BAD RELIGION - STRANGER THAN FICTION
"Stranger Than Fiction" ist der Soundtrack meiner Adoleszenz, die (Spät)Sommerplatte des Jahres 1994 und mit den im gleichen Jahr erschienenen Alben Fates Warnings ("Inside Out"), Vicious Rumors' ("Word Of Mouth") und natürlich "Superunknown" von Soundgarden einer der absoluten Meilensteine meiner musikalischen Laufbahn. Für immer in meinem Herzen. Und sowas ist auf Platz 4, lol.
Dabei habe ich immer noch das Geflenne der wahren, echten Punkrocker im Ohr: Ausverkauf! Verrat! Kapitalistenschweine! "Stranger Than Fiction" war das erste Album Bad Religions auf einem Major Label, und die Basis schäumte vor Wut. Und sie musste ja sowieso schon einiges aushalten, die Basis: "Dookie" und "Smash" spülten den Punkrock im Sommer 94 mit harmlosem Tralala- und Schalala in den Mainstream und in der Folge tat der Kapitalismus eben das, was der Kapitalismus eben so tut - er saugt noch den absolut letzten Tropfen Idealismus aus einer Jugendbewegung, korrumpiert und schießt damit eine gesamte Szene über den ganzen verfickten Haufen. Ein paar Jahre später spielen Punkbands auf von Megakonzernen gesponserten Megafestivals mit all ihrem strukturellen Megarassismus, all ihrer strukturellen Megamisogynie, all ihrem strukturellen Kniefall vor dem Kapital und lassen sich für Werbung für Energydrinks und Rucksäcken einspannen. Inhalte, Schmihalte - Mund auf, hier kommt die nächste Ladung Bullshit. Und immer schön schlucken.
Auch Bad Religion haben dieses Spiel mitgemacht und es wäre heuchlerisch, hier nur auf den ach so verdammten Mainstream einzuprügeln und die vermeintliche integre Heldencombo um den feinen Herrn Professor und den Label-Millionär im schön verklärten Weichzeichner den Freifahrtschein auszustellen. Es wäre aber auch so verdammt leicht. Und leicht haben sie's einem schon auch gemacht, beispielsweise als die Band 2010 auf irgendeiner Werbescheiße der Deutschen Telekom oder T-Mobile oder - ach, scheißrein, 's eh schon alles egal: gleich mehrfach bei den Rock Am Ring- und Rock Im Park-Shitshows spielten; da war das von Gitarrist Brian Baker aufgetragene Burzum-Shirt ja wohl mal die voll geile Provokation, Alter! Punkrock!
Propagandhi sangen über "sowas" in ihrem Song "Rock For Sustainable Capitalism" auf dem 2005 erschienenen Wunderwerk "Potemkin City Limits":
I fuckin’ love that one rock video where that fucking jack-ass mohawked millionaire prances around by far the worst sausage party on earth, where by mere chance he’s caught on film shaking hands with an incredibly diverse collection of patriotic skins. I like the message it sends: With a Rebel™ yell, Just Do Exactly What You’re Told. One million douche bags can’t be wrong? “When did punk rock become so safe?” You’ll excuse me if I laugh in your face as I itemize your receipts and PowerPoint your balance sheets. I hear this year’s Vans Warped Tour is “going green!” I guess they heard that money grows on trees. Hope they ship all those shitty bands overseas like they did the factories. Music’s power to describe, compel, renew … It’s all a distant second to the offers you can’t refuse. Anyone remember when we used to believe that music was a sacred place and not some fucking bank machine? Not something you just bought and sold? How could we have been so naïve? Well, I think when all is said and done, just cuz we were young doesn’t mean we were wrong. And I’ll rock back and forth on this two-bit hobbyhorse ’til she splinters and gives way. I’ll tend the flowers by her grave. And whisper her name. If anyone out there understands can I please see a show of hands just so I know I’m not insane? Ever get the feeling you been played? Well, that’s rock for sustainable capitalism and you know, we may face a scorched and lifeless earth, but they’re accountable to their shareholders first. That’s how the world works.
Und ich habe jetzt schon wieder einen Riesenhals, das "Worst To Best" Feature nicht mit den ganzen tollen Propagandhi-Platten gemacht zu haben, anstelle des so offensichtlichen Bad Religion-Katalogs. Capitalism fooled my once again. Fucking Hell.
Und wenn ich jetzt noch schreiben tät, dass "Stranger Than Fiction" trotz dieses ganzen Irrsinns eines der allerbesten Bad Religion-Alben ist, säße ich wohl noch tiefer in der angerichteten Scheiße. Als dann, mit dem Kopf voraus, 's kann eh nicht viel kaputtgehen: "Stranger Than Fiction" ist eines der allerbesten Bad Religion-Alben.
Selbst wenn die Band leider darauf verzichtete, die auf dem Vorgänger "Recipe For Hate" sehr zaghaft installierten Experimente weiterzuführen (wahrscheinlich als Statement, um DIE_BASIS ein wenig zu besänftigen; very punkrock, huh?!) und stattdessen mit furios perlendem Punk direkt ins Fegefeuer der Majorlabels zu pinkeln, lassen sich auf "Stranger Than Fiction" mit maximal zwei Ausnahmen nur Hochkaräter finden. Polierte Hochkaräter, meinetwegen. Aber eben doch herausragende Songs wie den philosophischen Titelsong, dem zornigen "Leave Mine To Me", dem rasenden "Marked" oder "Inner Logic", für den der an der Schwelle zur Volljährigkeit stehende Flori den CD-Player für einige Wochen auf Endlosschleife programmierte. Vor allem das zum Ende gesungene Mantra mit der Textzeile "no equality, no opportunity, no tolerance for the progressive alternative" in Verbindung mit dem Refrain "there is an inner logic, and we're taught to stay far from it. It is simple and elegant, but it's cruel and antithetic. And there's no effort to reveal it" war ein echter Augenöffner in Bezug auf Engstirnigkeit und ritualisierter Reflexe von Politik, Medien und der eigenen Umwelt.
Zum Schluss noch das Offensichtliche: natürlich sind Bad Religion nicht Green Day. Natürlich singen sie nicht über Masturbation und Liebesbeziehungen (zumindest nicht auf _dieser_ Platte). Natürlich sind die beiden Texter Graffin und Gurewitz viel zu schlau, um nicht zu verstehen, welchen Anteil ihre eigenen Aktionen am Zustand der Welt haben. Wenn sich in den 40 Jahren Bandkarriere eines aus ihren Texten immer und immer wieder herauslesen lässt, dann ist es der eigene Kampf mit jener Ambivalenz, diesem Spannungsgefühl aus eigener Verantwortung und dem drohenden Untergang. Einerseits Autoritäten in Frage zu stellen und gleichzeitig die alleinige Autorität für das eigene Handeln und Leben zu sein. Einerseits Selbstbestimmung, andererseits systemischer Zwang.
Der Kabarettist Georg Schramm sagte in seiner Paraderolle des Lothar Dombrowski in Bezug auf die Irrungen des Kapitalismus einmal folgende Worte, die mir in diesem Zusammenhang als sehr passend erscheinen:
"Und glauben Sie ja nicht, da ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Im Gegenteil. Das Schiff ist auf Kurs. Es ist aber nicht unser Kurs. Es ist ja auch nicht unser Schiff."
Erschienen auf Atlantic Records, 1994.
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