerksamkeit als anderen "besorgniserregenden" Nachrichten. Ich war vielleicht auch ängstlich - ich wünschte dem kleinen Mann einfach nur, dass er es packt, dass er dem Sensemann noch wenigstens ein paar Jahre entkommt. Nicht, weil ich unbedingt eine neue Platte brauchte oder eine neue Tournee - ich hatte Dios Schaffen in den letzten 10, wenn nicht gar 15 Jahren fast vollständig aus den Augen verloren. Aber ich wollte einfach, dass er noch bleibt - mein Gott, ich habe mit dem Typen mal mindestens meine Kindheit verbracht, verdammt.

Jetzt bin ich nicht mehr besorgt oder ängstlich, ich bin nur sehr traurig. Dio war ein herzensguter Mensch, ein Gentleman, ein bodenständiger, warmherziger Kerl. Keine Skandale, niemals. Gesegnet mit einer Stimme, die das Zeit-Raum-Kontinuum zusammenbrechen lassen konnte, eine der großartigsten Stimmen in der Geschichte der Rockmusik.

Das nimmt mich echt gerade ziemlich mit.

13.05.2010

The Beard Is Out There! - The Kindness Of Strangers

Das erste Album der Band, das die Ernte der überschwänglichen Berichterstattung des Rock Hard-Magazins einfahren konnte und Spock's Beard auf der Landkarte für deutsche Rockfans platzierte. Rock Hard-Schreiber Michael Rensen hatte seit "The Light" einen Narren an dem Quintett gefressen, schmiss (gerechterweise) mit 10-Punkte-Wertungen um sich und feierte Neal Morse schon zu jener Zeit in seiner Prog-Kolumne als den neuen Heiland. "The Kindness Of Strangers" wurde erstmals an exponierter Stelle präsentiert: auf den Dynamit-Seiten des Blattes nämlich, die bis heute die besten Alben eines Monats gesammelt präsentieren. Rensen schrieb und vergab, na klar, die Höchstnote.

Und hier geschah es (vielleicht): Metalfans verliebten sich in Spock's Beard. Und sie taten es in einem Ausmaß, das der Band für die nächsten Jahre ein gutes Stück Erfolg sicherte. Hinzu kamen weitere Lobeshymnen von Musikern, beispielsweise von Dream Theater-Schlagzeuger Mike Portnoy, der Spock's Beard als beste (Prog-)Band zur damaligen Zeit bezeichnete. Folgerichtig wurde die Kapelle von den New Yorkern gleich mehrfach als Supportact mit auf Tournee genommen, und Portnoy gründete etwas später mit Neal Morse, Pete Trawawas (Marillion) und Robin Stolt (The Flower Kings) das All-Star Projekt Transatlantic.

"The Kindness Of Strangers" bot wie gehabt die ergreifendste Musik aller Zeiten, es war manchmal schlicht zu schön, um wahr zu sein. "The Mouth Of Madness", ein durchgeknallter Song-Weirdo mit im warmen Sommerwind segelnden Schwerelospassagen, wurde gar zu einem kleinen Hit, die Monsterballade "June" bringt den nihilistischsten Black Metaller zum hemmungslosen Weinen, "Strange World" ist der vielleicht erste ernsthafte Versuch der Band in AOR-Fahrwassern nach einem Radio-Hit zu fischen, und die beiden Sternstunden "In Harms Way" und "Flow", beide jenseits der zehn Minuten Grenze, schenken dem Album wie schon auf dem Vorgänger dunklere Nuancen und damit ungeheuerlichen Tiefgang. Dazu gab's ungewohnte Riffhärte von Gitarrengott Alan Morse bei "Cakewalk On Easy Street" und dem genannten "The Mouth Of Madness".

"Perfekt" als Prädikat wäre wieder einmal eine bodenlose Frechheit.

Erschienen auf InsideOut, 1997

06.05.2010

The Beard Is Out There! - Beware Of Darkness


Eine Coverversion eines alten George Harrisson-Songs eröffnet Studioalbum Nummer Zwei und gibt ihm auch gleich noch den passenden Titel mit auf den Weg: mit "Beware Of Darkness" steigen Spock's Beard düsterer als zuvor in ein Album ein, das auch insgesamt mit einer dunkleren Aura schimmert. Der federleichte Stil ist angesichts von Songs wie "Walking On The Wind" oder dem Klassiker "The Doorway" natürlich immer noch durchgängig präsent, auf der anderen Seite stehen allerdings der Longtrack "Time Will Come", der erstmals sowas wie Frustration musikalisch transportiert oder das klassische, melancholische Gitarrenduo "Chatauqua". Auch "Thoughts", bekannt durch die Aufnahme beim 95er Progfest ("A song about a guy whose brain is on the fritz.") ist trotz des umwerfenden fünfstimmigen Satzgesangs nicht die pure Lebensfreude und der Hit "Waste Away" verströmt gleichfalls eher Melancholie als den Duft einer Sommerwiese, wobei das eine das andere in der Wirkung nicht ausschließen muss.

Trotzdem - oder gerade deshalb - ist "Beware Of Darkness" eines meiner Lieblingsalben der Band. Die oftmals subtil eingesetzten und im Untergrund dunklen Schattierungen der Songs helfen der Scheibe dabei, noch mehr Tiefe und noch mehr Dramatik zu entwickeln. Eine Platte, der man nur sehr schwer überdrüssig werden wird.

Erschienen auf InsideOut, 1996

02.05.2010

The Beard Is Out There! - The Official Live Bootleg


Spock's Beard hatten besonders in ihrer Anfangszeit die Angewohnheit, bei ihren Konzerten CDs zum Verkauf an zu bieten, die es niemals in den normalen Handel schaffen sollten. "The Official Live Bootleg" wurde während der ersten Deutschland-Tourneen verkauft und einige Jahre später dann doch offiziell unter dem Namen "The Beard Is Out There-Live" veröffentlicht - mit einem zusätzlichen Medley, das sich auf der Originalversion nicht finden lässt - und fasst die vier Songs des Debuts, sowie "Thoughts" vom "Beware Of Darkness"-Album zusammen, das zu dem Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht veröffentlicht war.

Aufgenommen 1995 im Rahmen des kalifornischen Progfests, flattern die Buben mit maximaler Lebensfreude durch ihre überlangen Kompositionen, oftmals unterbrochen von einem hörbar beeindruckten Publikum, das sich immer öfter zu spontanen Beifallsstürmen während der Songs hinreißen lässt. Im Verlauf von "Go The Way You Go" werde ich allein ob der offenbar völlig durchdrehenden Zuhörer von Gänsehautattacken durchschüttelt, und wenn Neals Bruder Alan gegen Ende seine traditionell-abgeranzte Stratocaster streichelt und ihr eines der ergreifendsten Gitarrensoli aller Zeiten entlockt, dann sind auch die Tränenschleusen offen.

Unterstützt von einem erstklassigen Sound, einer um ihr Leben spielenden Band und dem erwähnt gierigen Publikum ist "The Official Live Bootleg" eine der fünf größten Liveplatten, die ich kenne. 

01.05.2010

The Beard Is Out There! - The Light

Fast exakt zweieinhalb Jahre nach meiner letzten euphorisierten Spock's Beard-Phase schlägt die Göttertruppe erneut völlig unbarmherzig zu. Auslöser für meine nun schon seit zwei Wochen andauernde Verbeugung war wieder einmal Freund Marek, der kürzlich - mit seeligem Lächeln - die Liveversion des 24-Minuten-Hammers "The Water" auf seinem Notebook anspielte und mich damit in das Jahr 1997 zurück katapultierte. Das Ergebnis: ein wohliges Suhlen im Backkatolog der Kalifornier und die Erinnerung daran, warum Spock's Beard für mich zu jener Zeit der heißeste Scheiß unter der Sonne waren. Derart angefixt, stürzte ich mich auf jene sechs Scheiben, die in der zweiten Hälfte der Neunziger für ein Comeback des Progressive Rock sorgten.

Wir starten chronologisch mit dem Erstling "The Light". Stifte raus, alles schön mitschreiben! 




Das überlebensgroße Debut. Soundtechnisch noch etwas schwach auf der Brust, dafür mit vier Longtracks vollgepackt, die vielleicht das endgültig Beste sind, was jemals unter dem Banner des Progressive Rock erschienen ist. Das mag übertrieben, beinahe sensationslüstern klingen, andererseits fällt es angesichts dieser Musik schwer, mildere Worte zu finden. Hier noch ohne die erst zur nächsten Platte eingestiegene Tastenmaus Ryo Okumoto, schüttelt die Band unter der spirituellen Leitung von Tausendsassa Neal Morse (Keyboard, Gitarre, Drums, Gesang, Wahnsinn, Wahnwitz, Irrsinn) die lockersten und zugleich ergreifendsten Passagen der Welt aus dem Ärmel: der 16-minütige Titeltrack durchflattert mal eben 40 Jahre Musikgeschichte und verknüpft das traditionelle Progsongwriting des Yes-Albums "Close To The Edge" mit…ja, mit was eigentlich? Vielleicht brachte die Band "lediglich" ihr ungeheures Talent und ihre Frische ins Spiel. Spock's Beard befanden sich immer in diesem wunderbaren Zwiespalt: einerseits eine tiefe Verneigung vor den klassischen Progressive-Epen aus den siebziger Jahren (Yes, Genesis, Gentle Giant) mit einer entsprechenden und allgegenwärtigen Zitatesammlung, andererseits eine Frische und Modernität, die am Ende fast zwangsläufig zu einer völlig neuen Betrachtung eines gesamten Genres führen musste. Denn auch wenn beispielsweise Dream Theater schon zum Ende der achtziger Jahre einigen Staub vom Kaminsims blasen konnten, in dem sie die Klassiker mit hartem Metal verbanden, oder eine Band wie Marillion dank des Fish-Nachfolgers Steve Hogarth ihre Idee des alten Genesis-Klons immer mehr zu einem sehr eigenständigen, gleichfalls sehr modernen Sound weiterentwickeln konnte, dachte Mitte des letzten Jahrzehnts, im Rausch von Alternative Rock und Crossover, wirklich niemand an Progressive Rock. Und dann machten Spock's Beard das Fenster auf: der alte Muff war komplett verschwunden, der grundsätzliche Ansatz der alten Tage war hingegen derart präsent, dass man fast den Eindruck gewinnen musste, Spock's Beard würden sich Ironie oder sogar eine Parodie ganz groß auf die Fahnen schreiben. Aber nix da: denn auch wenn die Band in den kommenden Jahren vor allem live eine große Portion Selbstironie präsentierte, war sie ihrem Sound sehr leidenschaftlich und aufrichtig verbunden. Die vier Perlen auf "The Light" sprühen nur so vor Lebensfreude, vor Dramatik, Pathos, Leichtfüßigkeit, Spielfreude, und explodierender Kreativität. Das bereits erwähnte Epos "The Water" ist dabei der theatralische Höhepunkt dieses Debuts, eine emotionale Achterbahnfahrt, eine große, spannende Erzählung des "Ocean King". Gänsehaut am laufenden Band. 

Erschienen auf InsideOut, 1995

28.04.2010

Das spammen die anderen (1)

Gestern fand ich dieses Kleinod in den Kommentaren, und ich bin versucht zu sagen, dass kein anderer Bot diesen Blog so wunderbar mit niedlicher Spamscheiße zumüllt wie "User" "Anonym": 

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Jetzt mal ehrlich, ist das nicht total süß?

25.04.2010

Zwischenruf (3)

Zur Feier des hiermit 200.Blogeintrags seit Bestehen von 3,40qm, gibt's zweimal Leckerli mit Sahne: die jeweils vollständigen Albumstreams der neuen Alben von Broken Social Scene und der großartigen Nice Nice. N-Joy.


Broken Social Scene - Forgiveness Rock Record


Nice Nice - Extra Wow


22.04.2010

Best Of 2009 - Plätze 01 - 05


Platz 1


The Life And Times - Tragic Boogie

Ich habe nun schon wirklich oft genug die Größe von The Life And Times im Allgemeinen und "Tragic Boogie" im Speziellen auf diesem Blog erwähnt, und da dachte ich mir: ich mach's nochmal. Shoegaze, Indie und leichter Noise formen die Platte des Jahres, keine Diskussion.


Platz 2


SND - Atavism


Alleine im ersten hörbaren Sound von "Atavism" steckt mehr Tiefe und Wärme als in manch kompletter Banddiskografie. Mark Fells und Mat Steel knüpfen den Balla-Balla-Funkcore aus dem reinsten Weiß, das je ein Plattencover gesehen hat. Wo Frank Bretschneider auf "Rhythm" den Skelett-Funk entwickelte, tragen die Knochengerüste von SND Discokugeln im Schritt und die prächtigsten Pornoschnauzer seit YMCA. "Atavism" ist strategisch und verkopft, funky, aber nicht sexy und kann wohl deswegen nicht auf einem Label wie Warp, sondern muss eben zwangsläufig auf Raster Noton erscheinen. Manchmal denke ich mir, dass so eine neue Jimmy Edgar Platte klingen könnte, wenn der den ganzen Glitzer-Fummel mal im Körbchen liegen lässt und stattdessen Alpina Weiß schnüffelt. Macht nach einer Weile Kirre im Oberstübchen, aber so geht Leben, vermute ich.


Platz 3


Emeralds - What Happened?


Ein fürwahr faszinierendes Album. Ich kenne tatsächlich nur wenige Ambient-Platten, deren Einfluss auf Stimmung und Reizsensibilität trotz der sublimen und vernebelten Pfade ihrer präsentierten Musik so groß ist. "What Happened" berührt vom ersten Ton an, und das ist so beeindruckend, dass man die Aufmerksamkeit nur schwer auf etwas anderes lenken kann. Alleine der Opener "Alive In The Sea Of Information" kann in Sachen Aufbau und oszillierenden, sich wie Wellen auftürmenden Sounds, die ob ihrer Urgewalt beinahe physisch manipulieren, so dermaßen alles, dass nur ein vollkommen durchgeblödeter Zappelpiller gelangweilt abwinken würde. Das Trio aus Ohio ist alleine klanglich bisweilen auf einer qualitativ völlig anderen Ebene als die Konkurrenz: hier passiert nichts beiläufig, "What Happened?" ist durchgehend schmerzend relevant.


Platz 4


The Necks - Silverwater


Der britische Guardian bezeichnete sie im Zuge der Platte "Hanging Gardens" von 1999 als eine der besten Bands des Planeten, der Sydney Morning Herald adelte "Silverwater" als
"the finest studio album in their 22-year history"und vermutlich haben beide Recht. Das Konzept des australischen Trios, improvisierte Musik im großen Stil und weitgehend barrierefrei durch eine Platte gleiten zu lassen, bis sie nach meistens 50 bis 70 Minuten wenigstens formal zum Stillstand kommt, trägt die Band auch auf "Silverwater" wieder in den Olymp. Ihr Jazz-Ambient Sound ist immer noch und wieder ein grandioser Ohrenschmeichler mit unfassbar viel Gespür für die richtige Option. Der Titel hätte angesichts dieses mysteriös fließenden Traumspiels nicht besser gewählt werden dürfen. Ein fantastisches Artwork gibt's obendrauf.


Platz 5


Propagandhi - Supporting Caste


Jaleckmichamarsch! Ist das noch Punk? Ist das Metal? Nein, es ist Superdingens! Diese Songs können töten. Politische Sprengkraft in den Texten gepaart mit den unglaublichsten Punk/Hardcore-Songs der letzten Jahre ergeben ein Album, das mich zu Beginn total überforderte. Kompletter Informationsoverkill. Und die Kanadier verdrehten mir nicht nur im übertragenen Sinne den Kopf. Nach ungefähr 287 Durchgängen raffte ich zwar immer noch nicht viel, aber ich kann die Ahnungslosigkeit wenigstens in Worte fassen: technisch brilliant, höllisch komplex und doch catchy, die Produktion ist eine Sensation, die Gitarrenarbeit WELTKLASSE, die Songs schon jetzt legendär.


19.04.2010

Best Of 2009 - Plätze 06 - 10

Bevor der Listenquatsch nun aufhört: mir ist aufgefallen, dass ich zu wenig über die Platten des abgelaufenen Jahres geschrieben habe, und irgendwie muss ich diesbezüglich nachsitzen. Deshalb hier flott in Kurzform die 10 besten Scheiben 2009, aufgeteilt in zwei Portionen, zum besseren Verdauen. Tötö!

Platz 6


Malakai - Ugly Side Of Love

Bezirzendes Weirdo-Gerumpel aus englischen Garagen, in denen Nasarechner und Strohballen gemeinsam Kühe bumsen. Typ trägt vermutlich Dreads und einen grün-schwarz gestreiften Schlabberpullover. Soul und Funk treffen auf herrlich unprätentiöse Hip Hop-Beats, als Beilage wird eine Stimme gereicht, die seit Tagen nur Kaffee und Zigarettenqualm und die Spucke eines Crack rauchenden Stevie Wonder an sich vorbeischwimmen sah. Die FAZ brachte Beck als Vergleich ins Spiel, aber das hat Malakai nicht verdient. Die FAZ hingegen schon. Und trotz Bristol- und Portishead-Verbindung: macht richtig Spaß.


Platz 7



The Heavy - The House That Dirt Built

Nach dem Debutklassiker "Great Vengeance And Furious Fire" aus dem Jahr 2007 schmiss die Band aus dem Vereinten Königreich einen ebenso fantastischen Nachfolger auf die Tanzfläche. Ihr dreckiger, schmieriger Soul- und Bluesrock mit einem sehr feinen Händchen für großartige Hooklines und Melodien reifte auf "The House That Dirt Built" zu einem steppenden Monster voller Glückseligkeit, schmutzigem Sex, Drogen und Garagenrock. Modern und frisch, gefährlich und höllisch tanzbar. Eine der besten Bands der Gegenwart.


Platz 8

Fever Ray - Fever Ray

Die Hälfte der schwedischen Geschwisterbande The Knife dreht hier eigenständig frei: Karin Dreijer Andersson mit einem knisternden, nokturnen, sehr warmen Elektro Album für den Ambient-Club auf Psychopharmaka. "Fever Ray" hat eine erstaunliche Tiefe, ist zu gleichen Teilen umarmend und abweisend und einen großartigen Flow über Albumdistanz. Muss man auch erstmal "hinkriegen" (G.Schröder). Dauerbrenner 2009.


Platz 9


Pan American - White Bird Release

Neben der Emeralds-Platte das großartigste Stück Ambient 2009. Wunderbar zusammengestellt, kreiselnde Sounds, die mich immer wieder tiefer in den akustischen Wattebausch drücken, toller Spannungsaufbau. "White Bird Release" ist sehr subtil, die verhuschten Gitarrenloops hängen sich kaum merklich an dubbige Dürre und verschmelzen zu einem sehr organischen Klangkörper, der wenig mit Sterilität und klaren Konturen zu tun hat. Mark Nelson - früher übrigens mit der Postrock-Quasi-Legende Labradford unterwegs - weiß sehr genau, was er hier tut, und das meint nicht "souverän", sondern mit großem Weitblick und großer Neugier. Du spürst es nicht immer, wenn diese Musik läuft, aber wenn die Auslaufrille erreicht wurde, dann fehlt Dir was.


Platz 10


Black Dice - Repo

Teerschwarze Raupen, so groß wie die Hochhäuser Brooklyns, schrauben sich durch würmelnde Beatkrabbler, Fetzen von Silberfolie kontaminieren klares, kaltes Wasser. Vernoised und verhext von zwei durchgeknallten Soundchaoten mit Tourrettsyndrom aus New York, die mit "Repo" etwas erschaffen haben, das so klar ist wie die Wurzel aus 78842343748437483523783425478250257309. Ein Flow wie ein umherstolpernder Wolpertinger aus dem Kopftunnel von Karl Valentin, und mindestens genauso humorvoll. "Repo" schleppt sich nur so durch eine heruntergekommene Postmoderne, rotzt unentwegt Blut an die eigene Fassade, hinter der nichts als Egomanie und komplette Leere regiert. Eine angemessene Zustandsbeschreibung des vergangenen Jahres. 

13.04.2010

2000-2009 #20: Vladislav Delay - Whistleblower


"Whistleblower" ist flüssiges Dickicht. Gestrüpp, in Fetzen, trotzdem samtweich. Nicht besonders sentimental, dafür fundamentale Selbstsuche, sogar für den, der sich nicht ins tiefe Wasser traut. Über ein Jahr war dieses immer noch beeindruckende Album mein fast täglicher Begleiter, angestachelt von dem Drang, diesen so mysteriösen Sound zu entschlüsseln. Immer wieder die Frage was dahinter steht, eher gleitet, ach was: schleicht, fließt, schwebt. Was macht dieser pulsierende Atem mit mir, der sich nach wenigen in Watte verpackten Sekunden zu einem - ich will's gar nicht sagen, weil es selbst mit dem leisesten Adjektiv immer noch so zerstörerisch wirkt - hingehauchten Groove entwickelt? Sind das die tiefen, halligen Schluchten und Höhlen eines unbewohnten Planeten, oder ist der leise vor sich hinbrodelnde lake of fire, in dem die Verdammten und die Heiligen das letzte Mal die Wärme und die Liebe spüren können bevor es graue Asche regnet? Wahrscheinlich ist es beides, sowohl als auch. Des Teufels glühende Pfütze in der Untererde eines fremden Planeten, in einem fremden Universum, von dem selbst Gott nichts weiß, weil er nicht so weit gucken kann. Und da sitzen und schunkeln wir - unwirklich und so weit draußen, so nah beieinander und doch so unendlich entfernt von allem, was uns nach diesen 70 Minuten wieder in das zurückholt, was jeder, der das Aussteigen und das Träumen auf dem Weg zu seinen 40qm Deutschland verloren hat, als Realität bezeichnet, als eine Unfiktion in der es eben nur Nullen (und davon gibt's mit Verlaub 'ne Menge) und Einsen gibt, schwarz und weiß und das Wetter nach dem Heute-Journal. Ätherisch umherschwabbernd im Nichts, gemartert von grau-staubigen Blitzen, die eine Idee eines Bewusstseinsschleiers vorgaukeln. Die uns in Wahrheit sedieren und uns ausknipsen, damit die Chimären noch näher an uns herankommen und uns den leisen Hauch des Wahnsinns in die Memoiren drücken können. Das ist die Heilung, die das Feuer mit dem Feuer bekämpft. Lasst es Tote regnen, denn sie spüren den Aufprall nicht mehr.

Du wachst auf, und das Nichts hat seine Bedeutung verloren. "Don't be afraid, ever, because: it's just a ride."(Bill Hicks)

Erschienen auf Huume Records, 2007