Ach, was für ein Jahr!
Etwas "auf den Ohren" zu haben klingt zwar ein bisschen nach Boomer-Bernd, aber es war ziemlich wörtlich zu nehmen, wenn ich mir auf den täglichen Busfahrten ins Training meine neuen Lieblingsplatten mittels Walkman und den steinzeitlichen, weil auf den Ohren aufsitzenden Kopfhörern in die aurale Blutbahn feuerte. Der große Nachteil dieser Kopfhörer war, dass sie mit ihrem dünnen Klappergestell alles andere als fest auf den Ohren lagen - und weil Rebelli-Flori seine Musik immer zwei Handvoll Dezibel über der Schmerzgrenze hören wollte und der aus den 1980er Jahren stammende Walkman noch keine Lautstärkelimitierung eingebaut bekam, wurde also der ganze Scheißbus mitbeschallt. Aus heutiger Sicht eine völlige Zumutung, damals war ich aber davon überzeugt, es so genau richtig zu machen. Nun waren manche Platten entweder schon im Original etwas leiser gepegelt, oder die Schrottaufnahme auf der schon zigfach durchgenudelten Kassette glättete die lautesten Stellen, womit sich die irritierten bis bösartigen Blicke der Mitreisenden in Grenzen hielten. Aber dann kam "Troublegum".
"Troublegum" ist ungeheuerlich laut. "Troublegum" hat einen unerbittlichen Punch; die Snare alleine kann töten. Und "Troublegum" war folgerichtig dafür verantwortlich, zum ersten und einzigen Mal wegen der Lautstärke im Bus angeraunzt zu werden.
Das vierte Studioalbum der nordirischen Band ist nicht nur wegen seiner Produktion einzigartig. Streng genommen kam mir auch aus stilistischer Sicht bis heute keine vergleichbare Platte unter. Die Noiserock-Elemente der Vorgängeralben vermischen sich hier mit melodisch-abgedunkeltem Punk, abgründigem Postpunk und einem indifferenten Goth-Vibe mit Teenage Angst in den Texten. So erinnert der Refrain von "Hellbelly" ein kleines bisschen an den Type O Negative Hit "Black No.1", "Lunacy Booth" (mit Silver Fishs Lesley Rankine als Gastsängerin) gar an die legendären Warrior Soul und deren Spiel mit Harmonien zwischen dem führenden Bass und der flächenbildenden Gitarre. "Femtex" channelt in den Strophen Metallicas "One" und über praktisch jeder Note dieses Albums schwebt sowieso der Geist von Helmet:
"We went on tour with Helmet in America and we just loved the way they used the power of the riff to stop and start, with these staccato blasts." (Andy Cairns)
Wo hat man eine solchen Mix mit diesem Zug, diesem Drang vorher oder nachher nochmal gehört? Ich glaube es Ihnen, auch wenn nur Sie es wissen. Und apropos Helmet: deren Gründer/Sänger/Gitarrist Page Hamilton spendierte sogar ein Solo für den Song "Unbeliever", den Therapy? nach Abschluss der Aufnahmen unbedingt als erste Single auskoppeln wollten. Nach dem Veto der Plattenfirma ("Wir haben euch noch nie in irgendwas reingeredet, aber das ist eine wirklich schlechte Idee!") wurde es schlussendlich "Nowhere" - und damit zu einem ihrer größten Hits. Cairns: "I guess they were right."
Über dreißig Jahre nach der Veröffentlichung klingt "Troublegum" immer noch irrsinnig gut und dazu sogar überraschend zeitgemäß. Dass man hier auf keine vielschichtigen und komplexen Songstrukturen stoßen wird ist ebenso eine Wahrheit wie dass über die zigfachen Wiederholungen der Refrains mit ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit diskutiert werden müsste. Vielleicht fehlt damit auch ein bisschen...Gravitas?! Aber, und auch das gehört zur Einzigartigeit von "Troublegum": es ist und bleibt einfach eine fast schon unwirkliche Ansammlung von Hits. Nicht nur die im besten Fall üblichen zwei oder drei - nein, vierzehn! Vierzehn Hits!
Vierzehn spektakuläre, fantastische, fucking unkaputtbare Hits.
Vinyl und so: Die Erstpressung auf grünem Vinyl in gutem Zustand bekommt man für etwa 70 Euro. Die günstigere Variante ist die Wiederveröffentlichung von 2021 von Music On Vinyl auf schwarzem Vinyl, die es immer noch für um die 30 Euro gibt. Auf Discogs sind Kommentare zu lesen, die sich über den Sound ebenjener Version beschweren, aber die Leute sitzen wie so oft einfach alle auf ihren Ohren: Die 2021er Pressung klingt absolut fantastisch und sei meinen ehrenwerten Leserinnen und Lesern hiermit dringend empfohlen. Zum 30.Jubiläum wurde das Album 2024 außerdem noch mit zwei neuen Re-Releases bedacht: eine Standardversion auf Caramel-Vinyl und die Deluxeversion als Doppel-LP in den Farben Silber und Lavendel. Kein Gatefold und keine Linernotes, dafür aber (bereits veröffentlichte) Single B-Seiten und EP-Tracks auf der zweiten LP. Ich kenne diese Variante nicht, aber auch wenn sich das verantwortliche Presswerk GZ Media in den letzten Jahren hinsichtlich der Qualität ihrer Pressungen durchaus verbessert hat, mahne ich vor allem angesichts des hohen Preises (50+ Euro) zur Vorsicht.
Weiterhören: "Infernal Love" (1996), "Nurse" (1992)
Erschienen auf A&M, 1994.
