V.A. - California Funk
Ein randvolles Doppelalbum mit den ultrararsten 7-Inch Singles des Funk aus dem US-Bundesstaat Kalifornien - es ist ein Fest für den verrückten Plattennerd, es ist der Himmel auf Erden für jeden Musikverrückten. Dabei ist der Grund für die lobende Erwähnung dieser Jazzman-Zusammenstellung in dieser "Nachzügler"-Liste nicht in erster Linie bei der Musik an sich zu suchen, sondern liegt viel mehr an zwei Punkten.
Erstens, die Aufmachung ist fantastisch und der Informationsgehalt dieser Compilation ist außerordentlich abendfüllend. Die beiden Kuratoren Malcolm Catto und Gerald "Jazzman" Short haben über 10 Jahre an dieser Veröffentlichung gearbeitet, sie haben den "Sunshine State" auf der Suche nach dem heiligen Gral des Funk durchquert, sie haben ein großes Netzwerk von Verrückten aufgetan, das sie bei ihrer Tour unterstützte. Sie haben Verbindungen gesucht und gefunden, Studios, Produzenten und Musiker besucht. Herausgekommen ist ein picke-packe volles Doppelalbum, das zumindest in der Vinylversion nur schwer zu schlagen ist. Das dicke Gatefold-Cover beherbergt in der Mitte Hintergrundinformationen über die sich langsam ins Rollen gebrachte Funkszene Kaliforniens Ende der sechziger/Anfang der 70er Jahre, über die politischen und gesellschaftlichen und nicht zuletzt kulturellen Umstände und Probleme in jener Zeit. Das ist hervorragend recherchiert und mit viel Herzblut dokumentiert.
Die LP-Taschen im Cardboard-Format sind mit Hintergründen und Details zu jedem einzelnen Track, also jeder einzelnen 7-Inch Single, bedruckt. Da lernen wir beispielsweise, dass "All Bundled Into One" der Combo Water Color eine der seltensten Platten aller Zeiten ist, mit nur noch einem einzigen in Sammlerkreisen bekannten und existierenden Exemplar. "Finding that record, it's like finding the Holy Grail" wird folgerichtig auch Produzent Rick Wild zitiert, der die Scheibe 1974 in den Love-Studios in Los Angeles aufnahm. Andere Aufsätze beschreiben Schicksale von den Verlorenen und Vergessenen, wie zum Beispiel von Leon Gardner, der Mitte der 60er Jahre sein eigenes Igloo-Label gründete und nur kurze Zeit später komplett vom Radar verschwand. Während die einen sagen, er sei schon lange tot, sagen andere, er lebe in einem Appartment in Downtown L.A., das er seit Jahren nicht mehr verlassen haben soll. Charles Wright, ein Bandleader aus Los Angeles, glaubt, Gardner sei gestorben, hätte aber die letzten Jahre seines Lebens auf einer am Hollywood Boulevard gelegenen Parkbank verbracht. Oder Artur Monday, der heute in einem Altenheim in seiner Heimat Louisiana lebt (aber immer noch regelmäßig sein Pianospiel verbessert). Oder den sehr obskuren King Solomon, der wie viele andere aus Louisiana nach L.A. zog, um dort sein Glück als Blues- und Funksänger zu suchen. Solomon tauchte in den 70ern Jahren auf verhältnismäßig vielen Platten auf und nahm später auch ein hoffnungslos unbekanntes Album namens "Energy Crisis" auf. Er soll vor einigen Jahren nach Chicago gezogen sein - aber auch hier sind weitere Informationen über seinen Verbleib noch rarer als die Platten, die er aufnahm und besang.
Die Fülle an Informationen ist wirklich überwältigend. Außerdem gibt es für jeden Track - sofern verfügbar das Studio, den Produzenten, die Stadt und das Aufnahmejahr sowie das Line-Up der Band. Wobei hier dann doch nicht selten der Satz "remaining personel unknown" geschrieben steht - die damalige Szene muss ein reiner Ameisenhaufen gewesen sein.
Der zweite Punkt, warum ich "California Funk" erwähnen muss, hängt mit den obigen Ausführungen zusammen. Die beiden Herren machen das natürlich schon clever, sie wissen schon ziemlich gut, was das Herz des Nerds höherschlagen lässt: es ist diese geheimnisvolle Mischung aus Obskurem und Mystischem, das die Künstler, die Labels, die Produzenten und die ganze Zeit mit aller verfügbaren Romantik umgibt. Da liest du den Text über Leon Gardner und fragst Dich, wie der Mann die schrillen 80er und die euphorisch-depressiven 90er erlebt hat, in welchen Umständen er lebte, mit wem er noch Kontakt hatte - oder immer noch hat. Da ist vermutlich einer da draußen, der tolle, mitreißende Musik machte, der gegen alle Widerstände gegen Afro-Amerikaner alles zusammennahm, was er an Mut und Kraft und Leidenschaft hatte und ein eigenes Label gründete, um Funk-Singles zu veröffentlichen, die heute auf Ebay im Schnitt zwischen 500 und 1200 Dollar (pro Stück!!!) einbringen und der heute völlig abgebrannt auf einer Parkbank wohnt. Wo sind sie alle hin? Was machen sie heute? Wenn, wie bereits erwähnt, das Line-Up einer Combo unbekannt ist - wer spielte denn da das Schlagzeug? Wer spielte denn da den Bass? Wo sind sie heute, was machen sie heute, was haben sie in den letzten 30 oder 40 Jahren gemacht? Es mag vielleicht etwas naiv, gar ein bisschen sensationsgeil klingen, aber mich packt das total. Ich habe schon Stunden mit den sehr ausführlichen Beschreibungen auf diesem Album verbracht und lese sie immer wieder gerne.
Eine ganz tolle Veröffentlichung - und auch wenn ich jetzt wenig bis gar nichts über die Musik geschrieben habe: Mädels und Buben, der Sommer kommt. Und ich kann nur erzählen, was ich spätestens ab Mai jedes Wochenende mindestens ein Mal tun werde: "California Funk" auflegen, die Lautstärke aufreißen und durch die Wohnung toben. Es ist tolle, mitreißende, tiefe und ehrliche (jaja, ich weiß schon...) Musik, und es tut dir gut, das selbst zu erleben. Das kann man sich ruhig mal gönnen.
Erschienen auf Jazzman, 2010.
01.04.2011
Nachzügler 2010 #5
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