07.01.2011

2010 #13 - Leatherface °° The Stormy Petrel

Ich war wohl nicht der einzige, der Leatherface ein solches Album nicht mehr zugetraut hätte, aber ich war in der Folge auch nicht der einzige, der schnell einsehen musste, sich geirrt zu haben. Das Quartett um Frankie Stubbs hatte seit dem Album "Dog Disco" aus dem Jahr 2004 ihre Funkstille eingehalten, was sicherlich dabei half, die Band bereits in den ewigen Jagdgründen zu verorten. Aber Stubbs ist wie Herpes: er kommt immer wieder. 

Leatherface leiden immer etwas unter der Existenz der Klassiker in ihrer Diskografie: "Cherry Knowle" und vor allem "Mush" gelten auch 21, beziehungsweise 18 Jahre nach ihrer Veröffentlichung als endgültige Sternstunde der Briten - sowas ist für die weitere Karriere selten förderlich, weil jeder neue Ton an den Meilensteinen gemessen wird. Mein persönlicher Favorit war bisher "Minx" von 1993, wohl weil es damals meine erste Berührung mit Leatherface darstellte (Danke, Dirk!). 

"Horsebox" aus dem Jahr 2000 war nach einer fünfjährigen Pause eine positive Überraschung, während die erwähnte "Dog Disco" Langspielplatte bei den alten Fans nicht unumstritten war. "The Stormy Petrel" (mit einem traditionell beschämenden Coverartwork) ist somit die dritte Scheibe innerhalb von zehn Jahren und sie haben sich wirklich nochmal zusammengerissen. Gitarrist Dickie Hammond hatte laut einer vertrauenswürdiger Quelle schon im Herbst 2009 während der Angelic Upstarts-Tour von dem Album geschwärmt und konnte es selbst kaum glauben, dass sie nochmal eine solch hochklassige Sammlung von Songs schreiben konnten: im Grunde befinden sich auf "The Stormy Petrel" ausschließlich Hits. Hits, Hits, Hits. Man muss freilich schon eine Affinität zu ihrem Sound haben, meine Herzallerliebste bekommt nach eigener Aussage Halsschmerzen, wenn sie die Stimme von Frankie hören muss und verlässt grundlegend und unter Protest den Raum, in dem Leatherface läuft. Aber wenn man die krächzende Reibeisenstimme in sein Herz geschlossen hat, kommt sie da auch nicht mehr so einfach raus. 

Natürlich sind sie heute nicht mehr so laut oder schnell wie noch vor 20 Jahren, natürlich hört man der Stimme noch mehr als früher an, dass sie eigentlich total kaputt ist, natürlich lässt man es grundlegend ruhiger angehen. Aber ihre Melodien sind immer noch schlicht überragend. "God Is Dead" gerät mit leicht progressivem Einschlag als Einstieg überraschnd poppig, aber dann, ABER DANN! "My World's End", "Never Say Goodbye", "Another Dance", "Diego Garcia", "Disgrace", "Belly Dancing Stoat", "Isn't Life Just Sweet", "Hope" - allesamt sensationelle, hochmelodische Punkrocksongs mit enormen Tiefgang und grandiosen Hooklines, die dich künftig auf Schritt und Tritt verfolgen. Einzig das doch arg weichgespülte "Broken" will mir nicht so recht den Einlass in die Hall Of Fame finden, aber das ist bei der Qualität aller (!) übrigen Tracks durchaus zu vernachlässigen.

Es war ein toller Sommer mit dieser Platte.

Erschienen auf Big Ugly Fish, 2010

06.01.2011

2010 #14 - Andreya Triana °° Lost Where I Belong

Musik wie warmer, flüssiger Honig. Ein entspannter Ohrenschmeichler, der zu keiner Sekunde Höchstleistungen benötigt, um ein Maximum an Gefühl und Wärme zu schenken. Hier muss nicht zu gefälligen Beats abgefeiert und getanzt werden, das Publikum, das Winehouse und Duffy anhimmelt (und sich eigentlich immer noch nach Aretha Franklin sehnt), kann also zu Hause auf der Couch bleiben. 

Andreya Triana hat nach früheren Arbeiten mit Flying Lotus, Bonobo, Mr.Scruff oder Theo Parrish im Spätsommer 2010 endlich ihr Langspieldebut auf Ninja Tune veröffentlichen können. Als Produzent fungierte niemand geringerer als Simon "Bonobo" Green, nachdem Triana bereits auf dessen Alben ihre laszive, unprätentiöse Soulstimme zum Einsatz bringen durfte. Und was für eine Produktion das ist! Größtenteils mit echten Instrumenten live eingespielt und nur partiell mit einigen Samples aufgepeppt, begeistert "Lost Where I Belong" mit einem wunderbar warmen Klang, einer schwül-entspannten Stimmung und vor allem mit großen Souljazz-Songs. Melancholisch beispielsweise der Opener "Draw The Stars", der lyrisch die spirituelle Richtung für die komplette Platte vorgibt und musikalisch den größten Melodiebogen westlich der Wolga spannt. "X" setzt zum Schluss noch einen drauf und lässt selbst die schlimmste (sic!) Frohnatur zum wehmütigen Zitterklumpen werden, der sich auf den Boden eines gefüllten Whiskyglases wünscht: ein, zwei gnadenlos gut arrangierte Akustikgitarren, ein leise gestrichenes Cello und Andreyas Stimme, die mich tief in einen akustisch-virtuellen Wattebausch drückt - Wo habe ich eigentlich meine Johanniskrautpillen? Dazwischen darf es auch mal dezent lebhafter werden, aber sowohl Green als auch Triana selbst legen offensichtlich Wert darauf, dass aus Nanorissen keine Megabrüche werden. Der träge Latin-Groover "Up In Fire" beispielsweise, der so ein bisschen klingt als seinen die Bläser auf einer intravenösen Bachblüten-Hochdosistherapie hängengeblieben, ist ein Paradebeispiel, wie man das Feuer im Zaun hält, sodass die Hitze im Innern noch unerträglicher wird. 

Und ich brenne schon. Scheißrein, seit September stehe ich in Flammen. Ein Wahnsinn.

Erschienen auf Ninja Tune, 2010.

04.01.2011

2010 #15 - Antitainment °° Ich kannte die da waren die noch real

Gerade mal knappe (und extra kurzweilige) 24 Minuten benötigen die Bekloppten auf ihrem dritten Studioalbum, um den anderen Bekloppten da draußen das Hirn zu Apfelmus mit Kartoffelpuffer zu kloppen. 24 Minuten vollgepackt mit den tollsten deutschen Texten seit möglicherweise Trio (und was sie mich dafür hassen werden. Beide.), die dich und vor allem auch mich ganz schön doof da stehen lassen. Und immer wenn ich denke "Scheiße, jetzt haben sie mich erwischt!" und ich mich deswegen so richtig und vollständig rotzblöd fühle, weil jemand meinen eigenen Schwachsinn im Obergeschoss mit einem Flutlichtstrahler und einem simplen Handstreich öffentlich gemacht hat, dann kommt ein verkacktes Break über den Zaun geflogen, das all den Scheißdreck, mit dem ich mich die ganze Zeit beschäftige, vollends in der Bedeutungslosigkeit (oder in einem Osterfeuer, vgl. Kalifornien) verschwinden lässt. Und dann muss ich lachen. Am Ende wohl nicht in erster Linie über den Text an sich, sondern über meine Quadratdoofheit. Dabei kennen diese vier Wahnsinnigen mich gar nicht. 

Über die Musik muss man wohl keine weiteren Worte verlieren: "Übelster 90er Jahre Euro Dance im Stile der Kokainvernichtungsmaschinen Jam & Spoon oder auch Motörhead." (Intro, ...vielleicht)

"DAS IST KEIN PUNK, DAS RAFFST DU NIE!" - Also gut, Ihr seid der Messias!

Erschienen auf Zeitstrafe, 2010.

02.01.2011

2010 #16 - Scott Tuma °° Dandelion

Die ersten Minuten klingen wie ein Schnelldurchlauf durch die Jahreszeiten. Von am Fenster im Zeitraffer wachsenden Eiskristallen zum plötzlich in hellem Licht erwachenden und freundlichen Frühling, der in einen mit Vogelgezwitscher unterlegten Sommer übergeht. Und am Ende des Tages sitzt ein alter Mann mit Banjo auf der Veranda und spielt in den Frühherbst hinein. Je länger das Spiel dauert, desto mehr wird alles Eins. 

Der wahrgenommene Verweis auf die Launen der Natur ist kein Zufall: "Dandelion" ist eine Verbeugung vor der Größe und Macht des Lebens. Die splitternden Funken, die sich zwischen tiefen Drones und sich verflüssigenden Klangzungen abarbeiten, umschwärmen wie von einer unterirdischen Kraftquelle genährt den inneren Blutstrom. Gespeist aus Demut und Ehrfurcht, aus Liebe und Respekt. Tumas Musik lässt die Blicke ziellos werden, Gedanken ergeben sich der schieren Erhabenheit. Du stehst am Gipfel und schaust über die Welt, atmest ein, atmest aus. 

"Dandelion" ist rauh und ursprünglich. Wäre es Luft, sie hätte heilende Kräfte.

"Dandelion" ist Universum.

Erschienen auf Digitalis, 2010

31.12.2010

Zum Jahreswechsel...

...lege ich mich jetzt bis Sonntag in die Feuerzangenbowle. Rutscht gut rein, ihr wundervollen Menschen.

Habe die Ehre. 

*bussi*

2010 #17 - Atheist °° Jupiter

Ich hatte es bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf diesem Blog angesprochen und vermutet, aber dass "Jupiter", das Comebackalbum der Techno-Death Legende Atheist, tatsächlich derart fulminant ausfallen sollte, damit hatte ich selbst bei aller Begeisterung nach den ersten Hörproben wirklich nicht gerechnet. Das erste Lebenszeichen der Band seit 1993 knüpft qualitativ an die drei Klassiker "Piece Of Time", "Unquestionable Presence" und "Elements" an und ist damit das einzige mir bekannte Comebackalbum alter Thrash- und Death Metal-Haudegen, das den Standard ihrer vorzeitlichen Großtaten zumindest halten kann - und ich bin ob dieser Tatsache immer noch baff, um ehrlich zu sein. 

"Jupiter" orientiert sich dabei stärker an ihrem vielleicht ausgereiftesten Werk "Unquestionable Presence" als am noch etwas rohen "Piece Of Time" oder dem experimentellen "Elements". Ihre verspielten Riffkaskaden, die ein bisschen wie ein verrückt gewordener Schwarm Hornissen im Kleinhirn herumtoben, suchen immer noch aussichtslos nach Konkurrenz, die wahnwitzige Schlagzeugarbeit von Steve Flynn ist fast schon grotesk genau auf Gitarre und Bass abgestimmt und selbst Sänger Kelly klingt fast 17 Jahre nach der offiziellen Auflösung (und als Ü-40er!) immer noch taufrisch. 

Ich rechne es der Band hoch an, dass sie zu keinem Zeitpunkt Kompromisse eingegangen ist: die Produktion von "Jupiter" ist ungeheuer druckvoll und gar (in Teilen) modern, ohne dabei künstlich aufgeblasen zu wirken. Die Songs sind hochkomplex, bleiben jedoch von der ersten bis zur letzten Sekunde absolut schlüssig und nachvollziehbar. Zudem sind sie jederzeit Atheist geblieben: ihr Sound ist so einzigartig wie brilliant, ihr Wiedererkennungsmerkmal ist der Wahnsinn und die unbändige Kraft in Songs wie "Second To Sun", "Third Person" (Alter...!!) oder "Fictitious Glide". Ihre ureigenen Harmonien sind sowieso auf immer in das kollektive Bewusstsein des Thrash und Death Metal eingebrannt, und "Jupiter" fügt ebenjenem die ein oder andere Sternstunde hinzu. 

Flawless.

Erschienen auf Seasons Of Mist, 2010.

30.12.2010

2010 #18 - Actress °° Splazsh

"Splazsh" ist eines der abgefahrensten Alben des Jahres 2010 und da fehlen mir glatt ein wenig die Worte. Egal, was ich hier schreiben würde, es wäre innerhalb weniger Sätze das Einfachste auf der Welt, meine Worte umgehend zu widerlegen. Würde ich beispielsweise schreiben, dass die A-Seite mit dem Opener "Hubble" und dem mit einigen Soulfetzen angereicherten "Lost" sowie dem kurzen Ambientfloater "Futureproofing" eine düstere Post-Alles-Landschaft entwickelt, die sowohl Dubstep als auch Ambient und Techno als Fixpunkte aufs Tableau zaubert, dann wäre schon beim ersten Plattenumdreher auf die B-Seite alles perdue: ein tiefer und verschachtelter Dubstep-Irrgarten auf "Get Ohn", ein großer ironischer Post-Pop-Entwurf in "Always Human", danach ein übersteuerter Bass-Schmerz mit stolpernden und allerhöchstens angedeuteten Beats. Dazu gibt es dunkle Synthie-Anleihen und schemenhaft erkennbare Songstrukturen bei "Maze" und einen lupenreinen 80er Jahre Smasher mit "Purrple Splaszh". 

Ich hatte schon im Sommer die Vermutung, dass ich offenbar schlicht zu schlicht für "Splazsh" bin und es einfach nicht verstehe, obwohl die Scheibe teils Wochen auf Heavy Rotation lief. Cunningham hat zudem auf den Einsatz starker Hooks zugunsten eines verwirrenden Gesamtentwurfs verzichtet, was sich in Sachen feierwütiger Tanzapokalypsen zwar rächt, für die Weirdo-Ästhetik einer dunklen, grummeligen Freakshow und einen monatelangen Hörspaß obendrauf aber umso bedeutsamer ist. 

Das Ende vom Lied: ich raff' das Album immer noch nicht, aber es dreht sich die ganze Zeit auf dem Plattenteller. Bald auch als Soundtrack in Deiner Psychotherapiesitzung zu hören. 

Erschienen auf Honest Jons Records, 2010.

29.12.2010

2010 #19 - Disappears °° Lux

Der Lehrer bezeichnete diese Band einst als "Schülerband" und gestand kurz darauf inhaltlich durchaus angemessen, Disappears einfach nicht zu verstehen. Angesichts seiner diesjährigen Sufjan Stevens-Ver(w)irrung kann das nur als Qualitätsmerkmal gedeutet werden, aber lassen wir die Kirche im Dorf: das hier ist auch nicht wirklich Musik für "Oma Meume und Familie Fliewatüt" (S.Gärtner). 

Auch Disappears kamen bereits im Laufes des Jahres 2010 auf diesen Seiten zu der ein oder anderen lobenswerten Erwähnung und meine Begeisterung ob ihres dreckig-verwehten Garagensounds ist nicht nennenswert zurückgegangen. Noch immer bestimmt in erster Linie ihr kaputter Lo-Fi-Sound die Szenerie, ihr konsequenter Minimalismus und die damit verbunde Offenlegung aller Tatsachen sind mir auch Monate nach der Entdeckung immer noch so sympatisch, dass "Lux" regelmäßig den Weg ins Schallgesims findet.

Kein doppelter Boden, kein Interpretationströpfchen zuviel. Intellektuell und stylish, ja. Aber kein nichtsnutziger Firlefanz. Disappears klingen, als ob Motörhead 1986 die Ausfahrt in Richtung My Bloody Valentine genommen hätten, und Lemmy nach seinem Philosophie-Studium anstatt einer Speed-Standleitung ins Nasenloch sich lieber täglich eine Haschisch-Schokotorte beim Kaffeekränzchen mit Julia Kristeva reingezerrt hätte. 

Und "Pearly Gates" ist ein verdammter Hit.

Erschienen auf Kranky, 2010.

28.12.2010

2010 #20 - Triclops! °° Helpers On The Other Side

Als größter Wackelkandidat für die Erwähnung in dieser Liste entpuppte sich dieses Jahr "Helpers On The Other Side" des Triclops!-Haufens, was bei Licht betrachtet weniger an der Qualität ihrer zweiten abendfüllenden Songsammlung, als an der Qualität der Konkurrenz-Veröffentlichungen lag und liegt. Denn auch dieses Jahr darf ich mit Vehemenz darauf hinweisen: Musik war nie besser als heute. Beziehungsweise gestern. Oder vorvorgestern, meinetwegen auch übermorgen - "Das ist Physik." (Malmsheimer).

Das beste Argument des Quartetts aus San Francisco liegt in meiner romantischen Verklärung des Vergangenen begründet, was geradewegs brilliant mit meiner eben getätigten Aussage über die Musik der Gegenwart zusammendotzt: ich höre "Helpers On The Other Side" und befinde mich augenblicklich in meinem sonnendurchfluteten Kinderzimmer, schätzungsweise 1991, abwechselnd The Jesus Lizard- und Janes Addiction-hörend. Und ich möchte einerseits darauf hinweisen, dass das durchaus eine gute Erinnerung ist, und dass andererseits die groben Eckpunkte ihres Sounds mit den beiden eben genannten Kapellen zumindest in meinen Ohren ganz gut abgesteckt sind. Aber kommt mir jetzt bloß keiner auf die Idee, eine vergleichende Riff- und Harmoniestatistik auf zu setzen! Zumal der Vergleich angesichts der, ich wage es kaum zu schreiben, Classic Rock-Einflüsse bei "Homage To Monte Cassino (Red)" und "With Sars, I'll Ride The Wind" auch wieder totaler Kappes sein könnte. Aber wer weiß das schon?

Na, ich natürlich (nicht): Triclops! springen letzten Endes zwischen Punkrock, Noiserock, Hardcore und alternativer Frühneunziger-Weirdness ("Brown Summer") umher, sind sympatisch durchgeknallt und haben hier einige durchaus progressive und in der Folge auch mutige Perlen ("Brown Summer") untergebracht. Ich höre die Scheibe vor allem aufgrund ihrer Frische und Komplexität sehr gerne ("Brown Summer") und deswegen soll ihr auch der begehrte letzte freie Platz in dieser Aufstellung gehören. So sei es ("Sown Brummer").

Erschienen auf Alternative Tentacles, 2010.

26.12.2010

Top of the Blogs 2010

Wir, also mein Listennerd und ich, haben uns außerdem dazu entschlossen, bei der tollen "Top of the Blogs 2010"-Aktion von Vinyl Galore mit zu machen.  

Vinyl Galore-Mann Martin hat in offenbar schlaflosen Nächten die Top Ten-Listen von nicht weniger als 43 Blogs ausgewertet und das Ergebnis nun exakt HIER präsentiert. 

Frei nach Bill Hicks:"Boy, is my thumb not on the pulse of the German indie scene!"

Aber schön isses ja doch yngwie. 

Danke für die Mühe, Martin.


Zweitausendzehn in Musik

Der Listennerd in mir schreit wieder nach Aufmerksamkeit und ich bin noch nicht autoaggressiv genug, um dieses Betteln zu überhören. Also schenken wir dem jämmerlichen Kieselchen in mir einfach die nächsten Wochen etwas (kostbare) Zeit und ein kleines, kaltes und feuchtes Eckchen zum Austoben: die schönste Musik des Jahres 2010. Der Countdown hat begonnen. Spannung! Dramatik! Durchfall und kein Klopapier im Haus!

Gemeinsam lässt es sich bekanntermaßen schöner leiden: für den Fall, dass auch Du der Welt (oder wenigstens mir - fangen wir ruhig eine Nummer kleiner an) mitteilen möchtest, welche Platten Deine Nervenbahnen am prächtigsten zum Limbotanzen brachten, dann schreibe mir bis zum 31.12.2010 eine Mail an dreikommaviernull[at]yahoo[dot]de, liste Deine Top 10 des Jahres 2010 auf und warte auf den verspäteteten Weihnachtsmann: unter allen Einsendungen werden drei Gewinner ausgelost, die sich schon bald über was Schönes (bruaha?!) freuen dürfen. 

Also los da!

Und Frohe Weihnachten. Natürlich.


18.12.2010

VOIVOD - To The Death - Teil 3

Nach einigen Tourneen (diesmal unter anderem im Vorprogramm von Neurosis in Europa und Iron Maiden in den USA und Kanada), sowie der hastig eingeschobenen Zusammenstellung "Kronik", die Remixe unter anderem von "Forlorn" und "Nanoman", vier Liveaufnahmen und vier bislang unveröffentlichte Tracks enthielt, verunglückte der Bandbus auf dem Weg zum Festivalauftritt beim Wacken Open Air 1998 so schwer, dass E-Force mehrere Monate lang im Koma lag. Erst Ende 1999 trat die Band wieder als Trio auf, verkündete dann aber zur großen Überraschung etwa ein Jahr später und nach dem Release des ersten Livealbums der Band ("Lives" - erheblich unterbewertet, mit Aufnahmen vom Dynamo Open Air 1995 und einem Auftritt in New Yorks GBGB) den Ausstieg Forrests. Voivod büßten zu jener Zeit immer mehr an Relevanz ein. Die Entscheidung, auf "Negatron" und "Phobos" diesen harschen Cyber Thrash Metal zu inszenieren war aus kommerzieller Sicht nicht unbedingt die cleverste Idee, selbst wenn das damalige musikalische Klima für einen solchen Sound sicher schlechter hätte aussehen können. Aber wer sollte nach all diesen Drehungen und Wendungen noch Voivod hören? Die alten Thrasher aus den 80ern? Die hatten zehn Jahre nach "Killing Technology" schon die Doppelhaushälfte und zwei Kinder am Sack. Mal ganz abgesehen davon, dass weder "Negatron" noch "Phobos" noch viel mit 80er Jahre Thrash am Hut hatten. Die mitgewachsenen oder gar neuen Fans aus der "Nothingface"/"Angel Rat"/"The Outer Limits"-Phase? Die hätten sich angesichts eines Songs wie "Quantum" garantiert in die Hosen gemacht. Verständlicherweise, wie ich schnell hinzufügen möchte. Und die krass-coolen 90er Jahre Kiddies, die Biohazard, Pantera und Sepultura hörten, waren gleichfalls mit dieser schmutzigen Bombe überfordert, die zwar modern, aber eben doch nicht zeitgemäß war. 



Was blieb war ein kleines Häufchen Die Hard-Fans, für die Voivod "Home Sweet Home" waren, ein bisschen nerdig, aber so unfassbar wichtig. Eine Schicksalsgemeinschaft.



Auch wenn in den Folgejahren so einiges passiert ist, was dieses kleine Häufchen hätte vergrößern können: der Einstieg des ehemaligen Metallica-Bassisten Jason Newsted am Bass oder die Reunion mit Ur-Sänger Snake, die Veröffentlichung weiterer, mindestens gutklassiger, Alben - es sollte nicht sein. Voivod waren zu lange zu weit weg vom Fenster für den ganz großen Erfolg. Und dann kam der nächste Schicksalsschlag: bei Gitarrist Piggy wurde im Frühjahr des Jahres 2005 Darmkrebs diagnostiziert, gegen den er im August 2005 den Kampf verlor. Piggy hatte Ende der 80er Jahre schon einmal gegen die Mistsau Krebs gekämpft, damals gegen einen Hirntumor - und er gewann. Diesen letzten Kampf musste er aufgeben.


Kurz vor seinem Tod erklärte Piggy Freund Away, wie er an die Dateien mit seinen bereits fertig aufgenommenen und arrangierten Gitarrenriffs herankommt, die er bereits für das nächste Album vorbereitet hatte. Aus diesem Sammelsurium von Riffs, Melodien und Harmonien entstand 2006 das Album "Katorz" in Abwesenheit des großen Meisters. Ich habe Piggy in diesem viel zu langen Text mehr als einmal gewürdigt, und es darf ruhig nochmal passieren: Piggy ist für meine Begriffe der talentierteste, kreativste und schlichtweg größte Gitarrist des Heavy Metal und die Lücke, die sein Tod hinterlassen hat, ist bisher von niemandem auch nur im Ansatz gefüllt worden. Ich weiß noch, als mich die Todesnachricht tief in einer deutschen Sommernacht via Internet erreichte und ich heulend vor dem Computer saß - man ist womöglich nicht besonders stolz, sowas hier und an dieser Stelle zuzugeben, aber ich habe Rotz und Wasser geheult und war für Tage kaum ansprechbar. Und in Zeiten wie diesen, in denen ich mich im Zuge der erstmaligen Vinyl-Veröffentlichung von "Negatron" und "Phobos" via Linus Entertainment wieder metertief in das Oevre dieser einzigartigen Band eingrabe und mir Piggy im "Phobos"-Opener "Rise" mit diesem grandiosen, ALLES, ABER AUCH WIRKLICH ALLES WEGBUMSENDEN WAHNSINNSSOUND die Frise auf halbacht föhnt, und ich mir in stundenlanger Arbeit diesen viel zu langen Scheißtext aus den Rippen schneide, ist das Gefühl von damals schon wieder ziemlich deutlich wahrnehmbar.


Voivod sind am Ende des Tages vielleicht doch meine allerliebste Metalband.

To The Death!


Eine Auswahl von Songs der Alben "Negatron" und "Phobos" sind via Linus Entertainment erstmals auf (180g)-Vinyl im Gatefold Cover erschienen. Die Auflage ist auf 500 Stück limitiert.

16.12.2010

VOIVOD - To The Death - Teil 2






Auf dem folgenden "Angel Rat"-Album (1991) zeigten sich Voivod fast handzahm, der Schritt vom extrem technischen "Nothingface" zum leichtfüßigen, Indiependent-beeinflussten Psychedelic Rock war erneut so riesig, dass hier die ersten Fans mit der weißen Flagge wedeln mussten. Viele warfen der Band Ausverkauf vor und bezichtigten sie des Verrats (an was eigentlich?), so wie es Metalfans eben immer machen, wenn etwas auf sie zukommt, dass im Oberstübchen die "Unbekannt"-Glühbirne aufleuchten lässt. Für mich ist "Angel Rat" ein in jeder Hinsicht erstaunliches Album mit einer tollen, weil mutigen Produktion (Terry Brown - bei Rush-Freunden dürfte es jetzt klingeln) und einer dank der großen Pink Floyd-Schlagseite fast schon meditativen, friedlichen Stimmung. Wenn jemand den definitiven Beweis benötigt, dass Voivod ihrer Zeit um Jahre vorausgeeilt waren, dann hört man am besten "Angel Rat".





"The Outer Limits" (1993), benannt nach einer alten Science Fiction TV-Serie, geriet im Anschluss wieder um einiges erdiger, was vor allem an der satten Gitarre von Piggy und am kräftig in Szene gesetzten Punch Aways liegt. Das Songmaterial war deutlich rockiger und straighter als noch auf "Angel Rat", auch wenn man mit dem tonnenschweren "Le Pont Noir" (vielleicht ja doch einer ihrer besten Songs, zur Hölle!) und natürlich mit "Jack Luminous", einer 17-minütigen Wahnsinnsnummer die Synapsen, Elektronen, Neuronen, Schaltkreise, Amöbensiedlungen und ganze Köpfe zusammenschmurgeln lässt. Was für ein gnadenlos zu Unrecht unbekanntes Album, ja lecken sie mich doch glatt am Arsch!






Mit "Negatron" verabschiedeten sich Voivod von ihrem progressiven, von Wave und Rock'n'Roll beeinflussten Sound der drei Alben "Nothingface", "Angel Rat" und "The Outer Limits"
 in Richtung ihrer rauhen Anfangstage; offensichtlich eine Reaktion der beiden Bandköpfe Michael "Away" Langevin und Denis "Piggy" D'Amour auf den Ausstieg ihres langjährigen Sängers Denis "Snake" Belanger, der nach der "The Outer Limits"-Tour von Depressionen geplagt seinen Hut nahm. Ur-Bassist Jean-Yves "Blacky" Theriault war bereits nach den Aufnahmen zu "Angel Rat" ausgestiegen und wurde seither durch Sessionmusiker ersetzt, so war der Weg zu einer Runderneuerung frei, die von Kritikern paradoxerweise als Rückschritt angesehen wurde - eine Einschätzung, die ich ganz nonchalant als falsch bewerte. Zusammen mit dem ehemaligen Liquid Indian-Bassisten Eric "E-Force" Forrest ließ man in den nächsten zwei Jahren zwei Alben auf die Menschheit los, die sich in der grundlegenden Ausrichtung natürlich am krachigen Beginn orientierten, aber um soviel durchdachter und ausgefeilter waren, dass nur Musikkritiker (Pfui Deibel!) hier einen Rückschritt erkennen konnten. Das Trio berücksichtigte vor allem die veränderten (modernen) Zeiten und nahm hier und da Elemente aus der damals blühenden Industrialszene auf. So klangen Voivod insgesamt moderner, der kleine Underground-Hit "Nanoman" von 95er Album zeigt eindrucksvoll das frische Blut, das E-Force in die Band brachte. Voivod schufen sowohl auf "Negatron" und noch mehr auf "Phobos" ihre musikalische Vision eines postmodernen Zeitalters.






Selbst angesichts des immer schneller werdenden Wandels im Musikgeschäft, gesunkener Relevanz und unter den daraus resultierenden durchaus widrigen (finanziellen) Bedingungen - wobei sich "Negatron" weltweit immerhin noch über 75.000 Mal verkaufte - holten Away, Piggy und E-Force hörbar alles aus sich heraus. "Phobos" ist ein verwehter, verzweifelter und brettharter Klumpen Musik, konzeptionell perfekt arrangiert und produziert. Away sagte zum Konzept von "Phobos":

"Der Titel soll Furcht und Verlorenheit ausdrücken. Phobos ist einer der beiden Monde, die den Mars umkreisen - und zwar der, der meiner Meinung nach der schönere ist. Dieser Mond, so sagen Wissenschaftler, ist dazu verurteilt, in ferner Zukunft wie ein Meteor auf den Mars zu krachen. Wir wollen mit dem Albumtitel die Gefühle ausdrücken, die Phobos hätte, wenn er leben und wissen würde, was mit ihm eines Tages passiert.“

So spinnt die Band eine Geschichte rund um diesen Mond, sie zeigt Stärke, Stolz und Aggresivität,
aber gleichzeitig Verwundbarkeit, Tristesse, Trauer und Verzweiflung im Zeichen des Untergangs.
Das gelingt ihnen so eindrucksvoll, dass "Phobos" für mich unbestritten mein persönliches Lieblingsalbum ist.


..............................to be continued...................................