20.03.2023

Best Of 2022 ° Platz 14: Tocotronic - Nie Wieder Krieg




TOCOTRONIC - NIE WIEDER KRIEG


Die passenden Worte über Tocotronic zu finden gehört mittlerweile zu den schwierigeren Aufgaben des Lebens, egal, ob das auf diesem Blog passiert oder in der oft so furchtbaren "Realität", so mit echt erbrochenen gesprochenen Worten. Maximale Ambivalenz auf der einen, und tiefste, aufrichtigste Zuneigung auf der anderen Seite sind nicht so irre leicht zu vermitteln. Und da geht's nämlich schon los, denn Zuneigung ist das eigentlich nicht zwischen mir und dieser Band. Es ist ja alles viel ernster.

Ich habe viele, viele Jahre gebraucht, um eine Art Nähe zwischen Tocotronic und mir zuzulassen. Ihr Album "Kapitulation" aus dem Jahr 2007 umkreiste ich über Tage und Wochen, bis ich mich hin- und ergeben musste. Bis dahin war es eine Undenkbarkeit, eine ihrer Platten zu hören, ohne einen Tobsuchtanfall zu bekommen. Und, Riesenüberraschung: da war die Sache mit den richtigen Worten total einfach; Nullen und Einsen. Und Tocotronic waren zu jener Zeit ganz sicher immer die Nullen. Heute weiß ich: ich hatte sie nicht verstanden. Und, das sei zu meiner verzweifelt herausgeplärrten Entschuldigung noch schnell gesagt, aus der Ferne ist das auch beinahe unmöglich. Wer lediglich aus den ignoranten 20000 Fuß auf ihre Musik und ihren Duktus schaut, wird nur schwer die Risse und Brüche finden, die eine Schwingung auslösen können, die widerhallen, den eigenen bewohnten Raum befallen und die eigene belebte Zeit ausfüllen. Selbst als ich wegen "Kapitulation" förmlich dazu gezwungen wurde, tiefer zu gehen, hatte ich im Grunde nur eine ungefähre Ahnung davon, was und wie die das alles meinen. Eigentlich, und es ist fast ein bisschen peinlich, dass es SO FUCKING LANGE dauerte, habe ich das erst mit dem letzten Album "Die Unendlichkeit" geschnallt. Das sind Verweigerer. Totale Verweigerer. 

Ich spüre Liebe. 

Sänger Dirk von Lowtzow hat ihren Kreuzzug gegen den Optimierungswahn in einem Interview mit der taz wie folgt erklärt:

„Es ist in Vergessenheit geraten, dass es einmal eine künstlerische Strategie gab, nichts zu tun. Und die möchten wir formulieren als Antithese zu diesem Leistungsimperativ, der neuerdings in dieser Gesellschaft herrscht. Das Unproduktive wird unterschätzt.“


Tocotronic machen Musik gegen die Kultur der Highperformer. Oder insgesamt: der Performer. Vor ein paar Jahren sangen sie "Im Zweifel für den Zweifel":

Im Zweifel für den Zweifel
Das Zaudern und den Zorn
Im Zweifel fürs Zerreißen
Der eigenen Uniform
Im Zweifel für Verzärtelung
Und für meinen Knacks
Für die äußerste Zerbrechlichkeit
Für einen Willen wie aus Wachs
Im Zweifel für die Zwitterwesen
Aus weit entfernten Sphären
Im Zweifel fürs Erzittern
Beim Anblick der Chimären

Und in "Luft" lautet der erste Vers:

Die Luft ist so nutzlos um mich herum
So schön, vergeht jetzt ein Millennium
Ja, ich habe heute nichts gemacht
Ja, meine Arbeit ist vollbracht
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur
Ich atme nur

Tocotronic machen Musik für mich. Mit all den Rissen und Brüchen. Den Zweifeln, der inneren Zerrissenheit. Der Ausweglosigkeit. Der Ohnmacht. Musik über Rückzug. Über Aufgabe. Kapitulation.

Man sagt das ja oft so leicht dahin, wenn man sagt "Das ist genau meine Welt!", vielleicht noch ein bisschen mit...hUmOr und Zwinkersmiley und haha und hihi. Hier und jetzt gibt's aber mal ausnahmsweise keinen Humor. Und leicht ist es auch nicht, nichts ist leicht, niemals. Mir fällt es manchmal nicht mal leicht, aufs Klo zu gehen, also bitte! Achtung, jetzt kommt's: Das ist genau meine Welt. 

"Nie Wieder Krieg" führt diese Linie fort, als Album und Song. Sie singen über die Trostlosigkeit des Lebens in Gestalt einer Tiefkühlpizza, über diffus wahrgenommene Freiheitsmomente im Flug mit den Vögeln durch das nächtliche Berlin. Der Krieg mit sich selbst. Das dauernde Ankämpfen. Sehnsüchtige Selbstmordgedanken, die in einem Kinderlied verwoben sind. Jedes Wort verschlüsselt und mit doppeltem Boden eingepasst. In dem ehrfürchtigen "Ich Tauche Auf" mit Anja Plaschg (Soap & Skin), der ersten Kooperation der Band in ihrer über dreißig Jahre andauernden Karriere, bleibt am Ende ein diffuses Bauchgefühl aus dreizehn labbrigen Ideen und siebenunddreißig Fragezeichen übrig -  um was geht es denn hier? Eine verbotene Liebe? Eine vergessene Liebe? Gar keine Liebe? Heringssalat aus der Dose? Dirk von Lowtzow meint, er wolle uns nicht mit "Gefühlsquark" belästigen, und wenn er's schon nicht tut, dann muss ich jetzt wohl ran: als sowohl Single als auch Video an einem herbstlichen Morgen im Oktober des Jahres 2021 erstmals auf Youtube auftaucht (sic!), schmeckte der Morgenkaffee plötzlich deutlich salziger als sonst. 

Musikalisch bewegt sich die Band weitgehend im Raum ihrer letzten Arbeiten, und das beinhaltet ausdrücklich auch jene Ambivalenz, die sich stets in ihrem Songwriting finden lässt. Vom zärtlichen Feedbackgefiepe im typischen Uptempo-Kopfnicker "Komm Mit In Meine Freie Welt", oder der hübsch aufstampfenden Single "Jugend Ohne Gott Gegen Faschismus" über, Pardon - aber ich kann nicht anders: vertonter Trucker-Romantik in "Crash" und einem swingendem "Ilona-Christen-moderiert-eine-Benefiz-Gala-im-ZDF"-Vibe im abschließenden "Liebe", bis zu klassisch-elegischem wie "Nachtflug" und komplett reduzierten Balladen ("Ich Tauche Auf"), gibt es die volle Bandbreite Tocotronics. Und das schließt kurioserweise mit ein, dass es eigentlich immer noch nicht so richtig klar ist, was das hier eigentlich alles soll, so insgesamt. Dilettantisch ist es nicht, ganz im Gegenteil - ihre Produktionen sind fast schon volkstümlich anschmiegsam. Seriös und aufgeräumt ist es aber auch nicht, da grätscht die kindliche Begeisterung und Albernheit die Standbeine weg. 

Sind's Schlager für Depressive? Für Melancholiker? Für Verweigerer? Protestierer?

Jeder Mensch kennt die Antwort. 


Vinyl: Von vorne bis hinten perfekt gepresste, dicke schwarze Scheiben auf 45rpm. Tolles, glossy Gatefold-Cover. Wie es schon bei "Die Unendlichkeit" der Fall war, ist es aus klanglicher und haptischer Sicht ein echtes Erlebnis, "Nie Wieder Krieg" auf Vinyl zu hören. (+++++)



Erschienen auf Vertigo, 2022.

4 Kommentare:

Ploppi hat gesagt…

Wow, das Lied mit Anna Plaschg hat mich gerade ganz schön beeindruckt und auch das verlinkte Stück ist ziemlich gut.

Flo hat gesagt…

...und Du hattest mit Ihnen bislang auch nicht so irre viel an der Frisur, wenn ich mich recht entsinne? Da sind Harmonien und Emotionen untergebracht, gegen die ich mich einfach nicht wehren kann, null. Wenn sie am Ende von "Hoffnung" diesen quasi-Refrain öffnen und "Wenn ich dich nicht bei mir wüsste, hätte ich umsonst gelebt" singen, brech' ich jedes Mal ein kleines bisschen zusammen. Wie auf Knopfdruck.

Ploppi hat gesagt…

Ehrlich gesagt habe ich von denen seit "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk", das ich jetzt unnachgeguckt mal auf 25, wenn nicht gar 30 Jahre schätzen würde, keinen Ton mehr gehört. Ohne im Grunde irgendwas zu kennen, waren die immer im Ordner "Musik für andere Menschen" abgelegt.

Flo hat gesagt…

Das verstehe ich gut. Mein Bruder hatte sich vor 30 Jahren die "Wir kommen um uns zu beschweren"-CD gekauft und ich fand Bandnamen, Cover und Titel so cool, dass ich das unbedingt hören musste. Als ich es dann tat, war ich völlig entsetzt. Diese eine Begegnung hat für 15 Jahre Schaum vorm Mund ausgereicht. Auch völlig balla-balla.