Ist das die Geburtsstunde des Prog-Core oder die Auferstehung des Progressive Rock? Aus der Asche der am Ende ver- und ausgebrannten Hardcore-Sensation At The Drive-In erschienen Gitarrist Omar Rodriguez-Lopez und Wundersänger Cedric Bixler-Zavalas knappe 2 Jahre später mit ihrem Baby The Mars Volta auf der Bildfläche. Zunächst mit der reichlich wirren und un(ter)produzierten "Tremulant"-EP, im Sommer 2003 mit dem ersten Studioalbum "De-Loused In The Comatorium", definierten sie zusammen mit Produzent Rick Rubin ein ganzes Genre komplett neu - oder besser: sie stampften es aus dem Boden. 70er Jahre Progressive Rock (King Crimson!!!), Latin-Fusion-Jazz (Santana!!!), Hardcore (At The Drive In, Fugazi!!!), Krautrock (Can!!!) - sowas gab's noch nie! Und auch sieben Jahre später steht "De-Loused In The Comatorium" immer noch als ultimativer Fixpunkt am Firmament, Abnutzungserscheinungen gleich Null. Ich habe es gerade gestern nach längerer Abstinenz erneut getestet und wurde angesichts dieser explodierenden Virtuosität und Kreativität wie am ersten Tag einfach nur umgeblasen.
Betrachtet man die weitere Karriere von The Mars Volta mit schwerverdaulichen Alben wie "Frances The Mute" und besonders dessen ätherischen Nachfolger "Amputechture", für deren Produktion einzig Gitarrist Omar verantwortlich war, kann man ungefähr ermessen, wie groß der Einfluss Rubins auf dieses Debut gewesen sein muss. Wo die folgenden Alben noch kaputter und verrückter wurden, wo ein veritabler Single-Hit durch minutenlanges Froschzirpen absichtlich sabotiert wurde, wo die komplette Band außer Rand und Band erschien (und damit zumindest bei "Frances The Mute" einen weiteren glasklaren Volltreffer landen konnte), sind die ebenfalls alles andere als straight zu bezeichnenden Kompositionen von "De-Loused In The Comatorium" in ihrer Stringenz und Fokussierung überragende Beispiele für eine visionäre und schlicht perfekt gestaltete Songsammlung.
Man muss kein Fan der von Rubin produzierten Bands sein, und man muss beileibe nicht alles kritiklos abnicken, was der irre Waldschrat so verbricht - schließlich betreut er immer wieder/noch die unerträglichen Red Hot Chili Peppers, was alleine ausreichen würde, um den Mann auf eine einsame Insel, mindestens jedoch auf eine Psychiatercouch zu wuchten. Dass Rubin nichtsdestotrotz ein umwerfendes und vor allem genreübergreifendes Gespür für die Stärken seiner Bands hat, ist schon einigermaßen beeindruckend. Auch für The Mars Volta lässt sich erahnen, dass er seine Finger in der väterlichen Rolle als Wegweiser und Chancenanbieter kräftig im Spiel hatte. Anders lässt sich der qualitative Quantensprung von der "Tremulant"-EP hin zum Debut kaum erklären. Die Band hatte plötzlich eine klar erkennbare Vorstellung, wie sie klingen will, sie erkannte sich selbst viel deutlicher als zuvor und ließ sich auch viel besser erkennen. Plötzlich machte alles Sinn: Omars verspultes und sich wie in Trance windendes Gitarrenspiel, Cedrics hoher, emotionaler, glasklarer Gesang, und die unbeschreiblich tighte Rhythmusabteilung mit einem Drummer von einem anderen Stern, dazu ein wahrer Orkan an Ideen und Eingebungen, einem Informationsoverkill gleich. Ein irrer Ritt. Mein Herzschlag beschleunigt sich und pendelt sich erst nach einigen Stunden wieder in normalen Gefilden wieder ein. Wahnsinn, im wahrsten Sinne.
Erschienen auf Universal, 2003